»Na, dann lasse ich Sie mal allein«, sagte Herr Kleidermann zum Abschied. »Ich hoffe, Sie haben eine gute Entscheidung getroffen.«

Er war so nett gewesen, Frau Helbing mit seinem Auto nach Hause zu fahren. Nicht weil der Weg lang oder beschwerlich gewesen wäre, sondern weil ein Katzenklo, ein halber Sack Streu, fünf Dosen Nassfutter und natürlich Chagall, der in einer kleinen Stofftasche steckte, transportiert werden mussten. Herr Kleidermann hatte die schweren Sachen sogar bereitwillig in die Wohnung im zweiten Stock getragen. Frau Helbing war dafür sehr dankbar gewesen und revanchierte sich direkt mit einem großen Glas selbst gemachter Eisbeinsülze.

Der Kater hatte erst neugierig die Wohnung inspiziert und lag jetzt auf Frau Helbings Ohrensessel.

»Eigentlich ist das mein Platz«, sagte sie mit gespielter Empörung in der Stimme, als sie ins Wohnzimmer zurückkam.

Frau Helbing wollte ihn aber nicht verscheuchen. Er sollte sich bei ihr wohlfühlen. Schließlich hatte sie dafür gekämpft, dass Chagall nicht im Tierheim gelandet war. Drei Telefonate musste der Polizist vom Tatort aus führen, bis er schließlich genervt eingewilligt hatte.

»Bitte gehen Sie mit der Katze«, hatte er gesagt, »aber gehen Sie!«

»Franzi!«, rief Heide aufgebracht, nachdem Frau Helbing sich gemeldet hatte. »Habe ich richtig gehört? Du hast Jacques gefunden? Tot? Mit eingeschlagenem Schädel?«

»Das stimmt«, sagte Frau Helbing. »Und keine zwei Stunden vorher habe ich noch mit ihm telefoniert.«

»Wahnsinn!«, sagte Heide. »Pass auf! Traudel hat uns für morgen Nachmittag zum Kaffee eingeladen. Fünfzehn Uhr dreißig. Sei bitte pünktlich.«

»Wieso bin ich denn bei dieser Frau zum Kaffee eingeladen?«, fragte Frau Helbing. »Ich kenne die doch gar nicht.«

»Schätzchen!« Heide lachte gekünstelt auf. »Traudel will die ganze Geschichte hören. Aus erster Hand natürlich, verstehst du?«

»Werde ich vielleicht mal gefragt, ob ich dieser Traudel die Geschichte auch erzählen will?«

Frau Helbing klang verärgert.

»Hallo?«, sagte Heide fassungslos. »Wir sind bei Edeltraut Hammerschmidt-Bingen eingeladen! Es gibt Leute in Pöseldorf, die dafür eine Niere spenden würden.«

Frau Helbing verdrehte die Augen.

»Gut, ich komme«, sagte sie. »Aber ich will auch ein paar Fragen stellen. Diese Traudel kann mir bestimmt einiges über Jacques erzählen. Mir sind nämlich ein paar Ungereimtheiten aufgefallen und schließlich gilt es, einen Mord aufzuklären.«

»Natürlich wirst du wieder einen Mord aufklären, meine Liebe«, sagte Heide.

Sie klang dabei überhaupt nicht spöttisch. Früher hatte sich Heide oft abwertend über das detektivische Interesse

»Traudel redet auch gerne. Es wird nicht schwer sein, an Informationen zu kommen. Außerdem haben wir den ganzen Nachmittag Zeit.«

»Oh«, sagte Frau Helbing plötzlich. »Ich weiß gar nicht, wie lange ich die Katze allein lassen kann.«

»Welche Katze?«, rief Heide irritiert.

»Ich habe den Kater von Karl und Jacques zu mir genommen«, erklärte Frau Helbing. »Stell dir mal vor, die Polizei wollte den armen Kerl ins Tierheim bringen.«

»Franzi!«, rief Heide fassungslos. »Bist du wahnsinnig? So ein Vieh nimmt dir die ganze Wohnung auseinander.«

»Ach was, im Moment schläft er friedlich auf meinem Sessel«, sagte Frau Helbing. »Ich glaube, er fühlt sich hier ganz wohl.«

Sicherheitshalber warf sie einen Blick ins Wohnzimmer. Chagall hatte die Augen geschlossen. Seine Bauchdecke hob und senkte sich rhythmisch.

»Einen komischen Namen hat er«, sagte sie. »Chagall.«

»Chagall war ein Maler«, erklärte Heide. »Ein Expressionist.«

Frau Helbing wollte gar nicht nachfragen, was das schon wieder heißen sollte. Das würde sie bei Gelegenheit selbst in Erfahrung bringen. Sie wusste ja jetzt, wo die Literatur über Kunst in der Bücherhalle eingeordnet war, und wollte in den nächsten Tagen ohnehin noch das ein oder andere Buch über Malerei ausleihen.

»Heute ist aber was los, Chagall«, rief sie dem Kater zu.

Auch wenn sich ihr neuer Mitbewohner nicht rührte, fand Frau Helbing das Gefühl, nicht alleine zu sein, sehr beruhigend.

Zu Frau Helbings großer Überraschung hatte sie einen Ermittler der Hamburger Polizei am Apparat, den sie nicht kannte. Eigentlich hatte sie fest damit gerechnet, Frau Schneider, eine Kommissarin, mit der sie es bei den letzten Fällen immer zu tun gehabt hatte, würde sich bei ihr melden. Vielleicht auch ihr Untergebener Herr Borken. Aber nun grüßte sie ein ihr völlig unbekannter Mann.

»Moin, Frau Helbing«, sagte er mit breitem norddeutschem Zungenschlag. »Kleiber, Mordkommission. Ich müsste mal mit Ihnen sprechen. Es geht um den Mord an Herrn Tombasse. Sie haben die Leiche ja heute Mittag entdeckt, nich wahr?«

»Zusammen mit Herrn Kleidermann«, stellte Frau Helbing klar.

»Genau!«, rief Herr Kleiber. »Mit dem snack ich aber extra. Haben Sie morgen Zeit?«

»Also nachmittags bin ich schon verabredet.«

Frau Helbing wurde nervös. Zwei Termine an einem Tag hatte sie eigentlich nie.

»Na, dann nehmen wir doch den Vormittag«, sagte Herr Kleiber gut gelaunt. »Früher Vogel fängt ja bekanntlich den Wurm, nich wahr?«

Er schien von der lustigen Sorte zu sein.

»Vielleicht um neun?«, fragte er.

»Das geht«, willigte Frau Helbing ein. »Aber können

»Klar, das gehört zum Service«, sagte er. »Aber Katzenfutter bring ich nicht mit. Nur dass wir uns da klar verstehen.«

Dann lachte er kurz auf.

Herr Kleiber hat ja richtig Humor, dachte Frau Helbing. Das hatte man von Frau Schneider nicht behaupten können. Die Kommissarin war Frau Helbing gegenüber stets kurz angebunden, spröde und verkniffen gewesen. Außerdem besserwisserisch. Frau Helbing hatte Frau Schneider immer unsympathisch gefunden. Trotzdem empfand sie es jetzt sehr bedauerlich, in diesem neuen Mordfall mit einem fremden Kommissar konfrontiert zu sein. Sie war im Grunde ein Gewohnheitsmensch.

»Das macht nichts«, sagte sie schließlich. »Ich habe Pute mit Lachs, Huhn mit Schrimps und Rind mit Geflügel.«

Frau Helbing hatte sich die Zutaten auf den Dosen, die sie in der Küche von Jacques gefunden hatte, genau durchgelesen. Interessanterweise waren immer zwei Tiere zusammen zubereitet worden. Bei Rind mit Geflügel hatte sie gestutzt. Geflügel war ja plausibel. Aber welche Katze reißt denn in der freien Wildbahn ein Rind?, hatte sie sich gefragt.

»Lecker!«, sagte Herr Kleiber. »Ich nehme dann Pute mit Lachs.«

Er scheint wirklich ein Scherzkeks zu sein, dachte Frau Helbing. Vielleicht half das auch in diesem Beruf. Immer mit Leichen zu tun zu haben konnte einen bestimmt schwermütig werden lassen.

Vielleicht stelle ich ein paar Schnittchen mit Pute auf den Tisch, überlegte sich Frau Helbing und schmunzelte über ihre Idee.

»Chagall?«, sagte sie fragend, als sie nach dem Telefonat den leeren Ohrensessel erblickte.

Zu ihrer großen Überraschung war die Katze nicht mehr im Wohnzimmer. Frau Helbing war sogar auf die Knie gegangen, um unter dem Sofa nachzusehen. Im Flur dagegen bemerkte sie eine eindeutige Spur ihres neuen Mitbewohners. Es stank fürchterlich. Gleich darauf ertappte sie den Kater dabei, wie er im Katzenklo hockte und notdürftig seinen Stuhlgang mit Streu verscharrte. Ein beißender Geruch nach Ammoniak, der ihre Augen zum Tränen brachte, breitete sich in ihrer Wohnung aus.

»Du meine Güte«, stöhnte sie.

Ursprünglich hatte sie es pfiffig gefunden, das Katzenklo neben dem Kühlschrank auf den Boden zu stellen. Auch weil die Tür zur Küche eigentlich immer offen stand. Aber jetzt war ihr klar, dass so eine Toilette unbedingt ins Badezimmer gehörte, wo das Fenster meistens gekippt war. Dieser Gestank war ja nicht auszuhalten.

Nachdem sie das Klo gereinigt und Chagalls Hinterlassenschaft direkt in den großen Mülleimer im Keller gebracht hatte, setzte sich Frau Helbing an den Wohnzimmertisch und schlug das Buch über Jan Vermeer und sein Werk auf.

Chagall lag da schon wieder auf dem Ohrensessel, obwohl Frau Helbing ihn eben noch zum Sofa getragen und ihm eine ihrer besten Decken untergelegt hatte. Der kleine Mann hat seinen Kopf, dachte sie. Kurz überlegte

Dann konzentrierte sie sich wieder auf Vermeers Gemälde Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge. Warum hat Karl gerade dieses Bild gemalt und es Jacques vermacht?, fragte sie sich. Er hätte auch Dienstmagd mit Milchkrug oder Ansicht von Delft kopieren können. Oder das Werk eines anderen Malers. Vielleicht war es purer Zufall, und das Motiv hatte gar nichts mit dem Vermächtnis zu tun.

Das Original von Vermeer hing in einem Museum, das Mauritshuis hieß, konnte Frau Helbing lesen. In einer Stadt in Holland. Und das schon seit 1902. Das hieß natürlich, dass man Karls Plagiat niemandem als echten Vermeer würde verkaufen können. Blieb die Frage, was ein nachgemachter Vermeer einem verrückten Sammler wert wäre. Das könnte natürlich Herr Kleidermann beantworten. Aber selbst wenn jemand eine beträchtliche Summe für eine Kopie auszugeben bereit wäre, konnte es sich hier unmöglich um das angekündigte Erbe handeln. Heide hatte am Vorabend erwähnt, Jacques würde von Karl ein Vermächtnis von unschätzbarem Wert erhalten. Wo immer sie diese Information auch hergehabt hatte. Das klang nach einem Lottogewinn. Nach einem Geldbetrag, der das Leben leicht und unbeschwert machte.

Frau Helbing stöhnte. Es würde nicht leicht werden, hinter das Geheimnis des Vermeers zu kommen, ahnte sie

Langsam qualmte Frau Helbing der Kopf.

Ob es um Schmuck geht?, überlegte sie. Immerhin wiesen der Titel und das Motiv auf Perlen hin. Genau genommen war sogar eine Riesenperle abgebildet, die so groß war wie der Augapfel des Mädchens. Solche Preziosen konnten schon mal ein kleines Vermögen einbringen.

Ansonsten war auf dem Bild eigentlich nicht viel zu sehen. Vor einem fast schwarzen Hintergrund war der zur Seite geneigte Kopf eines Mädchens abgebildet. Es trug eine beigefarbene Jacke, die mit einem weißen Kragen abschloss, und auf dem Kopf eine Art Turban, der aus einem blauen und einem gelben Tuch gewickelt war.

Frau Helbing hatte das Gefühl, das Mädchen wollte ihr etwas sagen. Es hatte den Mund leicht geöffnet, und sein Blick war so … rätselhaft. Ein bisschen traurig auch.

»Was man in so ein Bild alles hineininterpretieren kann«, sagte sie laut und sah zu Chagall.

Der Kater erhob sich, gähnte und streckte seinen Rücken. Er schien sich nicht an der Analyse des Vermeers beteiligen zu wollen.

»Wie wär’s mit Abendbrot?«, fragte Frau Helbing, die genug von ihren Gedankenspielereien hatte.

»Wollen wir gleich zusammen einen Film gucken?«, fragte sie Chagall.

Sie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie mit Hermann früher auf dem Sofa gesessen und die Abendnachrichten oder eine Quizsendung gesehen hatte. Das war oft der gemütliche Abschluss des Tages gewesen. Warum sollte das nicht auch mit einem Kater gehen? Chagall war zwar ein Tier, aber Hermann war auch nicht gesprächig gewesen, und darum ging es auch nicht, wenn man gemeinsam fernsah.

Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie nach ihrer Rundfunkzeitschrift und setzte ihre Lesebrille auf.

»Mal sehen …«

Das Programm der meisten Sender war nach Frau Helbings Meinung Schund. Hin und wieder schüttelte sie beim Lesen den Kopf oder stöhnte entsetzt.

Nach einer Weile blickte sie auf und sagte zu Chagall: »Was hältst du von einem Dokumentarfilm über einen kanadischen Nationalpark? Das ist doch was für uns.«

Chagall schien einverstanden zu sein. Er hatte seinen Napf bereits leer gefressen, lief ins Wohnzimmer zurück und legte sich auf den Ohrensessel.