Frau Helbing verharrte mehrere Sekunden lang in einer Schreckstarre. Herr Kleidermann dagegen reagierte schnell. Er hatte sich kurz vor der Küchentür umgedreht und dabei Frau Helbings entsetzten Blick nicht nur bemerkt, sondern auch umgehend richtig gedeutet. Mit ein paar großen Schritten war er zum Eingang geeilt, hatte die Haustür zugedrückt und von innen abgeschlossen. Dann war es ganz still. Frau Helbing wollte etwas sagen, aber sie öffnete nur den Mund und brachte keinen Ton heraus. Es war Herr Kleidermann, der schließlich das Schweigen brach.

»Ich hätte die Schuhe wegwerfen sollen«, sagte er kopfschüttelnd.

Frau Helbing blickte noch immer fassungslos auf die Fußabdrücke.

»Ich kann es nicht glauben«, sagte sie. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

Ihre Stimme klang heiser. Sie hatte eben schon das Gefühl gehabt, etwas trinken zu müssen, aber jetzt fühlte sich ihr Mund ausgedörrt und ihre Zunge verschrumpelt an.

»Ich brauche ein Glas Wasser«, sagte sie und fügte mit einem Blick auf die Küchentür hinzu: »Darf ich?«

»Bitte«, sagte Herr Kleidermann höflich.

Was auch immer Herr Kleidermann an Verbrechen in

Sie füllte sich am Spülbecken ein Glas mit Leitungswasser und setzte sich an den Küchentisch.

Herr Kleidermann nahm ebenfalls Platz.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte Frau Helbing direkt. »Ausgerechnet Sie?«

»Es tut mir leid.«

Herr Kleidermann sprach leise. Er flüsterte fast.

Frau Helbing beobachtete ihn. Die Erinnerung an die Tat schien ihn aufzuwühlen. Nervös bewegte er seine Hände, knetete in schneller Abfolge seine Finger, ballte sie zu Fäusten und präsentierte dann die Handflächen, als wollte er alle Schuld von sich weisen.

»Ich habe es nicht geplant.«

Frau Helbing glaubte ihm das sogar. Herr Kleidermann war kein Mörder, der vorsätzlich jemanden tötete. Und doch hatte er Jacques erschlagen.

»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte Frau Helbing und zwang sich, dabei besonders ruhig zu sprechen, um ihre eigene Aufregung zu überspielen und Herrn Kleidermann zu einem umfassenden Geständnis zu animieren.

»Ging es um das Bild?«, fragte sie.

»Dieses Bild!«, zischte Herr Kleidermann wütend. »Seit Karls Tod drehte sich alles nur noch um dieses Bild. Die Kunstszene war elektrisiert. Es hatte immer schon Gerüchte gegeben, Karl hätte das ein oder andere Gemälde unter falschem Namen in Umlauf gebracht, aber jetzt glaubten alle, das Geheimnis um die Fälschungen werde endlich gelüftet. Eine Sensation stand im Raum, und natürlich wollte jeder vorab etwas wissen oder zumindest

Herr Kleidermann stand auf und ging erregt ein paar Schritte hin und her.

»Weil Sie mit Karl gut befreundet waren«, soufflierte Frau Helbing, die Herrn Kleidermanns Redefluss in Gang halten wollte.

»Karl war mein Freund. Mein einziger Freund«, bestätigte Herr Kleidermann. »Und ich fühlte mich verpflichtet, seinen Ruf zu bewahren. Er war ein begnadeter Maler, kein Krimineller.«

»Das kann ich alles verstehen«, sagte Frau Helbing. »Aber was hat das mit Jacques zu tun? Jacques hat bestimmt nicht schlecht über Karl geredet.«

»Auf keinen Fall!«, bestätigte Herr Kleidermann Frau Helbings Vermutung. »Jacques hat Karl bewundert. Geliebt und bewundert.«

Er machte eine Pause. Dann sagte er mit finsterem Blick: »Aber er hatte das verdammte Bild.«

»Und er versuchte, hinter das Geheimnis des Bildes zu kommen«, brachte Frau Helbing den Gedanken zu Ende.

»So wie viele andere auch«, sagte Herr Kleidermann. »Was glauben Sie, was der Täter gesucht hat, der am letzten Sonntag bei Jacques eingebrochen ist?«

»Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge«, sagte Frau Helbing. »Das hat mir die Polizei bestätigt.«

Herr Kleidermann setzte sich wieder an den Küchentisch. »Mir wurde klar, dass dieses Gemälde ein Problem darstellte. Und deshalb bin ich am nächsten Tag zu Jacques gegangen. Ich wollte ihn davon überzeugen, das Bild zu vernichten.«

»Zu vernichten?!« Jetzt war es an Frau Helbing, die Stimme zu heben. »Auch wenn es nur eine Kopie ist, kann man dieses wunderbare Gemälde doch nicht einfach zerstören. Wissen Sie, dass Karl für dieses Werk Lapislazuli-Blau und Weißpigmente aus Blei benutzt hat?«

Frau Helbing erinnerte sich, dass Herr Lattenkamm ihr gegenüber so etwas erwähnt hatte.

»Karl war ein verrückter Perfektionist«, sagte Herr Kleidermann. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wissen Sie, was einen wahren Künstler ausmacht?«

Darüber hatte sich Frau Helbing noch nie Gedanken gemacht. Sie überlegte kurz.

»Eine besondere Idee zu haben?«, sagte sie.

»Ideen haben viele«, sagte Herr Kleidermann. Er machte eine abfällige Handbewegung. »Die Idee allein ist nichts. Es braucht einen manischen Drang, die Idee auch umzusetzen und zu vollenden. Einen unbeirrten Willen, ein Werk entstehen zu lassen. Entgegen aller Widerstände. Es braucht einen Zwang zur Perfektion. Es ist das eine, die Kunst zu begreifen, aber etwas ganz anderes, sie auszuüben. Bis zur Selbstzerfleischung. Der wahre Künstler kann nicht anders, als zu tun, was er zu tun hat.« Herr Kleidermann hatte ganz rote Ohren. Er glühte innerlich. »Verstehen Sie, es ist vorgegeben! Eine vorgegebene Lebensaufgabe!«

»Van Gogh hat sie erfüllt!«, rief er. »Mozart hat sie erfüllt! Georg Büchner hat sie erfüllt! Das waren Visionäre, Besessene, jung gestorbene Genies!«

Mit bohrenden Augen sah er Frau Helbing an. »Verstehen Sie das?«

»Es fällt mir schwer«, gestand Frau Helbing. »Ich habe vierzig Jahre lang hinter der Wursttheke gestanden. Was weiß ich denn von der Kunst?«

Sie trank noch einen Schluck Wasser.

»Jacques wollte das Bild aber nicht vernichten«, knüpfte Frau Helbing an den für sie interessanten Teil des Gesprächs an.

»Nein, er war stur«, sagte Herr Kleidermann. »Er hat nicht verstanden, welchen Schaden es anrichten würde, käme ans Licht, dass Karl Fälschungen in Umlauf gebracht hat. Er bestand darauf, das Rätsel des Vermeers lösen zu wollen, so wie Karl es ihm aufgetragen hatte. Schließlich bin ich ins Wohnzimmer gegangen, um die Sache selbst in die Hand zu nehmen.«

»Sie wollten ernsthaft das Bild zerstören?«, fragte Frau Helbing fassungslos.

Herr Kleidermann nickte.

»Ja, aber es hing nicht mehr über dem Sofa«, sagte er. »Es war weg.«

»Und Jacques wollte ihnen natürlich nicht verraten, wo er es versteckt hatte«, mutmaßte Frau Helbing.

»Nein, er hat gesagt, ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern und ihn in Ruhe lassen. Ich wollte es ihm abkaufen, aber er hat nur gelacht.« Herr Kleidermann war

»Und dann haben Sie im Affekt zugeschlagen«, sagte Frau Helbing.

»Ich hatte für einen Moment die Kontrolle über mich verloren«, flüsterte Herr Kleidermann. »Nur für einen kurzen Moment.«

Er schien seine Tat wirklich zu bedauern.

»Als Jacques stürzte, tat es mir schon leid«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.«

»Und als Ihnen klar wurde, dass Sie Jacques getötet haben, sind Sie Hals über Kopf weggerannt«, konstatierte Frau Helbing. »Geflohen. Die Spur aus Blut haben Sie gar nicht bemerkt. Und dass Ihre Fingerabdrücke auf dem Schürhaken sind, war Ihnen in diesem Moment auch nicht bewusst. Sogar die Haustür haben Sie offen stehen lassen.«

Herr Kleidermann widersprach nicht. Stumpf starrte er vor sich hin.

»Aber niemand hat mich beim Verlassen des Hauses gesehen«, sagte er nach einer Weile. »Natürlich sind meine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe, aber die Polizei verdächtigt mich nicht. Es gibt keine Spur, die zu mir führen würde. Wenn ich also die Abdrücke im Flur wegwische und die Schuhe entsorge …«

Er ließ den Satz unvollendet. Es entstand eine Stille, die Frau Helbing als sehr unangenehm empfand.

»Und was ist mit mir?«, fragte sie zaghaft. »Wollen Sie mich auch entsorgen?«

»Wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass Sie den

»Ich mache mich doch nicht zur Komplizin«, sagte Frau Helbing empört.

Die Idee, erst einmal zuzustimmen, um sich aus dieser gefährlichen Situation zu befreien, kam ihr nicht in den Sinn. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich an Recht und Gesetz gehalten. Nie hatte sie jemanden hintergangen oder übervorteilt. Im Geschäft wie im Privaten. Sie war durch und durch rechtschaffen.

»Aufrichtige Menschen sind selten geworden«, sagte Herr Kleidermann anerkennend. »Und doch machen Sie die Lage dadurch unnötig kompliziert.«

»Ich mache nichts kompliziert«, sagte Frau Helbing bestimmt. »Sie allein tragen die Verantwortung für diese Situation. Was halten Sie davon, sich der Polizei zu stellen? Das war Totschlag, kein Mord, und wenn Sie kooperativ und geständig sind, können Sie auf eine mildere Strafe hoffen.«

»Auf keinen Fall!«, rief Herr Kleidermann. »Ich gehe nicht in den Knast!«

Frau Helbing wiegte den Kopf hin und her.

»Sie werden diese Schuld ein Leben lang mit sich herumschleppen«, gab sie zu bedenken. »An so etwas sind schon viele Menschen zerbrochen. Für die Tat zu büßen, wäre bestimmt gut für Ihr Seelenheil. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?«

»Ich bin weit über sechzig, Frau Helbing. Ich werde die letzten Jahre meines Lebens nicht in einer Zelle sitzen.«

Herr Kleidermann war offensichtlich nicht bereit, Ratschläge anzunehmen.

»Seien Sie nicht albern.« Herr Kleidermann reagierte ungehalten. »Sie wissen, dass ich das nicht kann.«

»Das beruhigt mich irgendwie«, sagte Frau Helbing. Und sie meinte das ganz aufrichtig.

Herr Kleidermann stand auf und lief nervös in der Küche hin und her. Er schien intensiv nachzudenken. Auf seiner Stirn bildeten sich beachtliche Falten, und er presste immer wieder angespannt seine Kiefer aufeinander. Frau Helbing wartete geduldig.

»Ich hab’s!«, rief er schließlich.

»Jetzt bin ich aber gespannt!«, sagte Frau Helbing.

»Louis war hier und hat seine Fotos gemacht, und Franz kommt frühestens am Montag wieder hierher«, sagte Herr Kleidermann aufgeregt. »Das heißt, ich habe den restlichen Samstag und den ganzen Sonntag Zeit.«

»Wozu?«, fragte Frau Helbing. »Wollen Sie kochen?«

Herr Kleidermann lachte kurz auf.

»Kochen? Nein, ich werde verschwinden. Verschwinden wie der große Houdini.«

»Sie wollen also abhauen?«, sagte Frau Helbing.

»Abhauen klingt so peinlich«, sagte Herr Kleidermann. »Sagen wir, ich bringe mich in Sicherheit.«

»Und ich soll bis dahin schweigen?«

»Es wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, wenn Sie geknebelt an einen Küchenstuhl gefesselt sind.«

Frau Helbing blickte entrüstet auf.

»Sie wollen mich ernsthaft am Küchenstuhl festbinden? Eine alte Frau? In einer so unkomfortablen Stellung?«

»Ich dachte, diese Möglichkeit hätten Sie bereits ausgeschlossen«, sagte Frau Helbing mit einem Blick auf die kapitale Klinge.

»Wer mit dem Rücken zur Wand steht, ist zu vielem fähig«, sagte Herr Kleidermann entschlossen.

»Haben Sie überhaupt ein Seil?«, fragte Frau Helbing.

»Wir nehmen Geschirrtücher«, sagte Herr Kleidermann und öffnete die Tür eines Küchenschranks.

»Ich bitte Sie jetzt, weder zu schreien noch sich zur Wehr zu setzen.«

Frau Helbing hörte aus seiner Stimme heraus, dass es ihm mit der Idee zu fliehen ernst war.

Tolle Geschirrtücher, dachte sie, als Herr Kleidermann das erste Exemplar entfaltete. Aus Leinen, klassisch kariert und ordentlich gebügelt.

Herr Kleidermann fesselte ihre Unterschenkel an die Stuhlbeine und die Arme an die Rückenlehne. Dann nahm er noch ein Tuch, zog es Frau Helbing fest über den Mund und machte einen doppelten Knoten an ihrem Hinterkopf.

»Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten«, sagte er höflich. »Ich bedauere das zutiefst, aber es lässt sich nicht vermeiden. Wir werden uns übrigens nicht wiedersehen.«

Frau Helbing spürte, dass ihm die ganze Situation unangenehm war. Bedrückt verließ er die Küche und schloss die Tür von außen. Vielleicht hätte ich noch mal zur Toilette gehen sollen, dachte sie, als Herr Kleidermann gegangen war.

Herr Kleidermann hatte gesagt: »Franz kommt frühestens am Montag wieder hierher.« Frühestens! Es könnte also auch sein, dass sie hier bis Dienstag sitzen musste. Oder sogar noch länger. Wer wusste schon, wann wieder ein Mensch dieses Haus betreten würde. Vielleicht war sie bis dahin mumifiziert. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Chagall!, dachte sie plötzlich. Du meine Güte! Der arme Kerl würde auch Hunger leiden. Und Durst! Mit aller Kraft riss Frau Helbing an ihren Fesseln. Sie wand sich auf der Sitzfläche hin und her, biss auf den Knebel in ihrem Mund, und dann zog und zerrte sie an den Geschirrtüchern, bis ihre Halsadern anschwollen.

Es war aussichtslos. Nach wenigen Minuten gab sie erschöpft auf. Herr Kleidermann hatte sie wirklich gekonnt an diesem Stuhl fixiert. Es blieb ihr nun nichts anderes übrig, als zu warten.

Immer wieder warf sie einen Blick auf die Wanduhr. Wieso verfliegen die Stunden eigentlich manchmal?, fragte sie sich. Im Moment jedenfalls schien die Zeit narkotisiert zu sein. So einen Minutenzeiger zu beobachten konnte einen ganz nervös werden lassen. Während Frau Helbing überlegte, ob das Uhrwerk vielleicht mal geölt werden musste, hörte sie plötzlich Geräusche im Garten. Irgendjemand schlich ums Haus.

Frau Helbing hätte gerne laut gerufen, aber mit einem Tuch im Mund war das unmöglich.

»Frau Helbing!«, hörte sie eine vertraute Stimme.

Und dann sah sie Frau Middelmann, die durch das Küchenfenster blickte.