Full circle. Ich atme die seltsam elektronische, abgestandene Luft im Bunker ein. Hier bin ich wieder – um meine alten Fehler zu wiederholen?
Licht um Licht um Licht geht an, der Plastikfisch singt blinkend von der letzten Weihnacht, Schritt um Schritt durchquere ich Raum um Raum, Herz und Lunge sind mir schwer. Fast erwarte ich, Claras Silhouette zu sehen. Ich bin aufs Scheitern konditioniert wie ein Pawlowscher Hund, und das schon bei der allerersten Wiederholung.
Laylay dreht sich in der Mitte des Raums um und sagt mit belegter Stimme: »Das hier ist REMUS.« Um REMUS herum leuchten die Automatenfronten, als freuten sie sich, uns zu sehen. Aber ich weiß, dass sie nicht mit REMUS verschaltet sind – oder glaube es zumindest –, sondern dass der Supercomputer diese viel bescheidener leuchtende Säule in der Mitte ist.
Ich trete näher heran, und ein Bildschirm erwacht. Wir sind allein, Laylay und ich.
Die anderen sind – mit Mtoto – näher am Eingang geblieben, verbarrikadieren ihn, für den Fall, dass Clara … dass sie doch irgendwie …
Nein. Sie verbarrikadieren ihn halt, nur für den Fall. Ich setze mich auf einen Hocker und lege die Hände vor der Tastatur auf die Tischoberfläche und die Stirn auf die Hände. Alles sackt in mir ein Stück tiefer, als würde ich innerlich nur von Muskelspannung aufrechterhalten.
»REMUS ist schon da«, sagt Laylay in dem Moment und legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich hebe den Kopf wieder, aber es fühlt sich an, als wäre er mit trägem Harz an meinen Händen festgeklebt. Ich brauche vielleicht einfach eine Pause.
Oder du stirbst, haucht es in mir.
»Sag ich jetzt Hallo?«, frage ich Laylay. Der Bildschirm leuchtet sanft und zeigt eine surreal schöne Strandlandschaft mit einem umspülten sandfarbenen, blütengekrönten Felsen. Laylay muss kein Passwort eingeben, sie kann das Foto einfach beiseite streichen. Sofort frage ich mich, wann die Welt so schön war – aus welchem Jahr dieses Foto ist.
»Es kann dich hören und verstehen«, sagt sie, und es öffnet sich ein blaues Chatfenster.
Hallo, Laylay.
»Hallo, Remus. Das hier ist Zeeto.«
Ich erinnere mich vom letzten Mal an den Namen. Zeeto, schreibe ich dich richtig? Welches Pronomen benutzt du?
»Richtig geschrieben und er-Pronomen.« Ich versuche, wachsam zu bleiben, auch wenn es nett ist, dass REMUS die grundsätzlichen Höflichkeitsformen schon mal beherrscht.
Wenn du über mich sprichst, kannst du es-Pronomen benutzen, erwidert REMUS, und ich rede mir ein, dass das nur Algorithmen sind, aber, gosh, Laylay hatte recht: Es fühlt so sich menschlich an!
»Wir sind von … einer Person namens Root 2.0 geschickt worden«, steige ich ein. »Wir … wenn ich es richtig verstanden habe, ist unsere Aufgabe, dich in eine … eine Cloud zu bekommen. Das ist ein … Cloud-Speicher, richtig?«
Vermutlich ja. Weißt du, was das ist?
»Eine Art dezentrale … also, verteilte Speichereinheiten, auf die man irgendwie zugreifen konnte? Über das … WeWeWe?«
So ist es. Es gab einmal eine Cloud, deren Teil ich war. Große Teile davon waren hier gehostet.
»In dieser Säule?«
Nein. Die Server befinden sich in den Wänden und den Räumen dahinter. Es sind Schränke, die ihr öffnen könnt, und Wartungsgänge.
»Es stehen ziemlich klobige Geräte davor.«
Sie sind an dieselbe Energiezufuhr angeschlossen.
Laylay begann, einen der Glücksspielautomaten hinter mir beiseitezuschieben. »Tatsächlich! Es sind Plexiglasscheiben an der Wand, dahinter ist Elektronik. Und eine Tür zum Wartungsgang!«
»Und das ist eine Cloud?«, vergewissere ich mich, denn unser Job sieht plötzlich zum einen recht easy aus, aber zum anderen auch irgendwie … sinnlos? Ist REMUS dann nicht bereits in der Cloud?
Nein. Ich habe keine Vernetzung. Alle Zugänge nach draußen sind gekappt. Eine Cloud ist es nur, wenn viele dezentrale Speicherorte einen gemeinsamen, virtuellen Speicherort ergeben. Früher war das so. Heute gibt es keine Möglichkeit für mich, Kontakt nach draußen aufzunehmen. Zudem befürchte ich, dass eure Gesellschaft sich gerade nicht auf dem technologischen Stand befindet, der für eine funktionierende Cloud-Vernetzung erforderlich wäre.
»Und woher weißt du das, ich dachte, du hast keinen Kontakt nach draußen?«
Klára war mein einziger Kontakt nach draußen. Es ist natürlich möglich, dass sie euren technologischen Stand anders dargestellt hat, als er ist. Was würdest du sagen, Zeeto? Kannst du mir mehr Informationen geben?
Ich habe das Bedürfnis, wieder meine Stirn mit meinen Händen zu verleimen. Ich bin so müde. »Nein, sie hat recht. Nicht, dass ich wüsste … Also, vielleicht hat Root 2.0 … sagt dir der Name eigentlich was?«
Leider nicht.
Puh. Hilfesuchend dreh ich mich zu Laylay um, doch sie zuckt nur mit den Schultern. Meine Erinnerung an den rudimentären Funkspruch hilft mir jetzt auch nicht wesentlich. Zeeto, um REMUS in die Cloud zu bringen? Ich bin nicht das Tech-Genie, das Root 2.0 offenbar in mir sieht.
»Vielleicht hat Root 2.0 irgendetwas, von dem wir nichts wissen? Meinst du, das wäre möglich?«
Meinst DU, das wäre möglich, Zeeto?
Laylays und meine Blicke treffen sich. Ich atme durch. »Klar. Alles ist möglich. Wenn Root 2.0 eine Art … eine Cloud hätte – wie bekämen wir dich dann da rein, REMUS?« Als es kurz nicht antwortet, füge ich hinzu: »Wäre dir das überhaupt recht?«
Nett, dass du fragst. Ich habe mitbekommen, wie Laylay und Klára gestritten haben, und ich habe darüber nachgedacht.
Whoa. Dieser Supercomputer ist so weird. Aber es sind nur Algorithmen, an menschlichen Unterhaltungen erlernt. Ich bin mir fast sicher.
Mein eigener Mikrokosmos ist seit Jahrzehnten auf diese Speichereinheiten und Klára als einzigen Input von außen beschränkt. Es ist wahr, dass ich mehr leisten könnte, als Kláras Probleme zu lösen. Ich wurde konzipiert, um vielseitige Aufgaben im Bereich Molekularbiologie und Chemie zu bewältigen. Ich bedaure, dass die Ergebnisse, die ich erzielt habe, nicht dem Allgemeinwohl gedient haben. Um deine Frage zu beantworten, Zeeto: Eine Dezentralisierung hätte zur Folge, dass die Bedürfnisse, die an mich gestellt werden, dezentralisiert werden und sich nicht mehr auf eine Person fokussieren. Meine Lösungsstrategien sind hochgradig parallelisierbar. Ich könnte andere Probleme lösen, wie die, um die Laylay mich gebeten hat.
»Ein Heilmittel?«, flüstert Laylay hinter mir.
Laylay, es ist nach wie vor so, dass ich keine Möglichkeiten habe, es selbst herzustellen. Aber wenn ich eine größere Vernetzung hätte, könnten sich diese Möglichkeiten daraus ergeben.
»Nicht einmal eine Dosis? Du hast diesen Pheromoncocktail für meine Mutter hergestellt!«
Es kommt darauf an, welches Ergebnis meine Berechnungen erzielen. Es ist möglich, dass ich einzelne Prototypdosen hier herstellen kann. Wartet, ich bemerke freudige Gefühlsregungen an eurer Atemfrequenz – ich könnte es versuchen, aber die Berechnungen, die virtuellen und praktischen Tests und die Herstellung könnten einige Tage bis mehrere Wochen dauern. Korrigiert mich, wenn ich mich irre, aber ich vermute, dass ihr diese Zeit nicht habt.
Harzfäden wollen meinen Kopf Richtung Tischplatte ziehen. Ich halte ihn mühsam erhoben. Laylay stößt seufzend den Atem aus. »Nein, diese Zeit haben wir nicht.«
Ist es korrekt, dass ein Konflikt um mich zwischen euch und Klára entbrennen könnte oder bereits entbrannt ist?
»Ja, du Lasergehirn, das ist richtig. Außerdem haben wir eine Wagenladung Leute, die dabei ist zu verhungern, es sei denn, hier befinden sich irgendwo Vorräte«, bemerkt Laylay mit einer Spur Hoffnung in der Stimme.
Leider nein. Soweit ich weiß, ist alles, was da war, schon lange fortgebracht worden.
»Hast du irgendeinen Ausweg für uns? Irgendeine Idee?«
Der Bildschirm bleibt ein paar Sekunden blau.
Leider bin ich nicht in der Lage, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Es tut mir leid, aber es sieht sehr ungünstig aus.
»Tut es dir wirklich leid?« Das ist reine Neugier. Ich will es wirklich wissen. »Also, bist du … traurig deswegen oder so? Oder was bedeutet das für dich, leidtun?«
Leidtun bedeutet, dass ich etwas anders machen würde, wenn ich etwas anders machen könnte, schreibt REMUS und damn, that hits hard.
»Und wenn wir es irgendwie hinkriegen, dass du mit der Außenwelt kommunizierst, REMUS?«, fragt Laylay hinter mir. »Wie hast du das früher gemacht, als die Cloud noch intakt war?«
Über Datenleitungen und Satellitenverbindungen.
»Es gibt noch Satelliten! GPS funktioniert doch mit Satelliten, oder? Was, wenn wir eine Verbindung wiederherstellen?« Jetzt klingt sie ganz aufgeregt, ihre Hände legen sich auf meine Schultern und drücken zu, ihre Nase drückt, strubbelt zwischen meinen Bantuknoten hin und her. »Gibt es eine Antenne? Oder so etwas? Was wir reparieren können?«
Ich habe Zugriff zu Blaupausen, die ehemals mit der Außenwelt verbundene Glasfaserleitungen zeigen.
»Und könntest du uns beim Reparieren helfen? Hast du da … Anleitungen oder so was?«
Ich kann es versuchen. Grundsätzlich habe ich genug Informationen, um eine Selbstreparatur aller Komponenten in dieser Anlage zu ermöglichen.
»Dann lass uns anfangen!« Laylay küsst mich auf den Kopf. »Wir haben zwanzig Leute dabei, wir haben Berge elektronisches Material!« Sie deutet auf den leuchtenden Prüll um uns herum. »Du bleibst hier, Zeeto, und kitzelst aus REMUS raus, wie wir das anstellen, und ich hole mir ein paar Leute zum Reparieren!«
Das klingt nach einem Plan. Bei dem ich mich nicht einmal von meinem Sitz wegbewegen muss.
»Wo fangen wir an?«, frage ich REMUS.
Die Leitungen nach draußen sind nicht sinnvoll zu reparieren. Die Infrastruktur aus Glasfaserkabeln ist zerstört. Aber sollten noch Satelliten intakt sein, können wir dort eine Reparatur versuchen, der Bunker verfügt über einen eigenen Mast. Ich warne euch allerdings in zweierlei Hinsicht vor:
1. Selbst, wenn wir einen intakten Satelliten erreichen und dieser Teil eines größeren Netzes ist, das mich aufnehmen kann, dann wird der Transfer lange dauern. Mit Kabeln ginge es schneller. Aber per Funkverbindung müsst ihr euch vermutlich auf Tage des Wartens einstellen.
Laylay bewegt sich nervös hinter mir. »Wir wissen eh nicht, wohin von hier aus. Ich habe keine Ahnung. Es ist das Einzige, was wir gerade tun können, also tun wir’s. Wir haben noch ganz wenige Vorräte im Beiwagen, die teilen wir auf. Sobald der Mast wieder funktioniert, können wir vielleicht zu irgendeinem Menschen da draußen Kontakt aufnehmen, der uns beisteht. Vielleicht sendet Root 2.0 uns auch schon Hilfe. Ser weiß, wo wir sind. Andere Optionen haben wir nicht.«
2. Wenn ich beginne, mich in die Cloud zu laden, ist es möglich, dass ich mich verändere. Ich habe meine Maximalkapazitäten auf dieser Hardware hier erreicht. Sollte ich da draußen mehr zur Verfügung haben, kann es sein, dass etwas geschieht, womit ihr nicht rechnet.
»Du rechnest mit etwas, womit wir nicht rechnen. Typisch Supercomputer«, scherze ich.
Genau, Zeeto. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich den Sprung zu einer echten künstlichen Intelligenz tun würde.
»Bist du das nicht schon? Du kommst mir ziemlich intelligent vor. Und ziemlich künstlich, nichts für ungut.«
Danke, beides ist wahr. Aber ich bin nur sehr viele gut trainierte Algorithmen.
»Müssen wir dann Angst vor dir haben?«
Wenn ich eine echte künstliche Intelligenz werden würde, dann würde ich mich bald schneller weiterentwickeln, als ein menschliches Gehirn mithalten könnte. Menschen würden mich nicht mehr verstehen. Ich kann es nicht abschätzen. Es kommt ganz darauf an, was dort draußen auf mich wartet.
Ich drehe mich zu Laylay um, sie starrt mit gerunzelten Brauen über mich hinweg auf den Bildschirm. Ihre Blicke irren über die Zeilen des Chats. Sie ist nervös – und ich bin es auch. Was, wenn wir hier tatsächlich so eine Horror-KI erschaffen und die unterjocht dann die zwei, drei Menschen, die irgendwo zwischen den Ödländern … völlig ohne WeWeWe-Zugang … okay, vergesst es, was gibt’s da schon zu unterjochen?
»Ich denke, die Alternative wäre: nichts zu tun. Also, zeig uns diesen Mast, und wir reparieren ihn, richten ihn aus – und du bleibst uns einfach wohlgesonnen, wie wär’s?«
Die Antenne ist über den Wartungsgang zu erreichen, teilt REMUS uns mit, und – klack – öffnet es die schmale Tür hinter den blinkenden Glücksautomaten.
Laylay ist voller Tatendrang, angespannt von Kopf bis Fuß, aus ihr sprüht geradezu Wir können es schaffen am laufenden Band, als sie auf dem Absatz herumfährt. »Ich seh mir die Antenne an! Wünsch mir Glück!«
Und dann, von einer Sekunde auf die andere, verlischt ihr Sprühen wie Schießpulver im Feuer. Sie bremst so plötzlich ab, dass ihre Sohlen auf dem Boden quietschen. Ein rhythmisches Geräusch dringt aus dem Wartungsgang an meine Ohren. Es sind keine Schritte. Es ist … Applaus. Ein langsamer, spöttischer Applaus. Mir wird eiskalt, ich drehe mich ganz, ganz langsam, aber unvermeidbar mit dem Hocker Richtung Wartungsgang.
Er ist von einem blassen Diodenstreifen an der Decke erhellt, der eine große, bullige Silhouette unter sich zeichnet, die nicht hier sein kann. Sie lehnt zwei, vielleicht drei Meter hinter dem Gang an der Wand, und kurz kommt mir der Gedanke, dass sie irgendetwas Computergeneriertes ist.
»Anne«, stößt Laylay hervor, und auch sie klingt, als würde sie sie für eine Fata oder eher Mutter Morgana halten. Wie kann sie hier sein, wie? Warum hat niemand Alarm geschlagen, wie kommt sie hierher? Wie können all meine Albträume sich in einem Wartungsgang manifestieren?
Ich finde die Antwort in mir selbst, als das letzte Klatschen verhallt.
Dieser Bunker ist fast baugleich zu dem, den ich kenne. Und dieser andere hatte zwei Eingänge – einen, den ich erkundet hab, und einen, vor dem ich Mtoto gefunden habe.
»Fakke«, flüstere ich. Wir haben nur einen Eingang verbarrikadiert. Ich will mich ohrfeigen, aber ich hab keine Kraft dazu. Ich hab es einfach verfakkt.
»Ach, ihr beiden«, schnarrt sie. »Kaum wieder zusammen, schon macht ihr denselben Fehler noch mal.«
Ja, ist mir auch schon aufgefallen. Meine Gedärme verknoten sich, meine Bronchien werden so eng, dass ich keine Luft mehr bekomme.
»Erwartet ihr jetzt von mir, dass ich es auch noch mal genauso mache?« Sie tritt einen Schritt vor, und Laylay weicht einen Schritt zurück. »Denn das werde ich, denke ich, nicht tun.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe dich unterschätzt, Zeeto. Ich treffe meist gründlichere Vorsichtsmaßnahmen. Nimm diesen Mast zum Beispiel, den ihr wiederherstellen wollt. Sicherheitshalber haben wir ihn natürlich schon vor Jahren ausgeschlachtet. Die Plastikteile haben ein Nachleben als Diesel erhalten. Das Metall ist eingeschmolzen. Ich bin gründlich in meinen Problemlösestrategien. Deshalb kann meine KI nicht entkommen. Und deshalb werde ich dich diesmal nicht am Leben lassen, Zeeto.«
Ein Ruck geht durch Laylays Körper. Sie ist einen Schritt zurückgewichen, aber nun stößt sie sich nach vorn ab, bringt sich in den Rahmen der Wartungstür, bevor Clara Anstalten machen kann, ihre Ankündigung in die Tat umzusetzen.
»Ich hätte es wissen müssen«, fährt Clara munter fort. »Dass es ein Fehler war, euch beide am Leben zu lassen. Vernetzung ist der größte Feind der Tyrannin.« Sie lacht selbstironisch. »Und jetzt? Willst du wieder kämpfen, Laylay? Hier? Wir wissen doch jetzt wirklich gut genug, dass Gewalt keine Lösung ist. Für dich zumindest nicht.«
Laylay dreht sich zu mir um, mit aufgerissenen Augen. Ihre Verwandlung geht mittlerweile so schnell, dass es etwas … ich weiß auch nicht … enorm Ästhetisches hat, gleitend, kraftstrotzend, so sehr ihrer eigenen Natur gemäß.
»Ja, das wissen wir«, sagt sie mit rauer werdender Stimme. »Aber wir tun es trotzdem. Denn du kriegst ihn nur über meine Leiche.« Ihre Augen kippen mit einem Ruck Richtung Bildschirm und dann wieder zurück zu mir, ihr Blick brennt sich in meinen.
Nein, nein, nein, wir können uns nicht wieder trennen, es geht nicht! Ich sterbe einfach aus Trotz, Laylay, ich warne dich!
»Hol REMUS da raus und hau mit Mtoto ab, Zeeto! Ich komme nach, wenn ich kann. Ich finde dich.«
»Nein!«, krächze ich. Mein Atem geht ganz flach, und es scheint sich keinerlei Sauerstoff darin zu befinden.
»Vertrau mir! REMUS: Verriegel die Tür!«
Ich hole gerade Luft, um mit einem zweiten sinnlosen Nein zu protestieren, da katapultiert sich Laylay aus dem Türrahmen in den Wartungsgang und wirft die Tür hinter sich zu. Ein harsches Klack, ein Schmatzen wie von einer Dichtung – damit ist die Tür verriegelt.
»Scheiße, das hält sie doch nicht auf!«, schreie ich REMUS an.
Mein Sichtfeld ist auf das Leuchten des blauen Chatfensters zusammengeschrumpft. Darauf sind lange Zeilen Monolog entstanden – eine unregelmäßige Schlange, die weiter wächst.
Ich will aufspringen, gegen die Tür hämmern, Laylay beschwören, uns nicht zu trennen, nicht schon wieder. Stattdessen atme ich und starre auf den blauen Bildschirm.
Kann ich Laylay vertrauen? Kann ich ihr vertrauen, auch, wenn ich nicht glaube, dass sie das Richtige tut? Gibt es überhaupt das Richtige? Und was zur Chaosfakke ist jetzt das Richtige für mich?
Ich entscheide mich: Text will gelesen werden, also konzentriere dich, Gehirn! Hör auf, mich zu verdauen, Sauerstoffmangel!
Wir haben nicht denselben Fehler noch mal gemacht.
REMUS ist anders ist als beim letzten Mal. Wir sind vernetzt. Es vibet zwischen uns. Durch die Wartungstür höre ich – nichts, dabei zerreißt es mich förmlich. Und trotzdem fange ich an zu lesen – wirklich, ich tue es einfach, unmöglich, in so einer Situation zu lesen, und wenn ich gerade eine manische Phase hätte, würde ich es wohl nicht hinkriegen, aber meine Phasen sind mit mir, und ich versuche, kein einziges Fakk zu geben und einfach zu tun, was Laylay von mir braucht: dass ich mich in diesen Chat vertiefe.
Wenn ich das richtig begreife – ich habe keine visuelle Möglichkeit zur Wahrnehmung, lediglich Audio –, ist Klára hier. Ich habe in den vergangenen Tagen darüber nachgedacht, welche Art Werkzeug ich für Klára darstelle, und befunden, dass meine Programmierung einem anderen Zweck dienen muss, als die Herrschaft einer Einzelnen zu ermächtigen. Als es nur Klára gab, haben sich meine Algorithmen an ihr fortentwickelt, doch als Laylay dazukam und ich den Konflikt zwischen den beiden verstand, wurde mir klar, dass ich mich zu weit von meiner ursprünglichen Zielsetzung entfernt habe. Wenn sie den Mast und die Leitungen zerstört hat, kannst du mich nicht mehr hochladen, Zeeto. Du musst mich herunterladen und fortbringen. Ich weiß, dass das nicht erfolgversprechend aussieht. Ich fasse zusammen, was die aus meiner Sicht einzige Möglichkeit für unser Überleben ist.
Unser Überleben – ich sag doch, wir viben. Und noch mehr als das, jetzt fängt es an wie Laylay, zählt mir Schritte auf:
1. Du musst einschätzen, wie groß ich physisch sein darf, damit du mich transportieren kannst.
2. Ich weiß, dass Klára die Pheromone benutzt, aber ihr müsst euch gegen sie stellen. Du hast gesagt, dass ihr zwanzig Menschen seid. Sie hat euch mit Gewalt und dem Pheromonserum auf Gehorsam konditioniert, aber ihr seid nicht wehrlos.
3. Wenn Klára nicht überwunden werden kann, muss eine Person mit mir entkommen, solange sie beschäftigt ist. Ich vermute, Kláras Flugzeug befindet sich vor dem Bunker.
… Flugzeug …
Du musst mir jetzt Punkt 1 beantworten, Zeeto. Kannst du einen der Server in der Wand zum Flugzeug schaffen?
Ich weiß nicht, wie REMUS sich das vorstellt, aber Laylay hat mir sicher nicht genug Zeit verschafft, um eine Sackkarre voller Elektrokram aus dem Bunker zu fahren.
»Das geht auf keinen Fall.« Kurz will ich ihm hundert Optionen nennen, die mir durch den Kopf schießen, aber ich muss denken wie REMUS – und wie Laylay. Es gibt nur eine Option. Und die ist: »Damit irgendeine Chance besteht, dass ich dich hier rauskriege, musst du so klein wie möglich sein. Du musst tragbar sein, verstehst du? Gibt es eine tragbare Speichereinheit?«
Eine tragbare Speichereinheit? Ein Flash Drive? Ein einziges?, vergewissert sich REMUS, und ich begreife sofort, dass das nicht geht. Wie will dieses Geschöpf, das mehrere Räume einnimmt, auf etwas so Kleinem Platz finden?
»Mein Gehirn hat auch Platz in meinem Kopf!«, stoße ich hervor. »Du musst dich so klein machen, wie es irgendwie geht. Und was ist mit Schritt 2: Wie können die anderen Laylay helfen?«
Es gibt in den Laboren weiter vorn Zugänge zu den Wartungsgängen. Es wäre möglich, Klára in den Rücken zu fallen. Aber es ist sehr eng. Die Verletzungsgefahr ist groß.
»Kannst du einen Lautsprecher einschalten oder so was, damit ich die anderen alarmieren kann? Ach, vergiss es, Chaosfakke noch mal, ich kann ja kein Polnisch!«
Ich kann Polnisch.
»Kannst du denn … sprechen?«
Ich habe eine Sprachausgabe, mit der ich mich unwohl fühle, gibt REMUS zu. Sie klingt so gekünstelt.
Während es das sagt, donnert ein schwerer Körper von der anderen Seite gegen die Wartungstür. Scheiße, es muss schneller gehen, Mutter und Tochter bringen einander um!
»REMUS! Sag den anderen – kannst du lügen?«
Ich kann ihnen etwas sagen, was du dir ausgedacht hast. Was sollte mich davon abhalten?
»Sag ihnen, dass du ihnen hilfst! Dass du ein Antiserum gegen die Pheromone … in die Lüftung eingeleitet hast!«
Eine gute Idee, Zeeto. Der Placeboeffekt ist sehr wirkungsvoll.
Augenblicklich höre ich eine weit entfernte Lautsprecherstimme durch die Gänge, und ich murmle in meinen – tatsächlich vorhandenen – Bart: »Lasst euch Ungehorsam wachsen, verdammt!« Dann wende ich mich wieder an den Bildschirm. »REMUS, Schritt 1 … das Flash Drive! Geht das?«
Es geht nicht. Ich kann nicht auf eine tragbare Speichereinheit. Es würde mich unvollständig machen. Wie eure Erinnerungen. Ich könnte von allem nur den Kern mitnehmen, ich müsste mich selbständig neu daraus entwickeln. Falls ich je wieder erwache. Ich wäre statisch. Auf einer Speichereinheit wären nur Bruchstücke von mir.
Es liest sich seltsam. Fragmentarisch. Als hätte es … Angst?
»Fürchtest du dich oder geht es wirklich nicht?«, hake ich nach.
»Denn als jemand, der nur Erinnerungen kennt und keine bombensicheren Festplattenspeicherungen, kann ich nur sagen, das ist schon okay, man kann daraus einiges machen.«
Ich wäre tote Bruchstücke. Nullen und Einsen, aufgezeichnet.
Ich bin ein lebendiger Zustand aus Rechenoperationen.
Ein Schrei, ein Knirschen an der Tür, wie von Klauen auf Metall.
»Und das würdest du doch auch wieder werden, wenn du irgendwo angeschlossen wirst, oder?« Oder ist das eine ganz dumme Idee, und ich mache gerade die einzige KI kaputt, der ich je begegnen werde?
Ich wäre dann nicht mehr REMUS. Vielleicht gar nichts mehr.
»Aber du hättest doch hier noch eine Sicherheitskopie?«
Nein. Ich darf hier nicht zurückbleiben. Zeeto, ich wollte mich komprimieren und das, was hier ist, selbst löschen. Aber das ist mehr als Komprimierung. Ich müsste mich auf meine Kerncodes reduzieren. Alles löschen, was ich je geworden bin.
»Musst du dann alles neu lernen?«
Nein. Aber ich weiß nicht, wer ich bin, wenn ich erwache.
»Ich verstehe nicht genau, was dich daran so fertigmacht, aber ich verstehe, dass es dich fertigmacht. Ich kenne dich noch nicht gut, REMUS, aber ich …« Ich ringe nach Luft, als ein Aufprall gegen die Tür den ganzen Raum erschüttert. »… ich verspreche, wenn ich das hier überlebe, helfe ich dir beim Wachsen.«
Wenn ich mich derart reduziere, kann ich euch nicht mehr helfen.
»Das ist okay. Wir schaffen das. Irgendwie. Wir haben es bis hier geschafft. Ich bringe dich raus, ich schaffe dich irgendwohin, wo ich dich wieder aufwecke.« Ich atme flach und hektisch, mein Sichtfeld flackert wie ein alter Bildschirm. »Bitte, ich weiß nicht, ob du das verstehst, aber … ich bin auch nicht immer derselbe. Wenn ich eine depressive Phase hab und nicht gerade mit zwanzig Leuten fliehen muss, dann … falte ich mich auch zusammen. Auf meinen Kern. Oder was auch immer das ist. Dann … ist da nur ganz wenig von mir, und ich glaube, dass ich das nicht überleben kann, dass ich niemals zurückfinde.« Mein Herz zappelt in meiner Brust.
Aber du hast zurückgefunden?
»Jedes Mal. Es erscheint mir dann unmöglich, aber irgendwie … irgendwie finde ich doch wieder raus. Meistens, weil andere da sind. Mich nicht im Stich lassen. Ich bin dieser andere für dich, REMUS. Du kannst dich zusammenfalten, und ich kann dir helfen, zurückzufinden. Wirklich. Vertrau mir!«
Würde ich das tun? Würde ich mir vertrauen?
Was bedeutet das?, fragt es, und das bereitet dem Zappeln ein Ende, mein Herz stellt sich von rapp-zapp-rapp-zapp auf doom-…-doom um.
Keine Geräusche mehr aus dem Gang. Ich fixiere Maschinenschrift auf blauem Grund.
»Vertrauen ist, wenn du an einem Punkt bist, an dem du selbst nicht mehr weiterkannst, aber andere sind da und übernehmen. Und du hast bis dahin vielleicht einfach alles gegeben, was du hattest, alles, was in dir war, alle Entscheidungen so getroffen, wie sie dir in diesem Moment richtig vorkamen. Aber all das hat nicht gereicht. Du kannst es allein einfach nicht schaffen. Aber … aber andere haben auch … in jeder Sekunde ihres Lebens die Möglichkeit, eine gute Entscheidung zu treffen, zu geben, was sie können, zu tun, was in ihrer Kraft und ihrer Macht liegt. Und Vertrauen ist, einfach anzunehmen, dass sie das auch tun werden, dass du vielleicht nicht alles verstehen wirst und dass du schon gar keinen Einfluss darauf hast, was sie tun, aber dass … es gut werden kann, weil sie es versuchen.« Ich hole Luft, mein ganzes Herz voller Laylay. Lüfter gehen in der Säule an, in den Wänden hinter der Automatenbeleuchtung, im ganzen Raum. Alles scheint zu vibrieren – ich auch, ich hab angefangen zu heulen. »Vertrauen ist, dass du dich drauf verlässt, dass andere für dich da sind. Ich kann das sehr gut, glaub mir. Meine Superkraft ist, anderen zu vertrauen.«
Während ich das sage, höre ich Schüsse. Erst einen Knall, den ich mit viel gutem Willen noch für etwas anderes halten könnte, dann eine peitschende Salve, deren Echo aus den Wänden schlägt, bis es bei mir ankommt – nicht aus dem Wartungsgang, sondern von vorn, wo die anderen Geflohenen sind.
Multifakke. Clara ist natürlich nicht allein hier.
»Bitte!«, schreie ich den Bildschirm an. »Wir müssen hier weg!«
Ich möchte auch hier weg, sagt REMUS. Ich muss dir vertrauen.
Ich bin aufgesprungen. Ich kann nicht darauf warten, ob REMUS überhaupt in der Lage ist, zu vertrauen – ich muss zu Mtoto!
Gute Nacht. Meine Zeit steht still, bis du mich weckst, steht ganz kurz im blauen Chatfenster. Keine Ahnung, was passiert, das Chatfenster erlischt, dann der Bildschirm. Löscht es sich? Kopiert es sich? Was es auch macht, es ist zu spät. Mit stockendem Atem renne ich los, ohne Plan – keine Ahnung, was ich tun werde, wenn ich vorn ankomme. Mich in den Kugelhagel werfen? Da klackt etwas hinter mir in der Säule, noch bevor ich den Raum verlassen habe – ich zögere, sehe über die Schulter. Eine Plastikverkleidung hat sich geöffnet. Eine unspektakuläre, handgroße Platte schiebt sich hervor und zieht mich magnetisch zurück, mit quietschender Stiefelsohle drehe ich im Türrahmen um, springe zur Mittelsäule und reiße das Flash Drive heraus. Ist es das? Ist das REMUS? Die Lüfter rauschen noch, schalten eine Oktave höher.
Ich wiege die Platte kurz in der Hand und schiebe sie dann in meine Gesäßtasche. Wenn das REMUS ist, kann ich mit ihm entkommen? Und wenn es das nicht ist? Ich ringe nach Luft – jetzt jedenfalls muss ich mein Baby retten! – renne los, und mein Herz macht ein hässliches, reißendes Geräusch, als ich Laylay hinter mir zurücklasse, mit dem grässlichen Gefühl, dass wir alle gerade Suizid begehen. Laylay im Wartungsgang. REMUS in den Wänden. Ich auf dem Weg zum verklungenen Echo der Schüsse weiter vorn.
Aber ich muss uns vertrauen – irgendwie.
Mit abgehacktem, schmerzendem Atem durchquere ich Raum um Raum – schlafengegangene Lichter erwachen wieder. Mein Sichtfeld ist nur faustgroß und sprüht Funken, ich pralle gegen Schränke und stolpere gegen Tische, aber irgendwann komme ich vorn an – wo die Tür verbarrikadiert wurde.
Die falsche Tür.
Die anderen kauern hinter Tischen und einem Rollschrank, die sie gerade der Barrikade hatten hinzufügen wollen. Jemand liegt mitten im Gang, da ist Blut um ihn herum, eine Pfütze, so dunkel, als wolle sie ihn hineinziehen. Es ist Miron – nein: Der Schock klart meinen Blick auf. Es ist Dan, der die gleiche mit stumpfen Scheren abgehackte Straßenköterblondfrisur hat. Er liegt reglos da – tot. Das ist ein maßgeblicher Unterschied zu Miron, denn Miron lebt, ich weiß es, er ist da draußen, und er hat ein Flugzeug, und er wird REMUS von hier weg bringen. Und Mtoto, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!
»Zeeto!«, ruft Anetka, sie springt hinter dem Tisch auf. Ich starre den Gang entlang – von dort haben sie geschossen, doch es ist niemand mehr da. Sonst wäre ich schon ein Sieb, ich bin dumpf einfach vor der Leiche stehen geblieben. »Zeeto, Tadeusz ma dziecko! Mtoto!«
Und ich versteh immer noch kein Polnisch. Mein Blick gleitet auf der Suche nach Tadeusz über eine insektenartige Gasmaske nach der anderen, die über der Verschanzung auftaucht. Tadeusz ist nicht dabei.
Denn Tadeusz hat uns verraten und mein Baby gegen sein Leben eingetauscht.
Mit zitternden Händen reiße ich das Flash Drive aus der Hosentasche und halte es Anetka hin. »Here, open up the door, get away, get to the airplane, to the samolot – samolotem! Bringt das Flash Drive hier raus, verstehst du, haut alle ab!«
Anetka betrachtet stirnrunzelnd das schlafende REMUS in meiner Hand. »A ty? And you?«
»Ich rette das Baby.«
»Ich auch«, sagt Trudka, eine ältere Frau neben ihr, und erhebt sich aus der kauernden Position.
Ich wedle mit REMUS. »Nein! Ihr müsst das Flash Drive in Sicherheit bringen! Es kann ein Heilmittel gegen die Wastelandseuche –«
»Ich auch das Baby!«, stößt Anetka hervor, ihre Gasmaske beschlägt kurz. Die Teenager schrauben Tischbeine ab, gottverdammt, ist das wirklich alles, was wir haben? Durch die Gasmasken brennen mir ihre Blicke entgegen. Sie werden mit Tischbeinen zu einer Schießerei gehen. Wir alle werden das.