Frau Middelmann stand bereits vor ihrer Haustür, als Frau Helbing in der Rutschbahn ankam.

»Hallo!«, grüßte die Kommissarin gut gelaunt. »Ich habe schon vergeblich bei Ihnen geklingelt.«

Frau Helbing freute sich. Nicht nur weil es sie interessierte, wie das Verhör mit Madame X ausgegangen war, sondern auch, weil sie eine gewisse Sympathie für die junge Frau empfand, die unbeschwert ihre Arbeit und ein Interesse an den Mitmenschen unter einen Hut zu kriegen schien.

»Guten Tag«, sagte Frau Helbing. »Das ist ja schön, Sie zu sehen.«

Sie schloss die Tür auf und bat Frau Middelmann, in ihre Wohnung zu kommen.

»Ich wollte mir gerade ein Mittagessen zubereiten«, sagte sie. »Haben Sie Hunger?«

»Wenn Sie mich so fragen …«, antwortete die Kommissarin lächelnd. »Tatsächlich habe ich nicht mal gefrühstückt.«

»Das geht doch nicht«, wandte Frau Helbing energisch ein.

»Ein Frühstück ist das Fundament des Tages.«

Sie ging geradewegs in ihre Küche und bat Frau Middelmann, am Tisch Platz zu nehmen.

»Heute Morgen war ich auf dem Markt«, sagte sie.

»Wow«, antwortete die junge Frau. »Sie meinen so einen richtigen Wochenmarkt?«

Frau Helbing sah erstaunt auf.

»Natürlich«, sagte sie. »Gehen Sie nie auf den Markt?«

»Na ja.« Frau Middelmann druckste ein bisschen herum. »Tatsächlich bestelle ich mir oft etwas bei einem Lieferdienst.«

»Bei einem Lieferdienst?«, sagte Frau Helbig entsetzt.

Sie verabscheute dieses moderne Einkaufsverhalten zutiefst.

Lieferdienste waren ihrer Meinung nach nicht nur ein Indiz für die Tatsache, dass viele Menschen keine Zeit mehr hatten, ihr Essen selbst zuzubereiten, sondern auch für einen Hang zur Bequemlichkeit. Ein kultureller Verfall war das, und am Ende führte die industriell gefertigte Nahrung bei den Menschen zu Übergewicht und Zivilisationskrankheiten.

»Wir essen heute was frisch Gekochtes«, sagte sie und reichte Frau Middelmann eine Schürze. »Zusammen!«

Während Frau Middelmann Kartoffeln schälte, begann Frau Helbing, die Zutaten für Frikadellen in eine Schüssel zu geben. Ei, Petersilie, eine klein gehackte Zwiebel … – Frau Helbing erledigte das im Schlaf.

»Konnten Sie irgendetwas über die Privatdetektivin herausfinden?«, fragte sie nebenbei.

»Natürlich«, sagte Frau Middelmann. »Sandra Piel heißt sie. Ihre Detektei ist in Frankfurt, und spezialisiert hat sie sich auf das Aufspüren von Kunstwerken. Damit war sie in der Vergangenheit wohl auch recht erfolgreich.«

»Sie hat nicht mal zugegeben, eine Liste gesichtet zu haben.« Frau Middelmann schien verärgert. »Die Frau ist mit allen Wassern gewaschen.«

»Aber ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie sie die Aufzeichnungen durchgegangen ist«, sagte Frau Helbing entrüstet. »Da würde so manchem Kunstkenner die Kinnlade herunterklappen, hat sie gesagt.«

»Das mag sein. Aber Sie können nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich bei diesem Zettel auch um die sagenumwobene Liste gehandelt hat«, sagte Frau Middelmann. »Die Frau hat ein Stück Papier verbrannt, das haben wir alle gesehen. Es könnte sich aber auch um ein leeres DIN-A4-Blatt gehandelt haben. Zumindest behauptet sie das, und wer kann schon das Gegenteil beweisen? Außerdem befand sich Frau Piel auf einem öffentlich zugänglichen Friedhof. Das ist nicht strafbar.«

»Aber sie ist in meine Wohnung eingebrochen, und bei Jacques ist sie auch unaufgefordert eingedrungen und hat sich als Haushälterin ausgegeben!«, ereiferte sich Frau Helbing. »Dafür muss man sie doch zur Rechenschaft ziehen können.«

»Sie hat keine Spuren hinterlassen, Frau Helbing. Wie wollen Sie das beweisen?«

»Ich habe ihre Stimme wiedererkannt. Das kann ich aussagen.«

Frau Helbing wollte nicht lockerlassen.

»Das wird nicht reichen.« Frau Middelmann schüttelte den Kopf. »Die Fingerabdrücke auf der Tatwaffe stammen auch nicht von ihr. Frau Piel hat Herrn Tombasse

Nachdenklich formte Frau Helbing vier Hackklöße und legte sie auf einen Teller.

»Wer hat bloß Jacques mit dem Schürhaken erschlagen?«, sagte sie leise.

»Und warum?«, ergänzte Frau Middelmann.

Wie lange braucht die eigentlich, um ein paar Kartoffeln zu schälen?, fragte sich Frau Helbing. Geschwind putzte sie eine Handvoll Brechbohnen und zog zwei Töpfe und eine Pfanne aus dem Schrank.

»Es gibt da einen Kunsthändler, der heißt Smolarz«, sagte sie währenddessen.

»Ist mir bekannt«, sagte Frau Middelmann sofort.

»Der ist Ihnen bekannt?«, wunderte sich Frau Helbing.

»Sie erinnern sich, dass letzten Sonntag bei Herrn Tombasse eingebrochen wurde?«, half ihr Frau Middelmann auf die Sprünge. »Diese Tat hat Herr Smolarz in Auftrag gegeben.«

»Aber der war doch auf der Ausstellung«, sagte Frau Helbing. »Ich habe ihn dort gesehen.«

»Klar!«, sagte Frau Middelmann. »Das war sein Alibi. Während er dort anwesend war, sollte jemand Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge für ihn stehlen.«

»Woher wissen Sie das denn?«, fragte Frau Helbing.

»Dieser Kleinkriminelle, der dort eingestiegen ist, hat ein umfangreiches Geständnis abgelegt. Außerdem hatte er einen Geldschein in der Tasche, auf dem wir Fingerabdrücke von Smolarz gefunden haben.«

»Und diese Fingerabdrücke sind nicht zufällig auch auf dem Griff des Schürhakens?«, fragte Frau Helbing.

Sie reichte Frau Helbing die Schüssel mit den geschälten Kartoffeln.

»Fertig!«, sagte sie.

Endlich, dachte Frau Helbing.

»Schneiden Sie die Kartoffeln klein. Hier ist ein Topf. Wir machen Kartoffelbrei«, sagte sie.

»Machen Sie sich jeden Tag so eine Arbeit?«, fragte Frau Middelmann. »Nur um zu essen?«

»Kochen Sie denn nie?«, wollte Frau Helbing wissen.

»Doch. Mal Spaghetti mit Soße aus dem Glas oder ein Fischfilet.«

»Wie bereiten Sie den Fisch denn zu?«

»Na ja, das ist ja alles schon fertig in der Aluschale«, räumte Frau Middelmann ein und wirkte dabei ein bisschen verlegen.

Was die Leute heutzutage alles kochen nennen, dachte Frau Helbing. Vorgefertigte Speisen aufwärmen. Das hätte ja sogar Hermann hingekriegt.

Jetzt, wo Frau Middelmann hier war, gab es aber dringendere Themen als das Unvermögen einer ganzen Generation, sich aus frischen Zutaten eine Mahlzeit zu bereiten, fand Frau Helbing.

»Haben Sie schon den Sohn von Karl Schnelling kennengelernt?«, fragte sie.

»Es gab noch keinen Grund, ihn zu kontaktieren«, antwortete Frau Middelmann. »Kommt er Ihnen verdächtig vor?«

»Konkret kann ich ihm nichts vorwerfen. Er ist nur so … unangenehm. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.«

»Es gibt meiner Meinung nach viele unangenehme Menschen«, sagte Frau Middelmann mit einem Augenzwinkern. »Aber die Polizei kann unmöglich alle festnehmen und einsperren.«

Da hat sie wohl recht, dachte Frau Helbing und gab noch einen Löffel Salz zu den Bohnen. Bohnen versalzen ist eine Kunst, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und tatsächlich schien das Salz an Busch- oder Stangenbohnen abzuperlen, wenn man sie kochte, hatte Frau Helbing im Laufe der Jahrzehnte festgestellt.

»Ich habe ihn heute kennengelernt«, sagte Frau Helbing.

»Es geht ihm nur um Geld. Er hat überhaupt kein Interesse am Nachlass seines Vaters. Ist das nicht furchtbar?«

»Ich kann Sie verstehen«, entgegnete Frau Middelmann diplomatisch. »Aber die Menschen sind sehr verschieden. Es gibt nicht nur die Guten und die Bösen. Es gibt noch tausend Schattierungen dazwischen. Und nicht jeder hat ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern.«

»Das stimmt natürlich«, räumte Frau Helbing ein. »Aber vielleicht können Sie seine Fingerabdrücke mit denen auf der Tatwaffe abgleichen. Nur, um ihn als Täter ausschließen zu können.«

»Frau Helbing!«, sagte Frau Middelmann mit einem tadelnden Unterton. »Die Polizei kann nicht einfach so Fingerabdrücke nehmen und vergleichen. Da braucht es schon einen gut begründeten Verdacht, und der ist mit

Frau Helbing nickte resigniert.

»Wissen Sie eigentlich etwas über die Schuhe, deren Abdrücke auf dem Boden waren?«, wollte sie wissen.

»Herrenschuhe, Größe sechsundvierzig«, sagte Frau Middelmann. »Es gibt nur zwei Hersteller, die diese Art der Sohlen benutzen. Aber wirklich weiter bringt uns das nicht.«

»Sie können jetzt die Kartoffeln abgießen und stampfen«, sagte Frau Helbing. »Ein kleines Stück Butter, etwas Milch, Salz und eine Prise Muskatnuss nicht vergessen.«

»Schmeckt großartig«, sagte Frau Middelmann, als sie wenig später Frau Helbing gegenüber am Küchentisch saß.

»Sehen Sie«, sagte Frau Helbing lächelnd. »Die Mühe lohnt sich.«

»Haben Sie das Rezept aus einem Kochbuch?«

»Tatsächlich habe ich noch ein eigenes Kochbuch in der Schublade. Wissen Sie, zu meiner Zeit hat man so etwas nicht gekauft, sondern selbst geschrieben. Als junges Mädchen habe ich mir viel von meiner Mutter und meinen Tanten abgeguckt. Aber heute brauche ich das eigentlich nicht mehr.«

»Darf ich das Buch mal sehen?«, fragte Frau Middelmann.

»Natürlich.«

Frau Helbing zog die Schublade des Küchentischs auf und reichte ihr ein dickes Heft, das auf dem Umschlag Gebrauchsspuren und die ein oder andere Kleckerei aufwies.

Frau Middelmann begann sofort, darin zu blättern.

»Ja, früher hat man auf so etwas noch Wert gelegt.«

In Frau Helbings Stimme schwang Bedauern mit.

»Hinten sind auch Backrezepte«, sagte sie. »Tatsächlich musste ich immer wieder bei den Weihnachtsplätzchen und den Lebkuchen nachsehen. Die macht man ja nur einmal im Jahr.«

»Pflaumenkuchen steht hier auch drin«, sagte Frau Middelmann. »Darauf hätte ich ja Bock!«

»Die Idee hatte ich auch schon. Jetzt ist ja auch genau die richtige Jahreszeit dafür. Haben Sie den Baum bemerkt, der im Schnelling’schen Vorgarten steht?«

»Nein«, sagte Frau Middelmann und wirkte ratlos.

»Der hängt voller reifer Pflaumen. Die fallen schon auf den Boden.«

Frau Helbing schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: »Wieso sieht das denn keiner außer mir?«

»Und mit denen wollen Sie backen?«, fragte Frau Middelmann.

»Genau!«, bestätigte Frau Helbing. »Morgen werde ich Pflaumen pflücken. Natürlich nicht alle, da wäre ich ja tagelang in der Küche beschäftigt. Ich pflücke so viele, wie ich brauche. Wenn Sie wollen, dürfen Sie am Sonntag zum Kaffee vorbeikommen. Ich mache auch Sahne zum Kuchen.«

»Das klingt toll!«

Frau Middelmann schien sich wirklich zu freuen.

»Jetzt muss ich aber gehen«, sagte sie und stand auf. »Vielen Dank für das leckere Mittagessen. Sie haben übrigens noch sechs Tage.«

Frau Helbing verstand nicht, was die Kommissarin damit sagen wollte.

»Sie erinnern sich an die Wette, ob Sie es schaffen, innerhalb von zehn Tagen den Mordfall Tombasse aufzuklären? Ich habe auf Sie gesetzt. Heute ist Tag vier.«

»Ich kann gar nicht glauben, dass Sie sich an einer Wette beteiligen«, sagte Frau Helbing. »Glücksspiel ist eine verwerfliche Sache.«

»Ach!«, lachte Frau Middelmann. »Es geht hier nicht um große Summen. Mehr um den Spaß. Außerdem macht es Frau Schneider fuchsteufelswild, wenn wir im Kommissariat immer wieder auf Sie zu sprechen kommen.«

Frau Helbing konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Dann ist die Wette natürlich gerechtfertigt«, sagte sie. »Trotzdem habe ich gerade das Gefühl, Ihre Erwartungen nicht erfüllen zu können.«

Frau Helbing wirkte plötzlich niedergeschlagen.

»Es gibt einfach kein Motiv«, sagte sie. »Wer sollte denn diesen netten Friseur erschlagen? Der Mann hat sich bestimmt nichts zuschulden kommen lassen. Und er hatte so einen charmanten Akzent. Wussten Sie, dass die Franzosen kein H aussprechen können? Verrückt, oder?«

»Ich kann leider kein Französisch. Aber so etwas ist mir auch schon zu Ohren gekommen.«

»Frau ’elbing«, hat er gesagt. Sie versuchte, Jacques zu imitieren. »’elbing. Süß, nicht wahr?«

»Und doch hat ihm jemand kaltblütig den Schädel eingeschlagen«, sagte Frau Middelmann völlig ungerührt. »Man muss sich von diesen emotionalen Reaktionen lösen, um die Wahrheit zu sehen.«

»Wer?«, wollte Frau Middelmann wissen.

»Ach, das ist ein Ermittler aus einer englischen Krimireihe. Ganz altmodisch, so wie ich selbst«, wiegelte Frau Helbing ab. »Wahrscheinlich finden Sie solche Romane albern.«

»Überhaupt nicht!«, sagte Frau Middelmann. »Im Grunde ist es wie mit Gemälden. Es gibt eine enorme Bandbreite von klassisch bis sehr modern, und ich finde es ganz normal, dass man sich zu einem Stil besonders hingezogen fühlt. Wenn Sie also gerne altmodische Krimis lesen …«

»Ja, und wissen Sie was?«, sagte Frau Helbing spontan. »Ich werde mir gleich in der Bücherhalle Nachschub besorgen. Den Schinken da wollte ich sowieso wieder zurückgeben.«

Sie zeigte auf den Bildband über Jan Vermeer.

»Machen Sie das«, ermunterte sie Frau Middelmann und verabschiedete sich. Nicht, ohne sich noch mal für das Mittagessen zu bedanken.

Kochen kann sie nicht, aber was die alles weiß, dachte Frau Helbing, nachdem die Kommissarin gegangen war.

Bevor sie ihr altes Kochbuch wieder in die Schublade legte, blätterte sie noch ein bisschen darin. Obwohl sie satt war, hatte sie plötzlich unbändige Lust auf Steckrübeneintopf. Der Herbst ist eigentlich die beste Zeit zum Kochen, überlegte sie.