Heute muss ich den Regenschirm mitnehmen, dachte Frau Helbing, als sie morgens aus dem Fenster sah und den Himmel betrachtete. Das machte sie täglich, um ihre Prognose für den weiteren Tagesverlauf zu erstellen. Und sie lag mit den Vorhersagen meist richtig. Meteorologin wäre auch ein guter Beruf für sie gewesen, behaupteten viele Leute, aber Frau Helbing hatte ihre Leidenschaft und vor allem ihre Begabung, die täglich wechselnden Konstellationen am Himmel zu deuten, erst entdeckt, als sie bereits verheiratet war und im eigenen Laden hinter der Wursttheke stehen musste.
Heute würde es ordentlich regnen, stellte sie mit geübtem Auge fest. Das war nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit, und wenn es Ende September nass war, stand laut Bauernregel ein milder Winter bevor. Frau Helbing fand, der Niederschlag käme sogar gelegen, denn der Sommer war ungewöhnlich warm und trocken gewesen, und nun konnte der Boden die Feuchtigkeit gut gebrauchen.
Für heute Vormittag hatte sich Frau Helbing vorgenommen, eine Tierbedarfshandlung aufzusuchen, um einen Kratzbaum zu kaufen und sich einen Eindruck zu verschaffen, was auf dem Markt für Katzenfutter angeboten wurde. Nach ihrer Rückkehr plante sie, bei Herrn Lattenkamm zu klingeln und Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge wieder an sich zu nehmen, um das Bild in Ruhe
»Mach keine Dummheiten, kleiner Mann!«, rief sie Chagall zum Abschied zu und machte sich auf den Weg.
»Haben Sie auch etwas Kleineres?«, fragte Frau Helbing eine halbe Stunde später die Verkäuferin der Zoohandlung, als sie die Ausstellungsfläche mit Kratzbäumen in Augenschein genommen hatte. Sie konnte nur schwer glauben, wie groß die Dinger waren. Raumgreifende Abenteuerspielplätze für Katzen waren das, mit Liegeflächen, Klettersäulen, Körben zum Verstecken, beweglichen Spielelementen und natürlich Kratzflächen. Frau Helbing waren diese Gebilde viel zu wuchtig und auch zu teuer.
»Vielleicht ein einfaches Brett?«, hakte sie nach.
Die Verkäuferin zeigte auf ein Regal, in dem schmale Pressspanplatten mit Faserbezug lagen.
»Die sind aber nur zum Kratzen!«, mahnte sie. »So ein Brett fördert nicht den Bewegungstrieb.«
»Meine Katze hat keinen Bewegungstrieb«, sagte Frau Helbing und griff sich eines der handlichen Bretter.
Dann ging sie in den Gang mit dem Nassfutter. Ungläubig starrte sie auf die Regale mit den Dosen. Sie hatte natürlich damit gerechnet, dass der Fachhandel eine gewisse Auswahl feilböte, aber diese Flut an Geschmackskreationen unzähliger Anbieter ließ sie ratlos den Kopf schütteln. Hier und da zog sie eine Dose aus einem Fach und studierte unter Zuhilfenahme ihrer Lesebrille die Zusammensetzung.
»Kommen Sie bitte mal!«, rief sie der Verkäuferin zu, die ihr eben das Fach mit den Kratzbrettern gezeigt hatte. »Haben Sie auch ganz normales Katzenfutter?«
»Was meinen Sie mit ›ganz normal‹?«, fragte die Frau betont langsam.
Sie klang freundlich, in ihrer Mimik spiegelte sich aber deutlich, dass sie Frau Helbing nicht zu ihren Lieblingskundinnen zählte.
»Na ja, gedämpfter Kürbis oder Gartengemüse mit Wildkräutern stehen bei einer Wildkatze wohl kaum auf dem Speiseplan«, sagte Frau Helbing.
»Erstens haben Sie keine Wildkatze und zweitens können Sie auch barfen, wenn Sie es artgerechter haben wollen«, erklärte die Verkäuferin.
»Was ist denn barfen?«, fragte Frau Helbing.
»BARF ist die Abkürzung für Born Again Raw Feeders«, erklärte die Verkäuferin und fügte, nachdem sie Frau Helbings fragenden Blick abgewartet hatte, an, »das heißt, Sie können einfach Fleisch kaufen und es Ihrer Katze hinlegen. Wir haben auch tiefgefrorene Küken. Wenn Sie morgens eins auftauen, können Sie es abends verfüttern. Aber nicht alle Tiere mögen das. Haben Sie nicht gesagt, Ihre Katze hat keinen Bewegungstrieb?«
Frau Helbing nickte.
»Dann geben Sie ihr am besten eine von diesen Pasteten, da muss sie nicht mal kauen.«
Das klingt ja wie in einem Sternerestaurant, dachte Frau Helbing, aber Ente ist schon mal passender als Pferd. Nachdem die Verkäuferin weg war, zog Frau Helbing ihre Lesebrille aus und griff wahllos sechs Dosen aus den Regalen.
»Meine Güte, wie kompliziert ist es denn, heute eine Katze zu füttern?«, schimpfte sie vor sich hin, als sie mit ihrem Hackenporsche nach Hause ging.
Frau Helbing staunte nicht schlecht, als sie die Haustür öffnete. Mitten auf der Treppe in den ersten Stock saß Chagall und sah sie mit großen Augen an.
»Mau«, machte er.
»Was machst du denn hier?«, fragte Frau Helbing verblüfft. »Habe ich etwa …«
Sie ließ ihren Ziehwagen stehen, hob den Kater von der Stufe und ging eilig nach oben. Die Tür zu ihrer Wohnung stand einen Spalt breit offen.
»Kannst du Türen öffnen?«, fragte sie Chagall.
Tatsächlich ahnte Frau Helbing bereits, dass weder sie selbst vergessen hatte, die Tür abzuschließen, noch, dass sich der Kater mit der Funktion eines Schlosses und einer Klinke auskannte.
Vorsichtig betrat sie ihre Wohnung und stöhnte entsetzt auf. Hier hatte eindeutig jemand rumgewühlt.
»Ist das zu fassen?!«, rief sie mehrfach, als sie ihre Wohnung inspizierte.
In allen Räumen standen Schranktüren offen, und einige Möbel befanden sich nicht mehr an ihrem Platz.
Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge!, schoss es
Frau Helbing spürte plötzlich, wie aufgeregt sie war. Ihr Herz schlug viel zu heftig. Schnell ging sie ins Treppenhaus zurück und klingelte an der Tür ihres Nachbarn. Ganz nervös wurde sie, weil es eine gefühlte Ewigkeit dauerte, bis Herrn Lattenkamms Schlurfgeräusche zu hören waren.
»Bei mir ist eingebrochen worden!«, sagte Frau Helbing aufgeregt, nachdem er endlich die Tür geöffnet hatte.
Herr Lattenkamm sah aus, als wäre er gerade dem Bett entstiegen. Sein Gehirn schien auch noch verschlafen zu sein.
»Oh!«, war alles, was ihm über die Lippen kam.
»Haben Sie das Gemälde noch?«, fragte Frau Helbing.
Herr Lattenkamm nickte.
»Gut!«, sagte Frau Helbing erleichtert. »Behalten Sie das Bild noch eine Weile. Aber erzählen Sie niemandem etwas davon.«
Zur Sicherheit schob sie noch ein eindringliches »Niemandem!« hinterher. Dann ging sie wieder zurück in ihre Wohnung und wählte die 110.
»Und Sie sind sicher, dass nichts gestohlen wurde?«, fragte der Polizist zum wiederholten Mal.
»Aber ja doch, Herr Streek«, antwortete Frau Helbing. »Alles ist noch da. Nur in Unordnung.«
Frau Helbing saß in ihrem Ohrensessel, Chagall auf dem Schoß, und versuchte, sich zu beruhigen. Der Kater half ihr dabei großartig, indem er einfach dalag und sich streicheln ließ. Es fiel ihr schwer, das Durcheinander in
Hier fehlte auch deshalb nichts, weil der Einbruch dem Gemälde gegolten hatte. Das behielt Frau Helbing aber für sich. Sie war sich nun sicher, dass sie beobachtet worden war. Die letzten Tage hatte sie jemand verfolgt und gesehen, wie sie gestern mit der begehrten Kopie des Vermeers unter dem Arm nach Hause gegangen war.
Die Frage war nur: Wer hatte sie im Visier?
»Hier war ein Profi am Werk«, hatte eine Beamtin der Spurensicherung zu ihr gesagt. »Keine Fingerabdrücke, keine Gewalteinwirkung an der Tür.«
»Das Schloss hat eher mindere Qualität, Frau Helbing«, hatte die Dame noch angefügt. »Da müssen Sie mal was machen.«
Beunruhigt versuchte Frau Helbing, ihre Gedanken zu sortieren. Ein Profi hatte sie also observiert und war
»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie bitte an«, sagte Herr Streek und reichte Frau Helbing zum Abschied eine Karte der Polizeiwache mit einem handschriftlich notierten Aktenzeichen. »Und wenn Sie sich nicht gut fühlen, rufe ich Ihnen einen Krankenwagen.«
»Danke«, sagte Frau Helbing, »aber das ist nicht nötig.«
Nachdem die Polizisten gegangen waren, blieb Frau Helbing noch eine Weile in ihrem Ohrensessel sitzen.
Wenn ich bloß wüsste, worum es hier geht, grübelte sie. Warum ist dieses Bild so wertvoll?
Plötzlich fiel ihr ein, dass Frau Hammerschmidt-Bingen gesagt hatte: »Ich kann mir vorstellen, dass der Kleidermann das weiß.«
Man kann es ja mal probieren, dachte Frau Helbing und zog ein altes Telefonbuch, wie man es sich früher regelmäßig gegen Vorlage einer Postkarte bei einer Postfiliale hatte abholen können, aus der Kommode.
»Kleidermann«, hörte sie nach dem dritten Klingeln.
Als sie sprechen wollte, spürte Frau Helbing, wie aufgewühlt sie noch immer war. Das Telefon hielt sie verkrampft in der rechten Hand, während sie mit der linken hastige Bewegungen auf Chagalls Fell ausführte.
»Helbing hier, guten Tag«, sagte sie unsicher.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Herr Kleidermann.
Offensichtlich konnte er die Anspannung in ihrer Stimme hören.
»Das kann ich verstehen, mir geht es ähnlich«, sagte Herr Kleidermann.
»Erinnern Sie sich an die freie Stelle über dem Sofa? Diesen einsamen Nagel, der aus der Wand ragte?«, fragte Frau Helbing.
»Natürlich«, antwortete Herr Kleidermann sofort. »Die Kopie des Vermeers hing dort. Ein wunderbares Bild, aber ich glaube, das habe ich bereits gesagt.«
»Haben Sie«, fuhr Frau Helbing fort. »Dieses Gemälde ist ja nun mal verschwunden, und mittlerweile ist mir zu Ohren gekommen, dass darin ein Hinweis versteckt sein soll. Zu einer Art Schatz, irgendetwas Wertvollem oder so. Man munkelt, es gehe um Fälschungen. Mich bedrückt der Gedanke, dass manche Leute nur die Namen von Karl und Jacques in den Schmutz ziehen wollen. Sie können mir doch sicher bestätigen, dass es sich hier nur um Gerüchte handelt. Das würde mich sehr beruhigen.«
Herr Kleidermann zögerte kurz, bevor er antwortete.
»Obwohl ich fast vierzig Jahre lang Karls Galerist war und ihn gut gekannt habe, hatte er so seine Geheimnisse«, begann er zögerlich zu reden. »Und dazu gehörte, dass er vermutlich auch Fälschungen verkauft hat.«
»Fälschungen?!«
Frau Helbing griff Chagall vor Aufregung so fest ins Fell, dass der Kater erschrocken von ihrem Schoß sprang.
»Das Potenzial dazu hatte er natürlich«, erzählte Herr Kleidermann weiter, »aber dass er es auch genutzt hat, kann ich nicht beschwören. Karl war verschwiegen wie
Dann war es einen Augenblick still in der Leitung.
»Ich habe den Verdacht, er hat die krummen Dinger mit diesem Smolarz gedreht«, fügte Herr Kleidermann an.
Dabei spuckte er den Namen Smolarz förmlich in sein Telefon. Frau Helbing konnte seine Erregung deutlich hören.
»Das ist ja schrecklich«, sagte Frau Helbing und versuchte vergeblich, während sie redete, Chagall mit leisem Fingerschnippen wieder anzulocken.
»Wie viele gefälschte Bilder hat er denn angeblich in Umlauf gebracht?«, wollte Frau Helbing wissen.
»Ich verrate Ihnen jetzt ein Geheimnis«, sagte Herr Kleidermann entschlossen. »Angeblich gibt es eine Liste mit zehn bis zwanzig Fälschungen namhafter Künstler, die in den bedeutendsten Museen dieser Welt hängen und in Wahrheit von Karl gemalt wurden. Ein Schiele soll dabei sein, ebenso ein Nolde und weitere große Namen. Es wäre eine Sensation, an diese Liste zu kommen.«
»Sie meinen, Karl hat nicht einfach Bilder dieser Maler kopiert, sondern neue Werke geschaffen, die diesen Künstlern zugeordnet werden?«
»So ist es!«, rief Herr Kleidermann.
Er schien seine Emotionen kaum unter Kontrolle halten zu können. Dieses Thema hatte ihn offensichtlich schon seit Langem beschäftigt.
»Er hat vermutlich den Stil namhafter Künstler imitiert, alte Leinwände benutzt, Farben selbst angemischt, praktisch alle Register gezogen, die man braucht, um eine Expertise für die Echtheit eines Gemäldes zu erhalten. Oft genug habe ich ihn darauf angesprochen, aber er hat
»Wir suchen also ein Stück Papier, auf dem die Namen aller Fälschungen vermerkt sind, die Karl angefertigt hat«, stellte Frau Helbing nüchtern fest.
»So sieht’s aus«, bestätigte Herr Kleidermann.
»Und was ist daran so wertvoll?«, fragte Frau Helbing.
Es platzte förmlich aus Herrn Kleidermann heraus.
»Aber stellen Sie sich mal vor, ein Museum oder ein Privatsammler hätte einen, sagen wir mal, Max Beckmann für vier Millionen gekauft. Der hängt seit dreißig Jahren in der Ausstellung. Und nun kommt jemand an und behauptet glaubhaft, dieses Bild sei nicht echt, sondern von Karl Schnelling gemalt worden. Was glauben Sie, was das für eine Aufregung wäre! Heutzutage könnte man so einen Betrug wahrscheinlich sogar zweifelsfrei aufdecken. Die Methoden, gerade was die Prüfung der verwendeten Farben angeht, sind viel feiner als in den achtziger und neunziger Jahren. Es wäre für den Besitzer ein enormer Gesichtsverlust, zugeben zu müssen, einem Betrug aufgesessen zu sein. Mal abgesehen von dem finanziellen Desaster. Karl ist tot, wen will man zur Rechenschaft ziehen?«
Frau Helbing ließ die Informationen sacken.
»Sie meinen, man würde sich auf ein Schweigegeld einigen?«, fragte sie.
»Verstehe«, sagte Frau Helbing. »Es geht also im Grunde um Erpressung.«
»So kann man es auf den Punkt bringen«, bestätigte Herr Kleidermann Frau Helbings Vermutung. »Und angeblich haben sich mehrere Sammler und Museen zusammengetan und einen Privatdetektiv angeheuert, der diese Liste finden und vernichten soll.«
»Das wird ja immer doller!«, sagte Frau Helbing erschüttert. »Ein Detektiv?«
»Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wo die Kopie des Vermeers ist, Frau Helbing?«, fragte Herr Kleidermann. »Man sagt, Sie seien auch eine Art Detektivin.«
»Sie werden es kaum glauben, aber bei mir wurde heute eingebrochen. Vermutlich denken viele Leute, ich hätte das Gemälde in meiner Wohnung«, sagte Frau Helbing.
Das war nicht gelogen, und sie war der eigentlichen Frage ausgewichen.
»Das tut mir leid«, sagte Herr Kleidermann. »Ich hoffe, Ihre Wohnung ist nicht allzu verwüstet.«
»Ich mache mich gleich mal ans Aufräumen«, sagte Frau Helbing. »Vielen Dank für das Gespräch. Sie haben mir sehr geholfen.«
Tatsächlich blieb sie noch etwas sitzen und dachte nach. Dann stand sie auf, schimpfte kurz mit Chagall: »Wieso sitzt du denn jetzt plötzlich auf dem Sofa, wenn man dich mal auf dem Sessel braucht?«, und machte sich mit einem Seufzer daran, ihre Wohnung wieder in Ordnung zu bringen.