Im Hangar-Dorf

Zeeto, 1. April 2064

Tagsüber sind die Unsichtbaren hier. Sie sind eingeschüchtert und durchschimmernd, versuchen, mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Sie strömen es geradezu aus, dass sie übersehen werden wollen.

Ich bin mir sicher, auch mit dieser Seuche werde ich mich schneller anstecken, als mir lieb ist, werde ein sich nutzlos fühlender Unsichtbarer werden wie sie.

Während Miron mich herumführt, weichen sie erst meinen Blicken aus, und dann weiche ich auch schon ihren Blicken aus. Wer in der Hangarhalle ist statt bei der Arbeit in den Anlagen und Abbaugebieten, hat irgendwas. Die Wastelandseuche – einige von ihnen. Verstümmelungen von Maschinen – mehr, als ich ihnen wünsche. Andere sind ausgezehrt, chronisch krank, älter als sie vermutlich sind, fortgeschritten schwanger oder zu jung. Ich weiß, dass ich mich hier einreihen werde. Und dann werde ich hier sterben, wie die alte Frau, die auf einer fleckigen Matratze im ersten Stock des Dorfs liegt und nur noch so schwach atmet, dass Miron tatsächlich das Kind neben ihr fragt, ob sie tot sei – so interpretiere ich zumindest seine schockiert klingende Frage und die Art, wie er sich über sie beugt.

Ich schleiche hinter Miron her, Mtoto können wir an vielen Stellen einfach losflitzen lassen, die Stege sind mit grob geknüpften Netzen gesichert und jede Leiter nach unten oder oben erfordert, dass man vorher eine Klappe öffnet. Es gibt viele Kinder hier, und wenige Leute, um sie zu beaufsichtigen. Wenige zumindest, die nicht mit sich selbst beschäftigt sind. Ein bisschen wie im Handgebunden-Markt, aber auch ganz anders.

Alles ist düsterer als auf dem Markt, nicht nur, weil die Anlage lediglich durch beschlagene Oberlichter erhellt wird. Ich spüre die düstere Stimmung an meinen Rändern, sie nippt an mir, lässt mich im Glas kreisen. Wenn mich hier die Depression fängt, dann ist es vorbei.

Aber das ist es doch eh schon, sagt die düstere Stimmung lasziv. Ohne Laylay ist es vorbei.

»Was ist draußen?«, frage ich, um ihr etwas entgegenzusetzen.

»Ein Flughafen.«

»Könnt ihr … einfach raus?«

»Ach so, nein. Die Türen werden abgeschlossen.«

»Wirklich, sie schließen euch hier ein? Warum?«

»Na ja.« Miron sieht mich an, mustert mich von den Bantu-Knoten bis zum Kinn und verzieht schmerzhaft den Mund, als täte es ihm noch mal mehr weh, weil ich Schwarz bin. »Weil wir … versklavt sind.«

»Also so richtig, ja? Arbeiten oder eingesperrt sein?« Er nickt. »Wer sind die da draußen? Also … wer versklavt uns – außer Clara?«

»Clara ist die Queen der Wyld Things. Wyld mit Ypsilon.«

»Haha«, lache ich. »Wann muss sie es denn aufschreiben? Zur Anmeldung im Vereinte-Toxxers-Europa-Register?«

»Es steht überall. Auf der Landebahn. Auf dem Flugplatz. Auf dem Hauptgebäude. Auf der Fahne.«

»Und die Wyld Things sind eine Gang, ja?«

»Es ist eine riesige Gang. Es waren früher vier, fünf verschiedene, aber Clara hat die Bosse abgemurkst und alle, die nicht gespurt haben, und dann hat sie sich zur Queen gemacht. Sie ist nicht einfach so ein kleines Licht, Zeeto. Sie hat ein Reich. Ein Queendom.«

»Wir haben auf dem Weg hierher davon gehört.«

Ich sehe mich im Hangar um. Wie viele mögen hier sein, wie viele mögen noch kommen? Zwei, drei Dutzend Leute – wohnen einhundert in diesen Hütten, zweihundert?

Miron folgt meinem Blick. »Wir sind nicht das einzige Hangar-Dorf«, sagt er düster. »Sie lässt ihre Leute auf Menschenjagd gehen. Sie fangen Menschen, bringen sie her. Andere Gangs verkaufen Menschen oder überlassen sie ihr als Tribut. Und sie lässt sie ackern. Wer nicht ackern kann, verwahrlost hier.«

»Habt ihr Kommunikation untereinander? Also zwischen den Hangar-Dörfern?«

»Denkst du schon über einen Aufstand nach?« Er stupst mich an, ein bisschen, als würden wir uns schon länger kennen. Das Gefühl hab ich auch ein bisschen, vielleicht wegen Keshi. Vielleicht erwarte ich, dass Miron mir jeden Moment ein Testspiel seines neusten Schachhacks vorschlägt. »Ich hab früher auch drüber nachgedacht«, gibt er dann matt zu. Schachmatt.

»Aber du hast schlechte Nachrichten für mich Möchtegernrevoluzzer?«

»Na klar. Sie lassen uns nicht mal in denselben Anlagen arbeiten. Es gibt keine Kommunikation zwischen den Hangars. Wir sitzen hier drin fest. Im Besitz einer Werwolfkönigin, bis wir tot umfallen.«

Ich horche bei diesem Wort auf.

»Nennt sie sich so? Werwolf? Oder nennt ihr sie so?«

Miron grinst. »Ich nenne andere Leute exakt so, wie sie genannt werden wollen.«

»Und ist sie die einzige? Also … Feralis?« Ich fische Mtoto aus einem Netz, in das sie sich mit Karacho geworfen hat, und mir wird schwindelig, denn sie hängt da entspannt fünf Meter über dem Boden. »Also, ich nenne Leute auch so, wie sie genannt werden wollen, aber die Ferales, die ich kenne, wollen Ferales genannt werden.«

Er hebt die Brauen. »Das Wort kenn ich gar nicht.«

»Ist Latein. Feralis ist die Einzahl, Ferales die Mehrzahl.«

»Ich hör den Unterschied nicht mal.«

»Sag mal, können wir wieder runtergehen, vielleicht?« Mit pochendem Herzen hebe ich mir Mtoto auf die Hüfte.

Er nickt und erzählt auf dem Weg weiter: »Also, sie ist nicht die Einzige. Aber … es ist nicht so einfach, ich weiß nicht, ob ich es dir erklären kann. Ob ich es überhaupt selbst verstehe. Weißt du, sie …« Er nimmt am unteren Ende der Leiter Mtoto entgegen, sodass ich mich auf die Sprossen schwingen kann. Im ersten Stock des Hängedorfs gibt es ein paar größere Sitzgruppen auf Containerdächern, aber niemand sitzt dort. Ein schmutzigweißer Plastikstuhl ist umgefallen. Von genau dieser Art gibt’s auch einen auf dem Handgebunden-Markt, und das schnürt mir die Kehle zu. Wir gehen zwischen den Stühlen durch zur nächsten Treppe, diesmal ganz nach unten. Es ist unangenehm kalt hier, und ich fange an, mir Sorgen um das Baby zu machen, dessen Super-Immunsystem doch sowieso nie versagt.

»Sie macht andere auch dazu«, sagte Miron, als wir endlich ganz unten sind. Das Baby mit dem Super-Immunsystem will kurz auf den Boden, aber dann ist der ihr doch zu kalt unter ihren Socken, und sie kommt zurück auf den Arm und drückt sich nörgelig und fingernuckelnd an mich. Ich hab auch was davon: Ihr kleiner Körper ist wie ein Sack heißer Steine in einem Strampelanzug. Ich küsse ihr Flauschhaar, denn wenn Babyhaare zufällig in Reichweite sind, muss man das leider tun, ich denke, das ist ein Urinstinkt. Aber ihr warmer Körper macht noch mehr: Er macht, dass ich mich daran erinnere, dass es noch nicht vorbei ist. Laylay und ich sind getrennt, aber wir leben beide noch, oder? Und Mtoto ist bei mir und ein verdammter Grund zu kämpfen.

Also, nicht als Revoluzzer, versteh mich nicht falsch. Erst mal einfach nur darum, am Leben zu bleiben. Nicht aufzugeben. Mich nicht von der Seuche unterkriegen zu lassen. Und der doppelbödigen Kälte in diesem Dorf.

»Was heißt das, andere dazu machen? Sie kann Sapiens zu Ferales machen? Beißt sie sie und steckt sie an?« Mirons Worte entzünden einen Hoffnungsfunken an den heißen Steinen, und, zapp, geht eine Flamme in meinem Kopf an. Vielleicht ist das das Heilmittel, das wir suchen! Vielleicht nutzt sie es längst, aber für andere Zwecke!

Miron zuckt vage mit den Schultern. »Sie lässt allen Gefangenen Blut abnehmen. Und manche werden dann abgeholt. Wenige. Du wirst es noch erleben. Und auch Mtoto, sie macht es selbst mit Kindern.«

»Und was geschieht mit den Abgeholten?«

»Werden Teil ihrer Gang. Weiß ich nicht genau. Sie kommen jedenfalls nicht zurück.«

Mir wird ein bisschen schwindelig. Ist das mein Ticket zur Genesung? Oder steht mir diese Möglichkeit als weinerlichem Würstchen eh nicht offen? Und wenn doch – wird es mich dann zu einem willenlosen Mini-Werwolf machen, irgendwo einsortiert in einer wylden Toxxer-Hierarchie?

Miron bringt mich in einen der Container am Boden. Da drin ist es richtig dunkel, und es riecht noch stärker nach unbelüfteten Menschen. Ich höre jemanden atmen und schrecke noch im Türrahmen zurück. Miron schaut wieder aus dem Eingang raus. »Ich dachte, dir ist vielleicht kalt. Ich wohne hier, mit ein paar anderen. Wenn du willst, krieg ich euch beide hier noch irgendwo unter.«

»Was ist denn eure offizielle Regelung?«

Er seufzt. »Entweder, jemand ist nett und gibt euch freiwillig einen Schlafplatz oder du nimmst ihn dir.«

»Dann: Danke für den geteilten Platz.« Ich setze mich trotzdem auf den Metallrahmen des Containers, als säße ich auf einer Türschwelle. Mtoto hat genug gekuschelt und robbt mit einem ausgestreckten Bein auf die nächste Gelegenheit zu, um sich hochzuziehen und loszurennen.

»Wie alt ist das Baby?«

»Weiß nicht genau. Hab sie gefunden. So zehn Monate? Sie ist … früh dran mit allem.« Weil sie ein Werwolfbaby ist. Schnell wechsle ich das Thema. »Hast du hier Schwierigkeiten? Mit ihnen?« Ich nicke Richtung Hangartor. »Oder hier drin?«

»Nee. Ich bin in Claras Augen sicher kein Mann, aber ich kann ein Flugzeug fliegen, alles andere geht ihr am Arsch vorbei. Aber das heißt hier nicht automatisch, dass sie mich respektieren. Weil sie …« Miron räuspert sich. »Clara hat einen … festen … einen.« Er schluckt. »Einen Fortpflanzungsplan. Aber nur für diese … Ferales. Die anderen hier kriegen Kinder, wann immer es halt so passiert. Deshalb … deshalb bin ich schon froh, dass mein Blut nicht gepasst hat und ich hier bin. Weil ich nämlich wirklich nicht … also, Babys für Claras Gang austragen will.«

Ich starre ein rauchendes Loch ins Hangartor, und als ich es mit meinen Laseraugen groß genug gebrannt habe, springe ich mit Mtoto hindurch, fräse eine Schneise bis zu Laylay, packe ihre Hand und renne mit ihr davon, bevor sie Teil von ekelhaften eugenischen Fortpflanzungsplänen werden kann.

Nur dass das natürlich nicht passiert. Ich starre einfach nur, und Miron schaudert neben mir.