Schnell hatte Frau Helbing wieder alles in die Schränke einsortiert. Das war für sie keine größere Herausforderung, schließlich hatte sie Jahrzehnte lang hinter Hermann herräumen müssen, und die Routine war ihr nicht abhandengekommen. Auch wusste sie genau, wo alle Gegenstände hingehörten. Das ging ihr flott von der Hand. Nicht so einfach wollte das bedrückende Gefühl darüber weichen, dass jemand Fremdes in ihre Wohnung eingedrungen war. Ihre Privatsphäre war verletzt worden. Ihre vier Wände, ihr Nest, wie immer man das bezeichnen wollte, war für Frau Helbing stets ein Ort der Geborgenheit und auch der Sicherheit gewesen. Aber jetzt fühlte sie sich plötzlich nackt und schutzlos allen Eindringlingen ausgeliefert. Sie hatte den Eindruck, ihr Zuhause böte keinen besseren Schutz gegen das Böse als ein schnödes Zelt, das auf einer Wiese stand.
Das Schloss an der Tür musste sie natürlich unbedingt austauschen lassen. In den Siebzigern hatten Hermann und sie sich mal ausgesperrt. Damals hatte Hermann die Tür mit einem gebogenen Nagel aufmachen können. Dieser Schließmechanismus war nicht mehr auf dem neusten Stand der Technik. Aber bislang hatte es einfach keinen Grund gegeben anzunehmen, bei ihr könnte eingebrochen werden. Warum auch?
Als alles wieder an seinem angestammten Platz war, hatte Frau Helbing Hunger. Normalerweise kochte sie sich immer eine Kleinigkeit zum Mittag. Eine warme Mahlzeit am Tag war schließlich wichtig. Aber jetzt verspürte sie überhaupt keine Lust, etwas zuzubereiten. Sie fühlte sich unausgeglichen und angespannt. Spontan entschied sie, Herrn Aydin aufzusuchen.
»Nein! Eingebrochen? Bei Ihnen?«, rief der Schneider entsetzt, nachdem Frau Helbing ihm kurz erklärt hatte, was passiert war.
»Ja«, seufzte sie und setzte sich ermattet auf ihren Stuhl.
Herr Aydin beeilte sich, ihr einen Tee zu bringen.
»Trinken Sie erst mal«, sagte er besorgt. »Das muss ja ein entsetzliches Gefühl sein. Möchten Sie, dass ich heute Nacht in Ihrem Wohnzimmer schlafe, damit Sie nicht allein sind?«
Frau Helbing fand das Angebot rührend. So kannte sie Herrn Aydin. Er war ehrlich besorgt um ihr Wohlbefinden und selbstlos, wenn es darum ging, seine Hilfe anzubieten. Aufrichtig, hatte man früher gesagt, aber dieses Wort traf heutzutage nur noch auf wenige Menschen zu, stellte Frau Helbing immer wieder fest.
»Vielen Dank«, sagte sie, »das ist wirklich sehr nett gemeint, aber nicht nötig.«
»Dann legen Sie aber Ihr Telefon neben das Bett«, ließ Herr Aydin nicht locker. »Wenn Sie sich nicht wohlfühlen, dürfen Sie mich anrufen. Auch nachts.«
»Sie sind ein Schatz.«
Das meinte Frau Helbing sehr ernst. Sie hätte ihn gerne geknuddelt, aber das wäre ihr, und wahrscheinlich auch Herrn Aydin, peinlich gewesen.
»Sie wissen natürlich, warum sich jemand in Ihrer Wohnung umgesehen hat, nicht wahr?«, fragte Herr Aydin interessiert.
»Ich denke schon«, begann Frau Helbing.
Es tat ihr immer gut, hier in der Schneiderei alles zu erzählen, was ihr auf dem Herzen lag. Herr Aydin hörte stets aufmerksam zu, und sie selbst konnte ihre Gedanken noch mal artikulieren, was sehr hilfreich war, da ein gesprochenes Wort ein anderes Gewicht hatte als eine flüchtige Überlegung, die oft nicht nachhaltig wahrgenommen wurde.
»Dass mich Jacques kurz vor seinem Tod angerufen hat, habe ich Ihnen ja bereits erzählt«, sagte Frau Helbing.
Herr Aydin nickte.
»Er wollte Ihre Hilfe in Anspruch nehmen, um etwas zu finden, hatten Sie gesagt.«
»Genau! Aber bis vor Kurzem wusste ich nicht, worum es geht. Jetzt habe ich neue Informationen, und das Ganze fügt sich zu einem Bild.«
»Ich bin gespannt«, sagte Herr Aydin und setzte sich auf einen Stuhl.
»Es sieht wohl so aus, als hätte Karl Schnelling, der Maler, auch eine Karriere als Fälscher hingelegt. Angeblich sehr erfolgreich. Seine Werke sollen weltweit in bedeutenden Museen und Sammlungen hängen. Unerkannt natürlich.«
Frau Helbing machte eine Pause und nippte an ihrem Tee.
Vor Anspannung öffnete Herr Aydin den Mund und wollte etwas sagen, aber dann beherrschte er sich und wartete geduldig, bis Frau Helbing mit ihren Ausführungen fortfuhr.
»Um welche Gemälde es sich handelt, hat er vermutlich festgehalten. Es soll eine sagenumwobene Liste geben, von der in der Kunstwelt hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird.«
»Und genau diese Liste ist der Schatz«, platzte es aus Herrn Aydin heraus. »Haben Sie auch schon die Schatzkarte gefunden?«
Mit großen Augen hing er an Frau Helbings Lippen.
»Ich glaube schon«, sagte Frau Helbing. »Eigentlich bin ich mir sogar sicher. Um den Schatz zu finden, muss man einen Hinweis in einem Gemälde entdecken.«
»In einem Gemälde?«, fragte Herr Aydin verblüfft.
»Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge. Das ist ein Werk von Jan Vermeer. Karl hat eine Kopie angefertigt und eine Widmung auf die Rückseite geschrieben. Daraus geht hervor, dass dieses Bild ein Geschenk an Jacques ist, und wenn er es sich im Detail ansähe, würde er die Antwort auf seine Frage finden.«
»Und Sie wissen, wo diese Kopie ist?«, flüsterte Herr Aydin.
Frau Helbing nickte.
»Sehr gut«, sagte er leise und lächelte zufrieden.
»Aber leider habe ich den Hinweis noch nicht gefunden«, sagte Frau Helbing.
Herr Aydin legte den Kopf schief, als Zeichen, dass er nachdachte.
»Wahrscheinlich sieht man den Hinweis nicht auf den ersten Blick«, stellte er nach einer Weile fest. »Das ist wie mit den Wimmelbildern, wo einem tausend Sachen ins Auge fallen, aber nicht das, was man sucht.«
»Nein, nein.« Frau Helbing schüttelte energisch den Kopf. »Auf dem Gemälde ist nicht viel dargestellt. Nur ein Mädchenkopf.«
»Nur ein Mädchenkopf?«
Herr Aydin blies zum Zeichen seiner Ratlosigkeit Luft durch die Backen.
»Nur ein Mädchenkopf«, bestätigte Frau Helbing.
Dann wirkte sie plötzlich gedankenversunken.
»Wissen Sie, was mich die ganze Zeit beschäftigt?«, sagte sie leise. »Wieso musste Jacques eigentlich sterben? Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Der Mörder konnte weder das Bild an sich nehmen noch in Erfahrung bringen, wo die Liste versteckt ist.«
»Vielleicht hat das eine mit dem anderen nichts zu tun«, sagte Herr Aydin. »Wenn ich das richtig verstanden habe, wurde dieser Jacques mit einem Schürhaken erschlagen. Das klingt für mich nicht nach einer geplanten Tat.«
»Ich kann mir kaum vorstellen, dass sein Tod nichts mit diesem Bild und dem darin versteckten Hinweis zu tun hat«, widersprach Frau Helbing. »Er klang sehr besorgt, als er mich anrief. Sogar ängstlich.«
»Meinen Sie, er ist bedroht worden?«, wollte Herr Aydin wissen.
»Möglich«, sagte Frau Helbing. »Ich erinnere mich, dass Herr Kleidermann zu mir gesagt hat: ›Der Kunsthandel ist ein brutales Geschäft, in dem auch Verbrecher mitmischen.‹«
Herr Aydin setzte einen erstaunten Gesichtsausdruck auf.
»Dabei denkt man immer, nur gut situierte Herrschaften, die sich zu benehmen wissen, handeln mit teuren Kunstwerken.«
»Ganoven gibt es in allen Gesellschaftsschichten«, sagte Frau Helbing. »Da darf man sich nichts vormachen.«
Sie stand auf und reichte Herrn Aydin ihr leeres Teeglas.
»Ich gehe jetzt zu dem Schlüsseldienst um die Ecke und kümmere mich um ein qualitativ hochwertiges Türschloss«, verkündete sie entschlossen.
»Das ist eine gute Idee!«, sagte Herr Aydin. »Am besten einen Riegel, der zu beiden Seiten ins Mauerwerk greift. Dann können Sie auch wieder beruhigt schlafen.«
Zum Abschied begleitete er Frau Helbing bis zur Ladentür und versicherte ihr noch einmal, zur Verfügung zu stehen, falls sie es in ihrer Wohnung allein nicht aushalten würde.
Frau Helbing ging auf direktem Weg zu einem Geschäft für Sicherheitstechnik in der Nachbarschaft, erklärte ihr Anliegen und erhielt das Versprechen, dass bereits innerhalb der nächsten Stunde ein Mitarbeiter die Situation vor Ort in Augenschein nähme, um ihr anschließend ein Angebot zu unterbreiten. Das fand sie sehr zufriedenstellend.
Als Frau Helbing zu Hause ankam, wartete Heide vor ihrer Haustür.
»Wo warst du denn?«, fragte ihre Freundin vorwurfsvoll.
»Beim Schlüsseldienst. Ich brauche ein neues Schloss für meine Wohnungstür«, antwortete Frau Helbing.
»Ein neues Schloss? Ich denke, du beschäftigst dich mit dem Bild. Deshalb bin ich hier. Traudel hat mich eben angerufen und gefragt, ob du das Rätsel schon gelöst hast.«
»Nein«, sagte Frau Helbing kurz angebunden. »Ich hatte auch gar keine Zeit, mich darum zu kümmern, denn bei mir wurde eingebrochen.«
»Eingebrochen?!«, rief Heide entsetzt.
»Nicht so laut!«, zischte Frau Helbing und schloss die Haustür auf. »Komm erst mal rein.«
»Und das Bild?«, fragte Heide. »Es ist doch hoffentlich noch da?«
Nervös stieg sie hinter Frau Helbing die Treppe hoch.
»Es ist an einem sicheren Ort«, sagte Frau Helbing.
»Was ist denn bei dir ein sicherer Ort?«
Heides sarkastischer Unterton war nicht zu überhören.
»Dein Wäschekorb? Die Speisekammer? Oder hast du aus deinem Kühlschrank einen Tresor gebastelt?«
Sie machte eine abfällige Handbewegung.
»Du hast doch nicht mal ein Schließfach bei der Bank!«
Frau Helbing überhörte Heides Spötteleien und öffnete ihre Wohnungstür.
»Ich habe es ausgelagert«, sagte sie.
»Ausgelagert! Was soll das denn heißen?«
Heides Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
Frau Helbing schwieg und betrat ihren Flur.
Heide folgte ihr auf dem Fuß und sagte: »Hier sieht es gar nicht aus, als hätte jemand eingebrochen.«
»Ich hab ja auch schon aufgeräumt«, erklärte Frau Helbing.
Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Heide konnte ihre Nerven mit diesen penetranten Vorhaltungen manchmal arg strapazieren.
Nachdem Frau Helbing ihre Jacke ausgezogen hatte, ging sie in die Küche und stellte eine Pfanne auf den Herd.
»Willst du auch Spiegelei mit Speck?«, fragte sie Heide.
»Gerne.« Heide setzte sich an den Küchentisch. »Übrigens ist Karls Sohn aufgetaucht.«, sagte sie. »Franz heißt er.«
»Ach!«, sagte Frau Helbing interessiert.
Sie briet ein paar Scheiben Bauchspeck an und nahm vier Eier aus dem Kühlschrank.
»Erzähl mir, was du weißt.«
»Zusammen mit seinem Anwalt und einem Makler hat er heute Vormittag das Haus besichtigt. Und seine Mutter war auch dabei. Traudel hat es von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtet. Er wird wohl alles zu Geld machen, hört man. Auch die Bilder.«
»Die Bilder seines Vaters?«, fragte Frau Helbing überrascht.
»Ja. Das weiß Traudel von dem Kleidermann. Der ist von Franz beauftragt worden, alle Gemälde zu schätzen, die sich im Haus befinden. Wahrscheinlich wird er sie dann in seiner Galerie verkaufen.«
Frau Helbing schlug die Eier in die Pfanne.
»Bemerkenswert, dass dieser Franz sich wochenlang nicht blicken lässt und jetzt plötzlich auftaucht, kurz nachdem Jacques verstorben ist«, sagte sie. »Vielleicht stand Jacques ihm im Weg.«
»Vielleicht hat er Jacques auch aus dem Weg geräumt«, sagte Heide. »Und seine Mutter, diese Putzfrau, ist möglicherweise die mysteriöse Haushälterin, die dir die Tür geöffnet hat.«
»Warum sollten die beiden Jacques töten?«, sagte Frau Helbing. »Dieser Franz erbt doch alles.«
»Außer dem Vermeer«, bemerkte Heide sofort.
»Fraglich, ob er von diesem Bild wusste«, sagte Frau Helbing nachdenklich. »Guten Appetit.«
Sie stellte zwei Teller mit Spiegeleiern und Speck auf den Tisch und legte je eine Scheibe Brot daneben.
»Was ist so ein Haus eigentlich wert?«, wollte sie von ihrer Freundin wissen.
Heide wiegte den Kopf hin und her.
»Drei Millionen«, sagte sie schließlich. »Vielleicht auch vier. Die Immobilienpreise sind völlig verrückt. Und Traudel ist schon ganz nervös. Sie macht sich natürlich Sorgen, wer das Haus kauft. So eine Nachbarschaft kann auch ein Albtraum sein.«
»Ich bin sicher, wer vier Millionen übrig hat, passt in die Gegend«, sagte Frau Helbing.
Sie hatte nicht vor, Frau Hammerschmidt-Bingen zu bedauern, deren einzige Sorge es war, ob ihre neuen Nachbarn eine einwandfreie Sozialisierung und Gesinnung mitbringen würden. Hier ging es um einen Mord und nicht um die Befindlichkeiten versnobter Gesellschaftsschichten.
»Weißt du, wo Karl beerdigt ist?«, wollte sie von ihrer Freundin wissen.
»Klar«, sagte Heide. »Auf dem Ohlsdorfer Friedhof.«
»Das ist ja praktisch«, sagte Frau Helbing. »Dann kann ich ja vorbeischauen, wenn ich das nächste Mal Hermann besuche.«
»Du weißt doch, wo Renate liegt«, erklärte Heide den Weg. »Keine dreißig Meter weiter links hat Karl seine Ruhestätte. Das Grab kannst du nicht verfehlen, es steht eine große Katze auf dem Marmorstein.«
»Katze!«, rief Frau Helbing erschrocken. »Die habe ich ganz vergessen.«
Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Chagall lag mit geschlossenen Augen auf dem Ohrensessel und atmete gleichmäßig.
»Das ist also dein neuer Mitbewohner«, sagte Heide, die Frau Helbing gefolgt war.
Frau Helbing nickte.
»Ich mache mir Sorgen. Dieses Tier liegt nur da und schläft. Vielleicht sollte ich mal zur Tierärztin gehen.«
»Sei doch froh, dass er nicht den ganzen Tag an den Tapeten kratzt«, sagte Heide.
»Ich habe ihm ein Kratzbrett gekauft, aber ich glaube nicht, dass er es benutzt hat.«
Frau Helbing wollte noch etwas über die verrückte Zusammensetzung von Katzenfutter erzählen, als es an ihrer Tür klingelte.
»Ah, der Schlüsseldienst«, sagte sie und ging in den Flur.
Nachdem sie einen Panzerriegel bestellt hatte, der nach Aussage des Fachmanns einen hohen Einbruchsschutz durch eine Außenrosette mit Kernziehbohrschutz bot, und Heide gegangen war, setzte sich Frau Helbing erschöpft in ihren Ohrensessel. Chagall legte sie behutsam auf ihren Schoß und streichelte über seinen Rücken. Keine drei Minuten später schlummerte sie.