Zwischen Hinterschinken und Mango-Lassi

Zeeto, 8. April 2064

Vollfakke. Richtige Vollfakke mit Anlauf.

Es gibt eine eherne Regel, und wenn ihr viel gelesen oder Filme geschaut habt, wisst ihr das so gut wie ich: Wer vorher den Plan erzählt, scheitert.

Ich habe den Plan nicht erzählt. Ich habe nicht erzählt, wie Miron und ich den Lkw übernehmen wollten. Ich habe erzählt, dass wir es tun wollen und wo, und das ist eigentlich safe.

Trotzdem klappt es nicht.

Miron hat sein Glück in den Plan an Laylay gechannelt, und wenn wenigstens das kein Aberglaube wäre, würde das bedeuten, dass Laylay hier am Tagebau aufkreuzt. Es irgendwie hinkriegt. Und das wäre immerhin etwas. Aber nicht mal das ist bisher passiert.

Also, jetzt kann ich euch den Plan ja sagen. Er besagte, dass Miron erst die sammelnde Teenagergruppe überzeugt, dann überfallen sie zusammen Tadeusz, denn nach Mirons Einschätzung dürfen wir kein Fitzelchen Hoffnung darin investieren, dass Tadeusz unsere Lkw-Kapermission irgendwie unterstützt – im Gegenteil. Der Status quo ist für ihn fast genauso kacke wie für uns, aber eben auch nur fast, und er hat sich arrangiert. Hat vielleicht auch Angst vor Konsequenzen, falls es schiefgeht. Vor dem Verlust des wenigen, was er hat. Die Ferales mögen ihn, verlassen sich auf ihn, er macht vor ihnen den großen Checker, und wir sind seine Leute, die er einteilt und rumkommandiert. Er muss jedenfalls weg, so der Plan. Die Teens und Miron überwältigen ihn im unübersichtlichen Gelände, fesseln und knebeln ihn mit einem zerrissenen Müllsack oder mit Kram, den sie da finden, und deponieren ihn irgendwo, wo er keine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann mobilisieren wir alle anderen, indem wir immer eine Person ansprechen und diese weitere Leute nach und nach, über den Vormittag verteilt, ins Vertrauen ziehen lassen. Bis zur Mittagspause wissen alle Bescheid. Miron schlägt im hinteren Teil des Tagebaus Alarm und sagt, Tadeusz sei verletzt, und wenn die Handvoll Wyld Things sich dann aufteilt, stürmen wir den Lkw, indem wir die drei, vier Wachen, die bei uns bleiben, überwältigen, den Schlüssel und den Reservediesel rauben, das in der Garage neben der Tanke, in der wir Pause machen, deponiert ist. Zur Not schließen wir den Lkw kurz. Miron weicht den Ferales, die er zu Hilfe gerufen hat, in den Müllbergen aus, kommt zu uns zurück, wir fahren los.

Irgendwie müssen wir noch Laylay und Mtoto einsammeln, aber das können wir unmöglich planen. Wenn Laylay es gar nicht schafft, aus dem Flughafen abzuhauen, können wir nur hoffen, dass Root 2.0 sie da irgendwie rausholt. Chaos stiftet. Kraftstoff anzündet. Miron und ich haben genug damit zu tun, selbst zu entkommen.

Aber das ist jetzt alles eh egal.

Denn Miron ist nicht da, und ich spreche gottverfakkingdammt kein Polnisch. Ich habe mich gestern effektiv so totgestellt, wie ich bin, habe fast den ganzen Tag geschlafen und fühlte mich heute morgen halbwegs fit genug, um einen halben Tag Tagebauarbeit und eine Flucht mit einem Lkw durchzustehen. Der Plan war schon im Arsch, als alle Arbeitskräfte aus dem Indoorf auf dem Weg übers Flugfeld zum Laster gelatscht sind, in den wir gestopft werden sollten: Die Flinten-Feralis, die uns schon mal bewacht hat, zog nämlich Miron aus unserem Tross. Sie ist immer für Überraschungen gut.

Miron gestikulierte, widersprach. Sie war irritiert. Er sah zu mir. Ich stand da mit offenem Mund, Tadeusz verpasste mir eine Nackenschelle und schnauzte mich an, ich soll den Verkehr nicht aufhalten. Ich stolperte weiter. Hinter mir argumentierte Miron lautstark, die Feralis wurde auch laut und wütend.

»Zeeto!«, schrie Miron mir nach. Ich drehte mich zu ihm um, während Tadeusz mich weiterzerrte und so was von den Kaffee offen hatte, der Typ hasst mich FOR REAL. »Du packst das auch ohne mich!«

»Miron, nein!«, brüllte ich wie in so einem schlechten Film, Zeeetooo, Mirooon, ich liebeee dich, iiich weeeiß! Nur, dass es um unsere Flucht geht und nicht um dieses Crush-Ding, auch wenn das alle anderen vermutet und blöd gelacht haben. Fakke, eh, mir schossen Tränen in die Augen, denn sie lachten über ihre eigene verspielte Freiheit.

Und dann ging es zum Tagebau. Heute regnet es nicht, nein, heute ist es unangenehm drückend. Die Sonne steht starr und unbeweglich in einem surrealen Himmel, der Dunst über dem Tagebau ist so krass, dass ich ihn durch die Gasmaske hindurch rieche. Mir ist kotzschlecht, Schweiß rinnt mir aus jeder Pore. Ich habe jetzt schon Fieber, bestimmt neunundreißigfünf.

Ich hab mich den Teens angeschlossen. Ich versuche, mit ihnen zu reden, aber sie können kein Deutsch, kein Englisch, kein Türkisch, nicht mal meine paar Fetzen Kiswahili, und ich kann – Überraschung – immer noch kein Polnisch. Scheiße. Sie lachen, versuchen es mit irgendwelchen anderen Sprachen, von denen sie und ich nur Schimpfwörter kennen. Eine von ihnen, Anetka, schaut mich immer wieder besorgt an, falls es wirklich Sorge ist, was ich durch die Linsen ihrer Gasmaske erkennen kann. Nur meine Hoffnung hat mich noch irgendwie am Laufen gehalten, und die ist jetzt gerade heftig im Arsch.

Sie gibt mir gute Tipps, die ich nicht verstehe, und bringt mir größere Teile zum Auseinandernehmen, damit ich mich beim Arbeiten hinsetzen kann.

Der Himmel verändert sich nicht. Die Zeit steht still.

Irgendwann ist Mittagspause. Keine Laylay kommt an. Kein Miron kommt wie durch ein Wunder hinterher. Keine Drohnen sprengen sich in die Luft und sorgen dafür, dass irgendwie alles doch klappt. Das ist der Tag, den wir als Tag der Revolution veranschlagt haben, aber na ja. It doesn’t happen.

Nach der Mittagspause versuche ich es. Was hab ich zu verlieren? Ich folge der einzigen Person, von der ich sicher weiß, dass sie Deutsch spricht.

Tadeusz.

»Hey, Tadeusz.« Eigentlich sprechen ihn sonst alle mit Tadek an, aber das traue ich mich irgendwie nicht, weil er sich mir als Tadeusz vorgestellt hat. Er hat einen Sack geschultert und einen Werkzeuggürtel umgehängt wie einen Patronengurt. Er dreht sich zu mir um, und sofort blitzt Wut über seinen Tränensäcken.

»Ich weiß, du kannst mich nicht leiden und denkst, ich schnorr mich so durch.«

»Gut, dass arbeitest heute«, sagt er und winkt ab. Halb so wild, dass er mich nicht leiden kann, solange ich heute arbeite.

»Aber ich arbeite eigentlich nicht. Ich versuche, eine Revolte anzuzetteln. Wir können die Ferales überwältigen. Es sind bloß sieben.«

Er starrt mich an, ohne zu blinzeln. Er sieht auf einmal jünger aus, die Überraschung glättet seine wettergegerbten Züge.

»Wir überwältigen sie, dann kapern wir den Lkw, und dann hauen wir ab.«

»Wir hauen ab?«, fragt er nach.

»Ja, Mann. Wir hauen mit einem Lkw ab. Ich brauche dazu nur deine Hilfe. Ich hatte einen guten oder, na ja, okayen Plan, aber ich kann ihn nicht allein durchziehen.« Ich versuche, irgendwas an Begeisterung heraufzubeschwören. Versuche, der Funke für die toten Äste seines Freiheitswillens zu sein.

»Meine Kinder sind im Flughafen. Hast Plan für sie?«

Mir wird kalt, aber das könnte auch das Fieber sein.

»Noch nicht, aber vielleicht, wenn wir zusammen –«

Er pfeift auf zwei Fingern, und ich verstumme mitten im Satz. Er ruft etwas auf Polnisch über die Verpackungsmüllhügel unter ihren Elektrogerätkronen. Entweder »Okay, Leute, die Revolution beginnt, Zeeto führt uns an« oder »Dieser Typ hat sie nicht alle und ich brauche die Erlaubnis, ihm die Fresse zu polieren.«

Wollt ihr raten?

Auflösung: Ich sitze gefesselt im Lkw.

Vollfakke mit Anlauf.

Tadeusz und die Ferales haben sich richtig Mühe gegeben: mit Kabelbinder, der in meine Handgelenke schneidet und Panzertape um die Füße. Die Gasmaske sitzt schief, aber ich kann sie nicht geraderücken. Mein Atem schnauft darin. Ich muss vielleicht kotzen. Ich muss auf jeden Fall pinkeln.

Was ich nicht muss, ist Müll sammeln, aber nicht mal darüber kann ich mich freuen.

Es ist stickig, vielleicht im Lkw, auf jeden Fall in der Maske. Ich sinke irgendwann zur Seite, schiebe am Boden immerhin die Maske gerade. Mir schmerzt alles. Fieber jagt durch meine verdrehten Glieder. Das Band der Maske zieht an meinen Haaren. Ich heule nicht, ich kotze nicht, ich pisse nicht. Ich atme. Oft. Lange. Es ist eine dunkle, dumpfe Endlosigkeit aus Atemzügen.

Aber das trifft ja auf mein halbes Leben zu.

Das Fieber macht, dass ich wegdämmere und gleichzeitig den Eindruck habe, meine Haut ist wach. Schüttelfrost und Gliederschmerzen lassen sie schmerzhaft hin und her rutschen, als würde sie mir nicht mehr passen. Alle Härchen stehen zu Berge, und die Kopfhaut brennt, weil die Gummibänder an den Knoten zerren.

Irgendwann öffnet sich die Klappe. Leute steigen ein, teils haben sie Müllsäcke dabei, die nicht mehr in den anderen Laster passen, sie waren also fleißig. Da kann ich ja nur hoffen, dass sie heute ordentlich was zu beißen kriegen.

Ich hab keine Ahnung, ob ich den Tag überlebe. Dank Tadeusz wissen die Ferales Bescheid, und das bedeutet das Ende aller Pläne. Miron wird so enttäuscht sein. Und Laylay … Was, wenn sie es auch versucht hat und gescheitert ist? Wenn ich jetzt denke, ich enttäusche sie, und sie denkt, sie enttäuscht mich? Ich heule jetzt doch ein bisschen, aber nicht viel, da ist einfach nicht mehr so viel. Die Enttäuschung ist ein gezacktes, breites, fieses Rambomesser in meiner Brust, aber egal, wie sehr es schreit: »Beachte mich! Blute!«, ich hab einfach keine Reaktionskraft, keine Emotionskraft mehr.

Der Lkw springt grollend an. Um mich herum sind tausend Formen und Kanten, Leute prallen in Kurven und Schlaglöchern gegen mich.

Dann kommt der Lkw zum Stehen, wer auch immer ihn fährt, muss ganz schön aufgekratzt sein, denn es geht ein Ruck durch das ganze Fahrzeug, die Reifen quietschen. Im Fieber ist die Fahrt zurück zum Flughafen sehr schnell rumgegangen.

Die Klappe öffnet sich nicht. Wir warten. Leute beginnen zu flüstern. Vielleicht haben wir ‘nen Platten. Auf einmal eine Salve Schüsse direkt an der Tür, Menschen schreien, meine Eingeweide krampfen sich zusammen. Als endlich Licht zu uns hereinfällt, ist es aprilfarben, ich sehe es durch die aneinandergedrängten Schemen vor mir. Helles Grün vom Ödlandwald. Wir sind nicht am Flughafen.

»Ist Zeeto hier? Czy Zeeto jest tutaj?«

Die Leute im Lkw verstummen. Ein Blick nach dem anderen geht über die Schulter, in meine Richtung, dann wieder zurück zur muskulös-wölfischen aprilgesäumten Silhouette.

»Jest tutaj!«, ruft Anetka schräg vor mir in die Stille.

(»Na«, fragt das Messer in meiner Brust, »hast du immer noch keine Emotionen?«)

Die Silhouette drängt sich durch die erstarrten Leute, setzt die Füße vorsichtig zwischen kauernden Körpern und gefüllten Säcken auf, bis sie bei mir ist. Ich kann nichts tun, das ist der Sinn von Kabelbindern und Panzertape an Gliedmaßen. Aber plötzlich ist alles voller Tränen, die ganze verdammte Maske, und ich höre mich schluchzen, und dann ist sie da.

»Zeeto?«

Sie ist in ihrer Monsterform, und das ist voll angemessen gerade.

»Laylay«, bringe ich hervor, und dann kommt das allerschönste Geräusch von allen: ein Kleinkindquietschen, Mtoto hat meine Stimme erkannt, überhaupt, sie ist auch da, Leute, mein Baby hat mit meinem Baby einen Lkw angehalten! »Ihr seid da. Ihr seid da.« Mein Verstand schafft gerade nichts anderes.

Laylay geht in die Hocke, und ihre Hände richten mich auf, ziehen mir die Gasmaske vom Gesicht, tasten sich vorsichtig über meine Haarknoten, meine Wangenknochen, meine Lippen, mein Kinn.

»Zeeto, du Armleuchter«, flüstert sie, ihre Stirn an meiner Stirn, sie zittert, aber ihre Berührung scheint mich zurück in meine schlechtsitzende Haut zu stopfen, die passt wieder, alles passt gerade. »Darf ich dich umarmen? Sind wir noch …« Sie bricht in Tränen aus. »Sind wir noch zus–«

»Ich liebe dich«, unterbreche ich sie, weil es ja stimmt, alles passt, ich liebe sie, jede Faser von meinem plötzlich wieder passenden Körper kribbelt, weil es so sehr stimmt. Sie schlingt die Arme um mich, drückt mich in eine Umarmung, bei der mir die Luft wegbleibt, und sie lacht und heult und kriegt sofort Schluckauf, wirklich, ein Werwolfmuskelpaket mit Schluckauf! Sie hat Mtoto neben uns auf den Boden gestellt, und es strahlt mich an, dieses spitzzahnige Zuckerbaby.

Anetka ist plötzlich auch da, mir kommt der Gedanke, dass sie in einen Group Hug will, aber stattdessen fummelt sie mit einem Schraubenzieher an meinen Händen herum, und dann sind sie frei, und ich kann zurückumarmen, auch wenn meine Hände ganz taub sind.

»Du bist hier.« Wirklich, mein Hirn ist reduziert auf Du bist hier und Ich liebe dich, ein einziges krasses plötzlich erfülltes Sehnsuchtsgefühl, wie gegen eine warme Laylaywand gelaufen.

»Ich bin hier. Ich hab keine Ahnung, war das der Plan? Mtoto hat ihn halb aufgegessen.«

Und jetzt muss ich auch lachen, lachen und schniefen und nach Luft schnappen. Mit einer Hand ertastete ich fedrige Babyhaare, mit der anderen Laylays kinnlange dicke Strähnen. Meine Finger kribbeln wie verrückt, weil das Blut zurückkehrt, es ist, als würden meine Hoffnungen wieder lebendig.

»Wir machen jedenfalls jetzt einen neuen Plan. Ich brauche einen Beifahrer, am besten babyerprobt. Meinst du, der Posten wär was für dich?«, fragt sie, und ich nicke und kann gar nicht mehr aufhören zu grinsen.