»Alle?!«, fragte Frau Helbing und riss bestürzt die Augen auf.

»Ja«, bestätigte Frau Vogel, die in der Bücherhalle angestellt war und Frau Helbing seit Jahren kannte. »Mittlerweile haben Sie alle Bände der Inspektor-Murphy-Reihe gelesen.«

»Das ist aber schade«, sagte Frau Helbing. »Diesen Ermittler hatte ich ganz besonders ins Herz geschlossen. Ich mag es ja ein bisschen altmodisch, wie Sie wissen. Inspektor Murphy hatte kein Handy, sondern ein Telefon mit Wählscheibe. Und gerne geraucht hat er auch. Es war alles so wie früher. So heimelig.«

Sie machte einen wirklich enttäuschten Eindruck.

»Sagen Sie mal …« Frau Vogel zog die Stirn in Falten. »Haben Sie schon mal einen Maigret ausgeliehen?«

Frau Helbing schüttelte den Kopf.

»Das gibt es doch gar nicht«, sagte Frau Vogel verwundert.

Sie bog in den zweiten Gang mit den Kriminalromanen ein, ging die Regale entlang, bis sie vor dem Bereich mit dem Buchstaben S stand, und zog nach kurzer Suche ein Buch heraus.

»Hier, Simenon!«, rief sie. »Georges Simenon ist der Autor. Der Kommissar in den Geschichten heißt Jules Maigret. Der wird Ihnen gefallen, da bin ich mir sicher.

Frau Helbing nahm das Buch in die Hand und betrachtete interessiert den Titel.

»Wie haben Sie das eben ausgesprochen?«, wollte sie wissen.

»Megrä«, artikulierte Frau Vogel überdeutlich.

»Ach, die Franzosen«, lächelte Frau Helbing nachsichtig. »Warum schreiben sie dann nicht einfach Megrä? Wussten Sie, dass die auch kein H aussprechen können?«

»Ich kann kein Französisch«, sagte Frau Vogel. »Aber jede Sprache hat ihre Eigenheiten.«

»Da haben Sie wohl recht«, sagte Frau Helbing.

Sie mochte Frau Vogel. Oft schon hatte ihr die Mitarbeiterin der Bücherhalle einen guten Krimi empfohlen und manchmal auch von einem Buch abgeraten, weil die Handlung zu blutrünstig oder zu verworren sei. Diese Frau schien die Vorlieben von all ihren Kunden zu kennen. Und nicht nur das. Sie musste auch wahnsinnig viel gelesen haben.

»Wissen Sie was?«, sagte Frau Helbing. »Ich nehme gleich zwei Bände mit. Wenn Sie mir diesen Kommissar so nett empfehlen.«

Voller Vorfreude auf den neuen Lesestoff machte sich Frau Helbing auf den Heimweg. Gerade überquerte sie die Grindelallee auf Höhe der Hallerstraße, als sie Jacques auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah. Frau Helbing blieb stehen und starrte den Mann an, den sie am Montag in seinem eigenen Blut liegend aufgefunden hatte

Sie war plötzlich so aufgewühlt, dass ihre linke Hand zu zittern begann.

Du meine Güte, dachte sie, werde ich jetzt verrückt? Noch nie hatte sie einen Untoten gesehen.

Frau Helbing heftete sich an seine Fersen und beobachtete ihn. Obwohl sie Jacques nur einmal lebend gesehen hatte, hatte sie seine schlanke Statur mit den langen Gliedmaßen deutlich vor Augen. Nach wenigen hundert Metern verlangsamte er seinen Gang und betrat das Hotel Eppstein.

 

»Heide!«, rief Frau Helbing ins Telefon, nachdem sie zu Hause angekommen war und sofort ihre Freundin angerufen hatte. »Auch wenn du mich für bekloppt hältst: Eben habe ich Jacques gesehen. Auf der anderen Straßenseite. Ich bin mir ganz sicher. Du hast keine Ahnung, wie aufgeregt ich bin!«

»Ich kann dir das erklären«, sagte Heide ruhig. »Es gibt Neuigkeiten.«

»Neuigkeiten?«

Frau Helbing hatte geglaubt, auf dem Laufenden zu sein, aber kaum war sie eine halbe Stunde in der Bücherhalle verschwunden, schienen sich die Ereignisse überschlagen zu haben.

»Was für Neuigkeiten?«, fragte sie fassungslos.

»Du hast keine Halluzinationen«, beruhigte Heide ihre Freundin. »Und du bist auch nicht verrückt. Der Mann, den du gesehen hast, heißt Louis Tombasse und ist der Zwillingsbruder von Jacques.«

»Er ist in der Stadt, weil er sich um die Überführung seines Bruders kümmert. Witzig, dass er dir über den Weg gelaufen ist. Vielleicht kam er gerade vom Bestatter zurück.«

»Und woher weißt du das?«, wollte Frau Helbing wissen.

»Von Traudel natürlich. Und ich weiß noch viel mehr.«

Heide legte eine Pause ein, um ihre Freundin auf die Folter zu spannen, und es gelang ihr vorzüglich.

»Was weißt du denn noch?!«, rief Frau Helbing ungeduldig ins Telefon.

»Das Haus, in dem Karl und Jacques gewohnt haben, gehörte gar nicht Karl.«

»Was?!«

Frau Helbing wurde immer nervöser.

»Also es hat Karl mal gehört«, setzte Heide zu einer Erklärung an. »Bis vor zwölf Jahren. Aber dann hat er es einer Stiftung geschenkt.«

»Er hat das Haus verschenkt? Und das weißt du genau?«

»Ja!«

Heide schien vergnügt zu sein.

»Traudel hat Kontakt mit dem Makler aufgenommen. Sie hatte sich dazu entschlossen, das Nachbarhaus selbst zu kaufen, damit kein Pöbel dort einzieht. Du weißt schon.«

Frau Helbing wusste, was ihre Freundin meinte, wollte das aber nicht kommentieren.

»Der Makler hatte aber heute Morgen Einblick in das Grundbuch und festgestellt, dass er dieses Haus gar nicht anbieten darf«, fuhr Heide fort. »Und das, obwohl er von Karls Sohn beauftragt worden war.«

»Verstehst du? Karl hat es verschenkt, um es dem Zugriff seines Sohnes zu entziehen. Natürlich hatte er sich ein lebenslanges Nutzungsrecht eintragen lassen, aber jetzt gehört es der Stiftung, und dieser Franz geht völlig leer aus.«

»Oha!«

Frau Helbing musste diese Informationen erst einmal sacken lassen. Sie atmete tief durch.

»Der Herr Schott ist jetzt bestimmt sauer«, sagte sie.

»Sauer? Der tobt! Traudel hat eben über den Gartenzaun hinweg gehört, wie er den Kleidermann angeschrien hat. Der hat jetzt nur noch die Bilder und die Möbel. Und von denen haben wahrscheinlich einige Jacques gehört. Jedenfalls behauptet das sein Bruder, und der hat offenbar einen Anwalt eingeschaltet, um das zu klären. Ich sage dir: Das ist Pöseldorf at its best!«

»Und Chagall?«, fragte Frau Helbing beunruhigt. Sie hatte plötzlich Angst, man könnte ihr den Kater wieder wegnehmen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Heide. »Diese alte Katze will bestimmt keiner haben.«

»Karl hat sie aber offensichtlich geliebt«, bemerkte Frau Helbing. »Schließlich hat er sie auf seinem Grabstein verewigt.«

»Das habe ich auch schon gehört«, sagte Heide. »Mit einem Gewinde im Hintern.«

Heide kicherte, als hätte sie bereits zwei Gläser Sekt getrunken.

»Glückwunsch übrigens, dass du die Liste gefunden hast«, sagte Heide anerkennend.

»Ach, ich finde das gar nicht schlimm. Karl ist tot, und wir behalten ihn in guter Erinnerung. Wenn in irgendwelchen Galerien Fälschungen von ihm hängen, warum nicht? Außerdem ist jetzt keiner mehr hinter diesem Vermeer her. Am besten schließt du mit dem Fall ab.«

»Mit dem Fall abschließen?«, fragte Frau Helbing empört. »Es geht hier nicht um ein paar Bilder, die in Galerien hängen, Heide. Hier geht es nach wie vor um einen Mordfall!«

Frau Helbing konnte gar nicht glauben, dass ihre Freundin dem Tod Jacques’ keine weitere Bedeutung beimaß.

»Schon«, sagte Heide salopp. »Den Mörder wirst du auch noch finden. Da fällt mir ein, dass ich mir einen neuen Friseur suchen muss.«

Frau Helbing war sprachlos. Heides Ignoranz, wenn es um andere Menschen ging, war manchmal erschreckend.

»Das ist natürlich wichtig«, sagte Frau Helbing mit einem ironischen Unterton.

Heide merkte das aber nicht. Sie war jetzt kurz angebunden. Eine Einladung zu einem Hauskonzert bei Freunden habe sie heute Abend noch und müsse sich jetzt langsam in Schale werfen, sagte sie. Einige Bankiers, mit denen ihr Mann noch zusammengearbeitet hatte, würden zugegen sein. Und auf dem Programm stünden Nocturnes von Chopin. Bei der Erwähnung dieses Kunstgenusses kam sie ins Schwärmen.

Frau Helbing rollte mit den Augen. Wie sie so lange mit dieser Frau befreundet sein konnte, war ihr manchmal ein Rätsel. Heide hatte schon immer andere Interessen gehabt

Nachdem Frau Helbing das Telefonat beendet hatte, stöhnte sie. So viele neue Informationen hatte sie zu verarbeiten. Frau Helbing beschloss zu bügeln. Bügeln hatte etwas Meditatives. Es beruhigte Geist und Seele. Früher hatte sie oft stundenlang die Wäsche geglättet. Allein die Hemden von Hermann füllten immer einen ganzen Wäschekorb. Dazu noch die Schürzen und Kittel aus der Schlachterei. Jetzt hatte sie nach der Wäsche meist nicht mehr als ein paar Blusen und den ein oder anderen Rock zu bearbeiten. Dazu ab und zu eine Tischdecke oder einen Vorhang. Das war schnell erledigt.

Frau Helbing bügelte stets auf dem Küchentisch. Das hatte ihre Mutter schon so gemacht. Erst legte sie eine zusammengefaltete Wolldecke auf die Tischplatte und darauf ein feineres Tuch in vier Lagen. Seit sie ein Dampfbügeleisen besaß, konnte sie sofort loslegen. Davor hatte sie die Wäsche immer mit ein wenig Wasser bespritzt und eine Viertelstunde abgewartet. Ein durchgetrockneter Stoff war praktisch nicht glatt zu kriegen.

Während sie nun mit System das erste Kleidungsstück in Angriff nahm, begann sie, ihre Gedanken zu sortieren.

Karl schien ein extremer Geheimniskrämer gewesen zu sein. Nicht nur dass er ein Liebhaber von Rätseln gewesen war, ganz nebenbei hatte er Fälschungen angefertigt

»Ich habe den Verdacht, er hat die krummen Dinger mit diesem Smolarz gedreht«, hatte Herr Kleidermann ihr gegenüber gesagt, erinnerte sich Frau Helbing. Und er hatte nicht begeistert, sondern verärgert geklungen. Wer weiß, wie tief dieser Smolarz im Sumpf des Verbrechens steckt?, dachte Frau Helbing. Immerhin hatte er jemanden angeheuert, um bei Jacques einzubrechen. Das hatte Frau Middelmann gesagt. Und natürlich könnte er auch jemanden beauftragt haben, Jacques zu töten.

Da fiel Frau Helbing wieder ein Fall ein, bei dem sie in einem Altersheim ermittelt hatte. Die Heimleiterin war von einem Auftragskiller erschossen worden. Das ließ Frau Helbing noch immer frösteln, obwohl der Mann dank ihrer Hilfe nun im Gefängnis saß. Der hatte damals aber eine Pistole mit Schalldämpfer benutzt. So ein Profi schlug nicht mit einem Schürhaken zu. Der plante seine Tat akribisch. Nein, Jacques war im Affekt erschlagen worden, da war sich Frau Helbing sicher. Und zwar kurz nachdem sie mit ihm telefoniert hatte.

»Na, mein Schatz!«, sagte Frau Helbing, als Chagall ihr plötzlich um die Beine strich. »Hast du schon wieder Hunger?«

»Wusstest du, dass Jacques einen Zwillingsbruder hatte?«, fragte Frau Helbing, während sie weiterbügelte.

Nicht dass sie eine Antwort erwartete, aber die Anwesenheit des Katers gab ihr die Gelegenheit, ihre Gedanken auszusprechen, ohne sich dabei verrückt zu fühlen.

»Den muss ich unbedingt kennenlernen. Vielleicht kann er einen wichtigen Hinweis geben, wer seinem Bruder nach dem Leben getrachtet haben könnte. Stell dir vor, du hättest einen Zwillingsbruder, Chagall. Ich hatte mal Zwillinge als Kundinnen. Die sahen nicht nur gleich aus, die haben auch die gleiche Wurst gegessen. Ich habe die fast immer verwechselt, wenn eine in die Schlachterei kam. Über Jahre.«

Frau Helbing hielt kurz inne und dachte nach.

»Vielleicht wurde Jacques auch verwechselt und für Louis gehalten. Was meinst du?«

Der Kater antwortete nicht. Das war zu erwarten gewesen. Trotzdem stöhnte Frau Helbing auf.

»Manchmal qualmt das Hirn, wenn man so viel nachdenkt«, schimpfte sie.

Sie legte die gebügelte Wäsche auf einen Stapel und zog den Stecker aus der Dose.

»Feierabend!«, rief sie entschlossen.

Dann beugte sie sich zu Chagall hinab und flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt machen wir zwei was Schönes. Wir setzen uns in den Ohrensessel und lesen einen Krimi von diesem Maigret. Ich mache mir noch schnell ein paar Schnittchen.«

»Mal sehen, ob uns das gefällt«, sagte sie und schlug gespannt die erste Seite des Buchs auf.