»Guten Morgen, mein Schatz!«, rief Frau Helbing gut gelaunt, als Chagall in die Küche kam und ihr um die Beine strich.
Der Kaffee lief bereits durch die Maschine, und eben hatte Frau Helbing Graubrot und Quittengelee auf den Tisch gestellt. So wie sie das jeden Morgen zu tun pflegte. Jetzt unterbrach sie ihre Frühstücksvorbereitungen, beugte sich zu Chagall hinab und streichelte ihm ein paarmal über das Fell.
»Heute kriegen wir Besuch von Kommissar Kleiber«, sagte sie. »Und am Nachmittag bin ich zum Kaffee eingeladen.«
Der Kater schien keine Einwände zu haben. Zielstrebig ging er in die Ecke, wo Frau Helbing ihm am Vorabend das Futter hingestellt hatte, und schnupperte an den Fliesen. Dann maunzte er. Bislang hatte Frau Helbing ihn nur schnurren hören, aber dieses zarte Fiepen, welches er nun ausstieß, klang mehr nach einem kleinen Vogel als nach einer Katze.
»Bist du süß!«, rief Frau Helbing verzückt. »Möchtest du Hühnchen mit Schrimps?«
Sofort versorgte sie ihren neuen Liebling mit Futter.
Nachdem Frau Helbing gefrühstückt und die Acht-Uhr-Nachrichten gehört hatte, wollte sie Chagall ein bisschen beschäftigen. So ein Tier konnte nicht den ganzen Tag herumliegen, fand sie. Eine Katze hatte schließlich einen Jagdinstinkt und musste sich bewegen. Kurz entschlossen band sie ein paar bunte Wollfäden an ihren Schrubber und versuchte, Chagall zum Toben zu animieren, indem sie ihr selbst gebasteltes Spielzeug immer wieder in seinem Gesichtsfeld hin und her bewegte.
Der Kater ließ sich davon aber nicht beeindrucken. Eine Weile beobachtete er Frau Helbings Bemühungen, ging dann ins Wohnzimmer zurück und legte sich wieder auf den Ohrensessel.
»Du bist ganz schön faul«, schimpfte Frau Helbing, während sie die verknoteten Wollfäden auseinanderfummelte.
Als es auf neun Uhr zuging, stellte Frau Helbing eine Flasche Saft und mit Pute belegte Schnittchen auf den Tisch. Kommissar Kleiber hatte am Telefon geklungen, als wüsste er ein paar Häppchen zu schätzen.
Pünktlich ist er auch, dachte Frau Helbing, als ihre Klingel läutete. Sie betätigte den Türöffner und wartete an ihrer Wohnungstür, bis der Kommissar die Stufen in den zweiten Stock erklommen haben würde.
Frau Helbing traute ihren Augen nicht, als Frau Schneider die Treppe hochkam. In einer eng sitzenden Bluse, die ihre schlanke Figur betonte, kam die Beamtin auf Frau Helbing zu und zwang ein »Guten Tag« über ihre schmalen Lippen. Im Schlepptau hatte sie eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen, die Frau Helbing zur Begrüßung freundlich zunickte.
»Wo ist denn Herr Kleiber?«, fragte Frau Helbing verblüfft.
»Krank«, antwortete Frau Schneider.
Frau Helbing staunte, was man in einem so kurzen Wort mit nur fünf Buchstaben zum Ausdruck bringen konnte. Frau Schneider hatte in »krank« mitschwingen lassen: »Herr Kleiber, der alte Schwächling, hat sich wieder mal krankschreiben lassen, und deswegen musste ich, zusammen mit einer nervigen Kollegin, die unangenehme Aufgabe übernehmen, eine alte Fleischereifachverkäuferin, die mir unsympathisch ist, zu befragen.«
»Na, dann kommen Sie mal rein«, sagte Frau Helbing. »Wir haben es mit einem interessanten Fall zu tun.«
Sie sagte ganz bewusst »wir«, um die Kommissarin ein bisschen zu piesacken. Frau Schneider rollte fast unmerklich mit den Augen, als sie die Wohnung betrat, ging aber nicht auf Frau Helbings Spitze ein.
Frau Helbing dirigierte die Damen an den Wohnzimmertisch und bat sie, Platz zu nehmen. Den Teller mit den Schnittchen ließ sie stehen, obwohl sie wusste, dass Frau Schneider Veganerin war.
»Wo ist denn Herr Borken?«, fragte Frau Helbing, nachdem sich alle gesetzt hatten.
Frau Schneider war in der Vergangenheit immer zusammen mit Kommissar Borken aufgetreten.
»Das ist Frau Middelmann«, stellte Frau Schneider ihre Begleiterin vor.
Frau Helbings Frage überging sie. Zum Plaudern war sie offensichtlich nicht aufgelegt und begann sofort, die Fragen zu stellen, derentwegen sie hier war.
»Erzählen Sie uns bitte, woher Sie Herrn Tombasse kannten, warum Sie ihn aufgesucht haben und ob Ihnen am Tatort etwas aufgefallen ist«, sagte sie.
»Herrn Tombasse, oder Jacques, wie ihn alle nannten, habe ich erst vorgestern in der Galerie Kleidermann kennengelernt. Er war der Lebenspartner des Malers Karl Schnelling, der sich auch Marcel Poisson nannte. Gestern hat er mich angerufen. So um halb eins. Ob ich ihm nicht helfen könnte, etwas zu finden, hat er mich gefragt. Ich habe ihm meine Unterstützung zugesagt, aber zuerst wollte ich noch zu Mittag essen. Wir haben uns dann für halb zwei verabredet.«
»Was hat er denn gesucht?«, fragte Frau Schneider.
Frau Helbing zog die Schultern hoch.
»Das weiß ich nicht. Er wollte nicht am Telefon darüber reden.«
Frau Schneider musste plötzlich niesen.
»Gesundheit!«, riefen Frau Helbing und Frau Middelmann gleichzeitig.
»Als ich dann um halb zwei bei Jacques geklingelt habe, hat eine Frau aufgemacht«, fuhr Frau Helbing fort. »Sie sei die Haushälterin, hat sie gesagt, und dass Jacques in der Galerie Kleidermann wäre. Aber das war beides glatt gelogen.«
»Können Sie die Frau beschreiben?«, wollte Frau Schneider wissen.
»Nein, ich konnte sie nicht erkennen. Sie hat die Tür nur einen Spalt weit geöffnet. Die wollte nicht gesehen werden. Ich bin dann natürlich in die Galerie gegangen. Aber Jacques war gar nicht da. Und von einer Haushälterin wusste Herr Kleidermann nichts. Da war mir sofort klar, dass etwas nicht stimmte.«
»Hatschi!«
Frau Schneider musste wieder niesen. Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche.
Während Frau Helbing geredet hatte, war ihr bereits aufgefallen, dass sich Frau Schneiders Nasenflügel immer wieder kräuselten. Irgendetwas schien ihre Schleimhäute zu reizen.
»Soll ich mal ein Fenster aufmachen?«, fragte sie.
Frau Schneider putzte schnaubend ihre Nase.
»Nein, schon gut«, sagte sie, aber man konnte hören, dass ihre Atmung beeinträchtigt war.
»Haben Sie eine Katze?«, fragte Frau Schneider plötzlich erschrocken.
»O ja, seit gestern«, sagte Frau Helbing und deutete auf den Ohrensessel in der Ecke. »Da liegt sie. Ein süßer Fratz ist das!«
Frau Schneider erstarrte. Sie hatte ihre Emotionen Frau Helbing gegenüber immer zu verbergen gewusst, aber nun, ob der Anwesenheit einer Katze, konnte sie ihre Angst nicht verheimlichen.
»Ich habe eine Allergie«, sagte sie. Ihre Stimme klang, als wäre ihre Nase bereits vollständig verstopft. »Ich kann hier unmöglich bleiben.«
Frau Helbing bemerkte, dass Frau Schneiders Augen gerötet waren und zu tränen begonnen hatten.
»Wenn du hier fertig bist, kommst du in mein Büro«, sagte Frau Schneider zu Frau Middelmann, stand auf und verließ eilig den Raum.
»Auf Wiedersehen!«, rief Frau Helbing ihr hinterher.
Sie hielt es nicht für nötig, die Kommissarin zur Tür zu begleiten.
»Darf ich?«, fragte Frau Middelmann, als Frau Schneider weg war.
Sie zeigte auf die Schnittchen.
»Aber gerne«, sagte Frau Helbing. »Bitte greifen Sie zu. Vielleicht möchten Sie auch etwas trinken?«
Sie schenkte Saft in ein Glas und stellte es vor Frau Middelmann auf den Tisch.
»Wie heißt denn Ihre Katze?«
»Chagall«, sagte Frau Helbing, »aber ich habe ihm diesen komischen Namen nicht gegeben.«
»Marc Chagall war einer der bedeutendsten Maler des zwanzigsten Jahrhunderts«, erklärte Frau Middelmann. »Er wurde siebenundneunzig Jahre alt. Obwohl er schon zur Zeit der großen Expressionisten gemalt hatte, ist er erst 1985 gestorben. Was für ein langes Leben! Ich finde das wahnsinnig spannend. Wussten Sie, dass in der Hamburger Kunsthalle eines seiner Bilder hängt? Die Seinebrücken aus dem Jahr 1954.«
Frau Helbing sah Frau Middelmann mit großen Augen an.
»Woher wissen Sie das denn alles?«, fragte sie erstaunt. »Das ist ja beeindruckend.«
»Ich wollte mal Kunst studieren«, sagte Frau Middelmann mit einem Lächeln auf den Lippen.
»Das heißt, Sie malen richtig? Also ich meine, auf echte Leinwände, die auf einer Staffelei stehen?«, fragte Frau Helbing interessiert.
Frau Middelmann nickte. »Ja, aber es wird ein Hobby bleiben. Die Beamtenlaufbahn bietet mir eine sichere Existenz.«
»Sehr vernünftig«, sagte Frau Helbing. »Marcel Poisson wollte auch zu den ganz großen Malern gehören, hat es aber nie geschafft. Das scheint sehr schwer zu sein.«
»Dabei sind seine Bilder wirklich gut. Ich habe mir alle, die an den Wänden hingen, angesehen. Ein bisschen beliebig im Stil, aber alle sehr gut gemacht. Es fehlt übrigens ein Bild über dem Sofa. Sie wissen nicht zufällig, welches?«
»Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge von Jan Vermeer«, sagte Frau Helbing.
Frau Middelmann lachte kurz auf. »Sie machen einen Scherz!«, rief sie. »Jeder Kunstinteressierte weiß, wo dieses Bild hängt.«
»Genau genommen handelt es sich um eine Kopie dieses Bildes«, korrigierte sich Frau Helbing. »Eine sehr gute Kopie, sagt man.«
»Marcel Poisson hat kopiert?«, fragte Frau Middelmann.
»Nein. Karl Schnelling hat kopiert«, antwortete Frau Helbing. »Und damit hat er offensichtlich den Großteil seines Lebensunterhalts verdient.«
»Und Sie sind sicher, dass er nur kopiert und nicht auch ein paar Fälschungen in Umlauf gebracht hat?«, fragte Frau Middelmann.
»Fälschungen? Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich habe einen Haufen alter Leinwände in einem Raum neben dem Atelier gefunden«, erklärte Frau Middelmann. »Fälscher kaufen oft antike Bilder von geringem Wert auf Flohmärkten. Dann reinigen sie die Leinwände, um sie wieder benutzen zu können. Wer kann schon behaupten, ein Gemälde sei von 1910, wenn die Leinwand nachweislich nagelneu ist? Fälscher müssen auch aufpassen, welche Farben sie benutzen. Wenn ein neues Gemälde auftaucht, wird es auf Herz und Nieren geprüft. Schließlich geht es um sehr viel Geld.«
»Das leuchtet mir ein«, sagte Frau Helbing. »Aber soweit ich weiß, hat Karl nur die Bilder alter Meister nachgemalt und sie auch mit seinem Namen signiert. Ganz legal also. Es scheint tatsächlich Leute zu geben, die für eine Kopie viel Geld ausgeben.«
»Wer hätte nicht gerne einen Matisse oder einen Feininger im Wohnzimmer hängen«, sagte Frau Middelmann lächelnd.
Matisse, Feininger. Frau Helbing hatte wiederum das Gefühl, sie müsse noch Unmengen von Kunstbänden aus ihrer Bücherhalle nach Hause schleppen.
»Sagen Sie mal, Frau Middelmann«, Frau Helbing druckste ein bisschen rum, »ich kenne mich mit der Malerei nicht so aus, würde aber gerne etwas darüber in Erfahrung bringen. Es scheint ein weites Feld zu sein. Welche Künstler empfehlen Sie mir denn als Einstieg?«
»Gehen Sie doch einfach mal in die Kunsthalle«, sagte Frau Middelmann.
»In die Kunsthalle?!«
Frau Helbing riss die Augen auf. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie auf die Idee gekommen, in ein Museum zu gehen. Natürlich kannte sie die Hamburger Kunsthalle, direkt neben dem Hauptbahnhof gelegen. Da fuhr man als Bürger der Hansestadt oft genug vorbei. Aber hineinzugehen, das war doch nur etwas für …
Frau Helbing überlegte, wer denn da wohl so hinging.
»Ist das was für mich?«, fragte sie unsicher.
»Ja, natürlich. Warum denn nicht?«, antwortete Frau Middelmann. »Da sind alle Stile der Malerei vertreten. Vom Mittelalter bis zur Moderne. Wenn Sie durch die Ausstellung gehen, sehen Sie sich erst einmal nur die Bilder an, die Ihnen gefallen. Die anderen lassen Sie links liegen. Die sind vielleicht beim zweiten oder dritten Besuch interessant. Betrachten Sie nur das, was Ihnen gefällt. Die Auseinandersetzung mit der Kunst muss nämlich Spaß machen. Das ist wichtig.«
»Aber muss man nicht eine gewisse Bildung haben, um …«
»Was für eine Bildung?«, unterbrach Frau Middelmann energisch. »Bildung kann man doch nicht kaufen. Sie wird einem auch nicht in die Wiege gelegt. Sie entsteht dadurch, dass man sich für etwas begeistert, sich mit einem Thema beschäftigt oder ganz praktisch selbst etwas macht. Nehmen Sie einen Pinsel in die Hand oder Musikunterricht. Schreiben Sie ein Buch oder lernen Sie eine neue Sprache. Bildung ist keine Hexerei und steht jedem offen.«
Frau Helbing war beeindruckt. Diese junge Frau hatte ihr in wenigen Sätzen klargemacht, wie einfach der Zugang zur Kunst war. Liegt das an der Generation?, fragte sie sich. Hatte man früher zu viele Vorbehalte, war gefangen in konservativen Mustern? Frauen – Männer. Arm – reich. Gebildet – Arbeiterklasse.
»Vielleicht machen die jungen Leute alles viel besser als wir damals«, sagte Frau Helbing.
Sie hätte jetzt erklären können, dass sie nach dem Krieg damit beschäftigt gewesen war, Brennholz aufzutreiben, bei der Kartoffelernte zu helfen und die Kleider ihrer älteren Schwestern umzunähen. Aber sie schwieg dazu. Ihre Erfahrungen änderten nichts daran, dass eine neue Generation heranwuchs, die mit all dem nichts zu tun hatte und vielleicht vieles besser machen würde.
»Sie haben recht«, sagte Frau Helbing. »Ich werde in die Kunsthalle gehen und mir selbst einen Einblick in die Welt der Malerei verschaffen.«
Frau Middelmann war ihr sehr sympathisch. Auch weil sie den ganzen Teller mit Schnittchen aufgegessen hatte.
»Nun. Ich werde dann mal Frau Schneider Bericht erstatten«, sagte Frau Middelmann.
Ihr Unterton ließ erkennen, dass sie nicht gerne mit Frau Schneider zusammenarbeitete.
»Hier ist meine Karte«, sagte sie zum Abschied. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt …«
»Ich hätte noch eine Frage«, sagte Frau Helbing. »Vorgestern wurde bereits bei Herrn Tombasse eingebrochen. Können Sie mir darüber etwas sagen?«
»Die Beamten haben einen jungen Mann festgenommen«, begann Frau Middelmann freimütig zu erzählen. »Einen polizeibekannten Drogenabhängigen. Wir vermuten, dass es sich hier um Beschaffungskriminalität gehandelt hat.«
»Und wie ist der Täter ins Haus gekommen?«, wollte Frau Helbing noch wissen.
»Er hat die Kellertür aufgebrochen. Das war nicht schwer, bei dem antiken Kastenschloss, das dort angeschraubt war.«
»Dann hat der Mörder gestern wohl denselben Weg genommen«, mutmaßte Frau Helbing.
»Nein!« Frau Middelmann widersprach. »An der Kellertür wurde noch am Abend des Einbruchs ein hochwertiger Panzerriegel angebracht. Gestern haben wir keine Spuren gefunden, die auf ein gewaltsames Eindringen hingewiesen hätten.«
»Vielen Dank für die Informationen«, sagte Frau Helbing.
»Ich bin Ihnen gerne behilflich«, sagte Frau Middelmann.
Dann bemerkte sie in verschwörerischem Tonfall: »Ich habe gehört, Sie haben schon den ein oder anderen Mordfall gelöst.«
»Ach!«, wiegelte Frau Helbing ab. »Das hat sich zufällig ergeben. Es wird ja viel geredet.«
»Im Kommissariat werden jedenfalls schon Wetten angenommen, ob Sie den Mörder von Herrn Tombasse innerhalb von zehn Tagen überführen. Jetzt, wo ich Sie kennengelernt habe, werde ich auf Sie setzen.«
Dann zwinkerte sie Frau Helbing zu und verließ die Wohnung.
»Im Kommissariat wird gewettet?«, sagte Frau Helbing ungläubig, nachdem Frau Middelmann gegangen war. »Was sagst du denn dazu?«, fragte sie Chagall, als sie ins Wohnzimmer ging. »Hat man da noch Worte?«
Frau Helbing beugte sich hinab und kraulte den Kater, der noch immer auf dem Sessel ruhte, am Kopf. Sofort streckte er sich, um Frau Helbing möglichst viel Streichelfläche zu bieten.
»Nicht jetzt, kleiner Mann«, sagte Frau Helbing. »Vor dem Mittagessen werde ich mal bei Herrn Aydin vorbeischauen. Der wird Augen machen, was wieder alles passiert ist.«