Nun haben wir das Mindset in Bezug auf den Schlaf unserer Kinder umfassend betrachtet und gehen dazu über, das Mindset von uns Erwachsenen in Bezug auf unseren eigenen Schlaf unter die Lupe zu nehmen. Sehr wahrscheinlich bist du von Behavioristen großgezogen worden. Wahrscheinlich würden deine Eltern es nicht so bezeichnen und vielleicht war es dir selbst bislang nicht klar. Aber gerade in Bezug auf das Schlafverhalten wird besonders deutlich, wie wir erzogen wurden, wie die Grundmelodie der Erziehung klang: Meist klang sie nach einer Ausrichtung auf das Verhalten des Kindes. Es ging nicht um die feinen Töne der Bedürfnisse oder Gefühle und auch nicht um das Zusammenspiel von Bedürfnis, Gefühl und Verhalten, sondern allein um das, was das Kind zeigte. Und wenn dieses gezeigte Verhalten nicht mit den Wünschen der Erwachsenen übereinstimmte, wurde es (auf verschiedenste Weise psychisch oder physisch) bestraft. Und zwar so lange, bis das Kind dieses Verhalten nicht mehr zeigte. Der schon erwähnte Vater des Behaviorismus John Watson erklärte 1930: »Wenn Sie versucht sind, Ihr Kind zu streicheln, denken Sie daran, dass Mutterliebe ein gefährliches Instrument ist.«27 Kinder sollten hungrig nach Liebe bleiben, um leichter zu beeinflussen zu sein. Watson stand dabei mit seiner Meinung nicht allein da: Auch in Deutschland galt es, Kinder nur nicht zu verzärteln und auf ihr Weinen einzugehen. Die Schriften der ehemaligen Lungenärztin und späteren Kolumnistin für Säuglingspflege Johanna Haarer, zeitlebens überzeugte Nationalsozialistin, prägten (neben anderen ähnlichen Schriften) die Erziehungsgedanken bis zum Ende der 1980er-Jahre und wurden für die Ausbildung von Hebammen, in Berufs- und Fachschulen genutzt. Nicht zuletzt finden wir das einfache Ursache-Wirkungs-Prinzip-Denken bis heute in uns wieder: Wenn mein Kind lieb ist  /  gut schläft  /  ordentlich isst, bin ich ein guter Elternteil. Viele von uns haben nie lernen dürfen, ihre Bedürfnisse wirklich zu verstehen und passende Antworten auf sie zu finden. Viele haben nicht gelernt, welche Vielfalt an Gefühlen es gibt, dass alle sein dürfen und wie man richtig gut mit ihnen umgeht. Genauso geht es uns auch mit dem Schlaf: Schlaf war vielleicht ein notwendiges Übel, die Unterbrechung des Tages, vielleicht sogar manchmal eine Strafe. Obendrauf auf diese ohnehin problematische Schlafeinstellung hat sich dann noch das Leistungsdenken unserer Zeit gesetzt: Du musst tun, nicht ruhen. Du darfst nicht schwach sein, Stärke zeigt sich in Aktivität und Ausdauer. Wer ruht, arbeitet nicht. Gerade Frauen und Mütter, deren Care-Arbeit ohnehin nicht als Arbeit anerkannt wird, haben oft Probleme damit, sich das Ausruhen zu erlauben und wirklich gut für die eigene Entspannung zu sorgen. Schließlich haben sie erlernt, dass die Bedürfnisse anderer wichtiger sind als die eigenen. Das Bild von Schlaf als Erholungszeit, als Wohltat, als gemütliche Zeit, haben wenige von uns verinnerlicht. Und auch nicht das Es-sich-gemütlich-Machen, bevor man ins Bett geht. Dabei sollte es ganz anders sein: Dein Schlaf ist von einer solch enormen Bedeutung für dein Sein und Handeln, dass du für diese Tageszeit ein kleines Schlafparadies gestalten kannst. Dein Schlafort sollte mit der schönste und gemütlichste Ort deines Lebens sein, an dem du die Kraft schöpfst für all das, was du jeden Tag leistest. Ist dein Schlafort ein solcher Ort und blickst du positiv auf das Ausruhen und Schlafen? Oder hast du doch immer mal wieder hier und da Zweifel daran, ob du dich jetzt ausruhen darfst, nicht zu zimperlich bist und ob es wirklich okay ist, eine Pause zu machen?

Aus dem Familienalltag von Anna & Amir

Annas Freundin Thea hatte anfangs große Probleme damit, sich Ruhe zu erlauben. Als alleinerziehende Mutter hatte sie ohnehin das Gefühl, besonders kritisch betrachtet zu werden und ganz besonders zeigen zu müssen, dass sie es schafft, vom Haushalt bis zur Versorgung ihres Babys alles super zu organisieren. Sie hat sich selbst kaum Zeit und Ruhe gegönnt und schon im Wochenbett angefangen, alles zu putzen und Besuch gut vorbereitet zu empfangen. Daran waren auch die mahnenden Stimmen ihrer Eltern nicht unwesentlich beteiligt, die Theas fehlende Partnerschaft als Makel sahen und ihr deswegen immer wieder ein schlechtes Gewissen gemacht haben. Die Überlastung und hohen Ideale haben sie körperlich und psychisch sehr erschöpft. Nach und nach musste sie lernen, aktiv Ruhepausen in den Alltag einzubinden und darüber zu lernen, wie gut ihr das tut und dass solche Pausen ihr zustehen. Tagsüber hat sie deswegen feste Ruhezeiten etabliert. Wenn sie Max beispielsweise aus der Kita abholt und vorher einen stressigen Erwerbsarbeitstag hatte, gönnt sie sich eine 15-minütige Pause vor dem Abholen. Bei gutem Wetter setzt sie sich mit einem Chai auf eine Parkbank in der Nähe der Kita, ruht sich kurz aus oder schreibt sich in ihren Kalender, was sie noch erledigen muss, um die Gedanken aus dem Kopf zu haben. Wenn sie mit Max zu Hause angekommen ist, gönnen sie sich eine gemeinsame Auszeit und sprechen über ihren bisherigen Tag. Die meisten Haushaltsaufgaben hat Thea auf den Abend oder das Wochenende verschoben. Von Anna bekam sie ein Poster geschenkt, das im Flur hängt: »Hier ist es sauber genug, um gesund zu sein. Und schmutzig genug, um entspannt zu bleiben.«

Wie der Psychologe und Bestsellerautor Bas Kast so treffend formuliert: »Die wichtigste Regel für einen guten Schlaf lautet mit einem Wort: Rhythmus.«28 Es ist schon weiter oben angeklungen: Nicht nur für dein Kind ist eine Balance von Anspannung und Entspannung wichtig, sondern auch für dich selbst. Dabei regt sich vielleicht erst einmal Widerstand in dir, schließlich bist du doch kein Kind mehr, und außerdem ist das ja auch nicht möglich in so einem vollen Tag. Genau: Unser Leben und Alltag sind mittlerweile wenig auf die eigentlichen menschlichen Bedürfnisse ausgerichtet. Er ist zu voll, zu stressig, zu laut. Die Vereinbarkeit von Care- und Erwerbsarbeit ist kaum möglich, und selbst wer »nur« Care-Arbeit zu erbringen hat, ist dabei oft vor riesige Herausforderungen gestellt, weil wir ja gar nicht darauf ausgerichtet sind, das alles allein bewältigen zu müssen, sondern auch hier eigentlich das menschliche Gruppenprinzip wichtig ist.

Leider können wir – auch wenn es durchaus nötig wäre – die Welt nicht von heute auf morgen ändern und umstrukturieren. Aber wir sollten wenigstens kleine Fenster in unserem Alltag finden, in denen Entspannung möglich ist. Nicht nur, um dein Kind besser co-regulieren zu können, brauchst du selbst eine Balance von Entspannung und Anspannung, sondern auch für dein ganz persönliches Wohlergehen. Der Weg zur Selbstwahrnehmung ist gar nicht so einfach. Du kannst aber zunächst nach kleinen, einfachen Lösungen für Balance und Rhythmus Ausschau halten und wahrnehmen, was diese kleinen Veränderungen mit dir machen.

  • Nicht nur für Kinder ist es wichtig, Zeit unter freiem Himmel zu verbringen, sondern auch für Erwachsene. Überlege, wann am Tag du diese Zeit einfügen kann. Besonders gut ist es, gleich morgens rauszugehen. Vielleicht hast du einen Balkon, auf dem du im Sommer frühstücken kannst? Oder du gehst jeden Morgen mit dem Baby im Tragetuch oder Kinderwagen eine Runde zum Bäcker, statt die Wochenration Brot im Supermarkt zu kaufen. Oder du steigst auf dem Weg zur Arbeit jeden Tag eine Station früher aus und läufst ein Stück. Überlege, wo deine Möglichkeiten sind, dir mehr Bewegung und vor allem auch Lichtzufuhr zu gönnen. Wenn du deine Nischen gefunden hast: Plane sie fest ein.

  • Auch im Alltag haben wir mehr Spielraum für einen gesunden Wechsel aus Anspannung und Spannung, als wir manchmal denken: Wenn du einen Bürojob hast, achte darauf, welche Tätigkeiten du auch mal im Stehen oder Laufen ausführen kannst, zum Beispiel telefonieren. Nimm die Treppe statt den Aufzug – auch wenn es am Anfang anstrengend ist. Wenn du zu viel in Bewegung bist, beispielsweise durch viel Care-Arbeit, achte darauf, dass du auch feste Zeiten zum Hinsetzen und Ausruhen hast. Sag dir (und anderen) das auch ganz bewusst: »Ich setze mich jetzt hin und ruhe mich aus.«

  • Wir tragen uns U-Untersuchungstermine in unsere Kalender ein, Spielverabredungen der Kinder, Zahnarzttermine, Geburtstage. Aber feste Zeiten für uns selbst tragen wir selten ein. In der Folge verschieben wir das wieder, weil es ja »nichts Richtiges« ist. Probier es einmal anders aus: Trage dir ganz feste Zeiten ein, entweder für Anregung wie Sport oder für Entspannung in der Badewanne oder auch durch soziales Miteinander. Versuche, diese Termine so ernst zu nehmen, wie du auch andere Termine bewertest.

Wir kennen sie, die vermeintlichen Helfer der Erwachsenen, die uns beim Entspannen helfen oder Kraft für den Tag geben sollen. Die kleinen Unterstützer von Anspannung oder Entspannung. Sie haben sich in unseren Alltag hineingemogelt, weil ihr Versprechen so süß und einfach erscheint: der Kaffee am Morgen, der Wein am Abend. Tatsächlich aber sind sie eigentlich gar keine wirklichen Helfer, sondern überdecken nur punktuell unsere Probleme mit dem Ruhen und können sie sogar noch verstärken.

Der Kaffee am Morgen macht uns munter, aber auch nachmittags wird gern mal ein Kaffee, schwarzer oder grüner Tee, eine Cola oder Mate getrunken, um den Tag durchzuhalten oder um am Spätnachmittag oder Abend noch leistungsfähig zu sein, weil wir die Steuererklärung machen müssen oder anderes. Tatsächlich wirkt der Kaffee, weil er gegen unseren Schlafdruck arbeitet. Wie wir schon gesehen haben, steigt unser Schlafdruck über die Zeit des Wachseins an, weil durch die Verbrennung von Zucker und die Energieversorgung der Nervenzellen immer mehr Adenosin in unserem Körper gebildet wird. Dieses Adenosin bindet sich an eigene Rezeptoren, die dann dafür sorgen, dass die Nervenzellen weniger erregt werden. Unser Gehirn registriert so, dass es gearbeitet hat und eine Pause braucht. Wir werden müde, unsere Leistungsfähigkeit sinkt. Diese Rezeptoren, die eigentlich für das Adenosin zuständig sind, können aber auch vom Koffein besetzt werden. Dann werden wir nicht müde, obwohl unser Körper eigentlich eine Pause braucht. In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, dass Kaffee nicht die allein schädigende Wirkung hat, die ihm lange zugeschrieben wurde. Im Gegenteil: Er hat sogar positive gesundheitliche Wirkungen. Vor einem Powernap getrunken, kann er uns sogar einen extra Energieschub in Kombination mit der kurzen Schlafpause schenken. Um uns beständig über die Müdigkeit hinwegzuhelfen, ist er dennoch nicht die geeignete Wahl. Der Körper braucht nun einmal aus guten Gründen eine Pause. Gerade auch bei unseren Kindern sollten wir den Koffeinkonsum im Auge haben. Teenagern lässt sich schwer verbieten, Cola oder Energydrinks zu trinken, wenn der Druck der Peergroup da ist. Deswegen ist es wichtig, mit ihnen über die Wirkung zu sprechen und ihnen zu erklären, dass gerade in ihrem Alter, in dem schon die Schulzeiten besonders schlafunfreundlich sind, solche anregenden Getränke am Spätnachmittag oder Abend zusätzlich stören und sie negativ beeinflussen können.

Und auch das gegenteilige Ritual zum Kaffeetrinken ist vielen Eltern bekannt. Das Ritual von Wine-o’Clock hat sich besonders in der Pandemie in vielen Familien eingeschlichen, durchaus auch durch Social Media transportiert. Die Hashtags #winemoms und #mamabrauchtwein sind vielen Nutzer*innen von Instagram bekannt.29 Was auf den ersten Blick wie Selbstermächtigung, moderne Elternschaft und Entspannungsbedürfnis wirkt, kann langfristig fatale Folgen haben. Deutschland ist ein Hochkonsumland des Alkohols.30 Gerade die Krisen der vergangenen Jahre scheinen den Konsum noch befördert zu haben.31 Alkoholkonsum führt dabei zu volkswirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Problemen – und die durch ihn hervorgerufenen Schlafprobleme spielen in all diese Faktoren hinein. Dabei wirkt es erst einmal so verlockend, das Versprechen der Entspannung am Abend mit einem Glas Wein in der Hand. Wer stillt oder Muttermilch abpumpt, sollte hierbei generell eine Stillberatung in Anspruch nehmen, denn Stillen ist zwar mit gelegentlichem Alkoholkonsum vereinbar, aber es muss dringend auf eine ausreichend große Zeitspanne zwischen Konsum und Stillzeit  /  Abpumpen geachtet werden. Aber auch darüber hinaus ist Alkoholkonsum durchaus etwas, das Eltern in Hinblick auf ihre Vorbildfunktion, aber auch auf den Schlaf, nicht außer Acht lassen sollten. Alkohol macht uns zwar erst einmal müde, aber insgesamt verkürzt er den Schlaf und beeinträchtigt die Schlafqualität. Wir wachen häufiger auf, die einzelnen Schlafphasen werden verkürzt. Durch die körperliche Entspannung kann es auch vorkommen, dass wir mehr schnarchen, was sich wiederum nachteilig auswirkt. Am nächsten Tag sind wir dann unausgeschlafen, vielleicht übellauniger, weniger stressresistent, der Alltag mit Kind wird noch anstrengender wahrgenommen, um sich abends wieder ein Glas Wein oder Bier zu gönnen, um jetzt wirklich mal zu entspannen – ein negativer Kreislauf entsteht. Wer Alkohol getrunken hat, sollte zudem nicht mit Baby oder Kleinkind in einem Bett schlafen, da die Gefahr zu groß ist, das Kind zu überdecken und die Atmung des Kindes zu behindern.

Einer der wohl häufigsten Ratschläge, den frisch gewordene Eltern hören, ist der Rat: Schlafe, wenn das Baby schläft. Natürlich ist es ein wichtiger Hinweis an Eltern, sich der Prioritäten im Leben mit Kindern bewusst zu werden und bestimmte Tätigkeiten hintanzustellen. Was ist wichtiger: eine gute Portion Schlaf oder eine aufgeräumte Wohnung? Dennoch fällt es vielen Eltern schwer, genau dann zu schlafen, wenn das Baby schläft. In Hinblick auf unseren Nachtschlaf ist das auch nicht immer sinnvoll, wie wir im Interview mit Dr. Christine Blume erfahren haben: Schlafen wir zu spät und  /  oder zu lang, kann sich das nachteilig auf den Nachtschlaf auswirken. In ihrem Podcast berichtet die Schlafforscherin, wie allerdings Powernaps genutzt werden können, um einen Energiekick für den restlichen Tag zu erhalten.32 Anders als beim nächtlichen Schlaf werden beim Powernap nicht alle Schlafstadien durchlaufen, aber der maximal 30-minütige Schlaf gibt uns dennoch einen Energieschub. Wir müssen nicht einmal tief einschlafen, es reicht schon ein Dösen für etwas Erholung. Das lässt sich manchmal sogar mit anwesenden Kindern realisieren, wenn sie am Nachmittag eine kurze Kinderserie sehen dürfen und man selbst daneben kurz ausruht, wenn schon ein gemeinsamer kurzer Mittagsschlaf nicht mehr möglich ist. Dieser kurze Schlaf sollte allerdings vor 16 Uhr stattfinden. Wer generell unter Schlafstörungen leidet, sollte aber eher darauf verzichten, damit man am Abend ausreichend müde ist, um einschlafen zu können.

Das wesentliche Problem, das sich uns Erwachsenen stellt, ist nicht das Wissen um den Schlaf und auch nicht das Einbinden der kleinen Entspannungspausen in den Alltag, sondern vielmehr das Denken, dass wir uns wirklich ausruhen dürfen, dass wir selbst eine Pause wert sind. Hier kommt dein Mindset ins Spiel: Du hast verinnerlicht, dass die vielen anderen Dinge wichtiger sind als deine Erholung – und das meint ja letztlich: wichtiger als du selbst. Aber ohne Erholung brennen wir aus.

Dass wir unsere eigenen Bedürfnisse nicht ausreichend beachten, ist oft die Folge einer Erziehung, bei der die Bedürfnisse des Kindes übergangen wurden. »Doch, du frierst, zieh jetzt die Jacke an!«, »Du musst aber bestimmt auf Toilette, jetzt geh!«, »Was, so ein kleiner Happen passt nicht mehr in den Bauch? Jetzt iss mal den Teller schön leer, damit morgen die Sonne scheint« oder im Gegenteil »Jetzt ist aber Schluss, du bist bestimmt satt!« – Erziehung kann, wenn sie Bedürfnisse von Kindern nicht berücksichtigt, diese von ihrer Eigenwahrnehmung entfremden. Dann haben diese Kinder es im späteren Leben schwer, zu verstehen, was sie eigentlich selbst brauchen, wie sie sich fühlen, was sie jetzt tun müssen, damit es ihnen besser geht. Gerade in der Sozialisation von Mädchen wurde die Selbstbestimmung über den Körper und das Empfinden oft unterdrückt, während gleichzeitig eine Ausrichtung darauf stattfand, es anderen recht zu machen, lieb zu sein, Leistung zu erbringen.33 Selbst das, was wir unter Selbstfürsorge verstehen, ist oft eine verdeckte Anpassung an die Wünsche anderer: Wenn wir uns Gesichtsmasken auftragen, Beauty-Routinen durchführen und unseren Körper formen, können wir uns ab und zu die etwas unangenehme Frage erlauben: Mache ich das wirklich für mich und mein Wohlergehen, oder um anderen zu gefallen und meine gesellschaftliche Rolle richtig auszufüllen?

Selfcare meint also nicht, dass wir etwas für unseren Körper oder Geist tun, um noch mehr den gesellschaftlichen Anforderungen zu entsprechen. Es meint auch nicht, dass wir uns die Möglichkeit einräumen, allein auf Toilette zu gehen oder allein zu duschen. Selfcare meint, dass wir »über die Beschäftigung mit unseren Bedürfnissen verstehen, welchen Wert wir als Mensch und welchen Wert wir für diese Gesellschaft haben – weil wir sehen, wodurch uns Kraft entzogen wird und was wir täglich an Kraft aufbringen«.34 Schlaf ist eines unserer Grundbedürfnisse, und dennoch stellen wir ihn hinter viele andere Dinge. Selbst da, wo unsere Sicherheit durch Schlafmangel in Gefahr ist, im Straßenverkehr, geben wir anderen Bedürfnissen Vorrang. Wenn du dir einmal die Frage stellst, wer der wichtigste Mensch in deinem Leben ist: Was würdest du darauf antworten? Dein(e) Kind(er)? Dein*e Partner*in? Warum eigentlich nicht du selbst? Wir stellen uns selbst und unsere Bedürfnisse zumeist hinter alle anderen, damit würde nichts von dem, was wir leben, funktionieren, wenn wir selbst nicht wir selbst wären. Ohne dich gäbe es nicht diese Familie, dieses Leben, diese(s) Kind(er). Genau deswegen ist es wichtig, dass du gut versorgt bist, dass du bekommst, was du brauchst, damit überhaupt alles weiterhin so existiert, wie es ist. Du bist Teil eines Systems, in das du dich einbringst. Der wichtigste Mensch in deinem Leben bist du, so wie dein*e Partner*in der wichtigste Mensch in seinem*ihrem Leben ist. Dadurch, dass ihr euch beide grundlegend um eure eigenen Bedürfnisse kümmert, sie wahrnehmt und gegenüber der anderen Person benennt, was ihr vielleicht braucht, schafft ihr die Basis, euch beide gut um euer Kind  /  eure Kinder kümmern zu können. Selbst benennen zu können, was man braucht, ist dabei ein wichtiger Punkt der Selbstfürsorge, denn wir sind sehr schnell verleitet zu denken, dass die andere erwachsene Bezugsperson von sich aus weiß, was wir wollen. Auch wenn wir als Kinder erfahren haben, dass andere Menschen für uns entscheiden und bestimmen, was wir brauchen, trifft das nicht zu: Weder in der Kindheit haben Eltern immer das Wissen und die richtige Einschätzung darüber, was wir brauchen, noch in der Erwachsenenzeit. Du bist verantwortlich für deine Gefühle und Bedürfnisse. In Bezug auf das Schlafverhalten bedeutet das, dass du innerhalb einer Partnerschaft der anderen Person klar sagen musst: Mein Bedürfnis nach Schlaf ist nicht erfüllt, wir müssen uns etwas überlegen, anstatt darauf zu warten, dass die andere Person dein Problem erkennt.

Reflexion: Ist mein Schlaf erholsam?

Wie du gesehen hast, ist Schlafmangel kurzfristig, aber auch langfristig ein Problem: für dich und deine Gesundheit, aber auch für die Beziehungen in deinem Umfeld. Um dein Gefühl dafür auszubauen, wie bedeutsam Schlaf ist und was Schlafmangel mit dir macht, nutze über eine Woche diese Tabelle, um deinen Schlaf kennenzulernen. Wenn ihr mehrere Elternteile seid, die zusammenleben, kann jeder Elternteil die Tabelle ausfüllen, und ihr könnt über die Unterschiede sprechen. Welche Konsequenzen wollt ihr daraus ziehen? Diese Tabelle kannst du auch dazu nutzen, mit deinem*r Partner*in ins Gespräch darüber zu kommen, dass dein Schlafbedürfnis nicht erfüllt ist und was das mit dir macht. Du kannst sie auch herunterladen und ausdrucken, siehe hierzu Hinweise zum Online-Material, .

So ging es mir heute

Montag

fühlte mich ausgeschlafen morgens

fühlte mich unausgeschlafen morgens

hatte gute Laune

hatte schlechte Laune

war gereizt

habe oft gelacht

fühlte mich als guter Elternteil

konnte über schwierige Situationen hinwegsehen

war tagsüber müde

habe viel geschimpft

Dienstag

Mittwoch

Die Fähigkeit, schlecht für uns selbst zu sorgen, hängt oft auch damit zusammen, dass wir es den anderen Menschen in unserer Umgebung unbedingt recht machen wollen. Die Psychologin Dr. Ulrike Bossmann schreibt dazu: »People Pleaser zeigen zwei Tendenzen: Sie investieren viel Zeit und Energie in Bindung und in das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung bzw. Selbstwertschutz. Sie sind freundlich zu anderen, helfen ihnen und fühlen sich empathisch ein. Sie fühlen sich wertvoll, wenn sie etwas gut und es anderen recht gemacht haben. Zugleich versorgen sie diese beiden Bedürfnisse defensiv: Um ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Selbstwertschutz zu sichern, wollen sie andere Menschen keinesfalls enttäuschen, vor den Kopf stoßen oder sich unbeliebt machen.«35 Unser Grundbedürfnis nach Schlaf kann (wie andere Bedürfnisse) unter der Tendenz, es anderen recht machen zu wollen, leiden. Gerade die Angst vor dem Versagen (als Elternteil) und die Angst vor Ablehnung (durch Partner, Kind(er)) sind wesentliche Antreiber dafür, die Bedürfnisse anderer Menschen immer an die obere Position zu stellen. Auch hier liegen oft Erfahrungen der eigenen Kindheit, gern auch in Kombination mit einer weiblichen Sozialisation, zugrunde. Tief verankert ist oft ein Schwarz-Weiß-Bild, dass man sich entweder um sich selbst oder um andere kümmern kann und dass man nur gemocht wird, wenn man sich um die anderen Menschen besonders aufopferungsvoll kümmert. Dementsprechend haben People Pleaser eine Tendenz zum Burn-out, und es ist wichtig, dem entgegenzuwirken. Das bedeutet nicht, dass man nun egoistisch werden und die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder ignorieren sollte. Es geht vielmehr um ein gesundes Bewusstsein für sich selbst und die anderen, um eine Balance herstellen und auch die eigenen Bedürfnisse benennen und ausdrücken zu können.

Traumreise Du bist bedeutsam im System

Reflexion: Mein Traumabend

Erlaube dir einmal, ganz auf dich und deine Bedürfnisse zu achten. Frage dich, wie ein Abend laufen sollte, damit du damit zufrieden bist. Stell dir realistisch vor, wie ein solcher Abend gestaltet sein kann, damit du dich optimal wohlfühlst. Ist diese Art des Ablaufs realisierbar? Stell dir vor, mit welchen Schritten in diese Richtung gegangen werden kann. Womit würdest du dich schon etwas wohler fühlen? Was würde dir ein etwas besseres Gefühl geben als das, was du jetzt gerade hast?

Wir haben es schon gehört: Das Grübeln raubt uns oft den Schlaf. Gerade in Familien gibt es viele Aufgaben, die beständig in unserem Kopf umherschwirren, und jeder Tag bringt neue mit sich. Manche Familien sind durch mehr Aufgaben belastet als andere, beispielsweise wenn in einer Familie Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen leben und deswegen jeden Tag mehr Aufgaben anstehen oder diese Personen eine besondere Berücksichtigung brauchen. Manchmal gibt es auch Lebensabschnitte, in denen der Mental Load besonders hoch ist, weil gerade besonders viele Aufgaben anstehen wie bei Trennungen, aber auch beim Übergang in die Schule. Zu der Care-Arbeit, die wir ohnehin jeden Tag erledigen, sammeln sich Gedanken und To-dos in unserem Kopf an. Dabei sind Frauen und Mütter oft mehr mit dieser mentalen Last beschäftigt als Männer und Väter. Auch hier spielt die weibliche Sozialisation wieder eine wichtige Rolle, die uns die Zuständigkeit für diese Aufgaben quasi in die Wiege legt. Das ständige Dran-Denken kann aber gerade abends zu einer Belastung werden. Wir schrecken hoch, weil wir vergessen haben, die Erlaubnis für den Schulausflug auszufüllen, oder im Klassenchat vergessen haben zu schreiben, welchen Kuchen wir für den Kuchenbasar backen. Wir denken auf einmal abends daran, dass wir ja noch eine neue Matschhose für die Kita bestellen müssen, und machen es lieber jetzt noch, bevor wir es morgen wieder vergessen.

Um diesem Grübeln und den ständig nachrückenden Aufgaben, die uns vom Schlaf abhalten, nicht nachzugeben, ist es wichtig, innerhalb der Familie gute Absprachen zu treffen: Wer ist wofür zuständig? Einmal in der Woche kann sich die Familie zusammensetzen, um über die Familienaufgaben zu sprechen. Dabei gibt es allgemeine Haushaltsaufgaben, die immer anstehen und auf alle Schultern verteilt sein sollten, wie Geschirrspüler ausräumen, Müll hinausbringen, Socken zusammenlegen etc., und es gibt die Aufgaben von Eltern in Bezug auf die Familienorganisation wie Geburtstage, Feiertage, Besorgungen von Kleidung etc. An den Haushaltsaufgaben können auch schon kleine Kinder beteiligt werden. Sie erleben sich so als Teil der Familie und wichtiges Mitglied mit eigenen Aufgaben, dadurch wird auch ihr Gefühl gestärkt, etwas bewegen zu können, was sich positiv auf die psychische Widerstandsfähigkeit auswirkt.

Sich nicht ausruhen zu dürfen, betrifft nicht nur Mütter. Auch Väter haben es schwer, den toxischen Rollenbildern entgegenzutreten. Die Last des Rollenbildes »Ernährer« drückt auch auf die Entspannungsmöglichkeiten und -fähigkeiten von Vätern. Die aktuellen Krisen können den Druck, die Familie sicher versorgen zu wollen, noch befeuern. Gleichzeitig drängt das Bild der »aktiven Väter« – völlig zu Recht – Väter mehr dazu, sich in die Care-Arbeit einzubringen. Doch auch hier kann die Doppelerwartungshaltung von beruflichem  /  finanziellem Erfolg in Kombination mit der Erwartung der Care-Verantwortung dazu führen, dass Zeiten für Entspannung zu wenig mitgedacht werden. Deswegen ist es so wichtig, dass Väter nicht »nur« mehr Care-Verantwortung übernehmen, sondern Rollenbilder endlich aufgeweicht werden und wir zum Kern des Problems der Rollenerwartungen vordringen, die alle Elternteile belasten können. Erst die Überwindung der klassischen Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit ermöglicht uns echte Freiheit in der Art, wie wir Elternschaft leben und damit auch die nächste Generation prägen. »Ich glaube, ein zentrales Problem beim Thema Gleichberechtigung ist, dass uns die positiven Rollenvorbilder fehlen«, schreibt der Erzieher und Autor Felix Schenk in seinem Buch Hat die Mutti heute frei?. »Wir dürfen nicht den Fehler begehen und diesen Teufelskreis fortsetzen. Wenn wir unseren Kindern vorleben, dass wir diesen alten Rollenbildern verhaftet sind, wird es auch für sie schwierig, sich davon frei zu machen.«36 Auch an ihren Vätern sollten Kinder sehen und erleben können, wie gesunde (!) Entspannung in den Alltag integriert wird, wie Entspannungsrituale geschaffen werden und dass es eine gesunde Balance zwischen Care-Arbeit, Erwerbsarbeit und Entspannung geben muss.

Aus dem Familienalltag von Anna & Amir

Als Mayla geboren wurde, haben sich Anna und Amir gefreut. Ein paar Tage lang haben Freunde und Arbeitskollegen Amir eingeladen, um auf die Vaterschaft anzustoßen, während Anna von Freundinnen Suppe und Geschenke bekommen hat. Dann ist Amir nach einer Woche wieder voll arbeiten gegangen und nahm an, Anna würde das zu Hause schon wuppen. Schließlich wollte er seine Familie gut versorgen. Als sich dann aber zeigte, dass das eine Fehlannahme war und Anna mit der viel weinenden Mayla überfordert war, versuchte Amir, sie, so gut es geht, mit Haushaltsdingen zu entlasten: Nach der Arbeit ging er einkaufen, zu Hause nahm er ihr Mayla ab, damit Anna sich entspannen konnte, dann kümmerte er sich abends um Haushaltsaufgaben, wenn Anna zu erschöpft war. Anders als sie anfangs gedacht hatten, hatten sie zu wenige helfende Hände und waren bald beide erschöpft von der Situation und stritten sich öfter, als sie es früher getan hatten. Beim zweiten Kind haben sie es deswegen anders gemacht: Amir hat Elternzeit eingereicht, um sich kümmern zu können und Zeit mit seiner Familie zu haben – und auch, um einer weiteren Erschöpfung vorzubeugen. Durch die bessere Aufteilung hatten sie genug Zeit für ihre Kinder und auch den Raum, für sich als Paar Entspannungszeiten zu finden.