Zweite Szene
Hier sind einige der Sprüche, die ich zu hören bekomme, während ich am Montag die Leute für ihre Kostüme abmesse: »Ich bin größer, als man das von meinen Maßen her denken würde.«
»Zieh ein paar Zentimeter ab. Ich hab’s gern, wenn die Sachen richtig eng anliegen.«
»Ich kann nur Baumwolle tragen, sonst kriege ich Ausschlag.«
»Ich bitte dich, ich hab doch keine Taillenweite von vierundsiebzig Zentimetern! Ich trage Größe 36 oder 0.«
»Lass nicht zu, dass sie mich in irgendetwas Hässliches steckt.«
»Hey, pass auf, wo du hinfasst!«
»Ich weiß, dass du uns nicht sagen darfst, wie unsere Kostüme aussehen, aber mir kannst du es doch verraten. Ich sag’s auch bestimmt nicht weiter.«
»Weißt du, was echt cool wäre? Wenn ich die Einzige im Ensemble wäre, die Rot trägt.«
»Knie nieder vor Zod!«
»Was bedeutet ›Knie nieder vor Zod‹?«, frage ich Lawrence beim Mittagessen.
»Der Satz stammt aus Superman. Aus dem Film mit Christopher Reeve aus den Achtzigerjahren. Warum fragst du?«
Ich zeige auf einen großen, schlanken rothaarigen Jungen, der mit einem Tablett zu einem Tisch geht. »Sam Carson hat das gesagt, als ich seine Beininnenlänge gemessen habe.«
»Er ist ein richtiger Blödmann.«
»Hey, du kennst den Spruch auch!«
»Ich habe nie gesagt, dass ich kein Blödmann bin.«
»Schwul oder nicht schwul?«, frage ich und zeige auf Sam. Das Spiel spielen alle hier.
»Stockschwul«, antwortet Lawrence. »Er und Brian Emmanuel haben vor ein paar Tagen miteinander rumgemacht.«
»Hier bilden sich Pärchen wie verrückt«, bemerke ich und beobachte Alex und Isabella, die sich beim Schlangestehen betatschen.
Gut möglich, dass ich etwas verbittert klinge.
»Wem sagst du das«, erwidert Lawrence trübsinnig. Seine Beziehung zu Raymond ist den Bach runtergegangen – nicht nur, dass sie keine Zukunft für ihre Romanze gesehen haben, sie können sich jetzt nicht einmal mehr ausstehen. Offenbar ist Raymond ein Schwein, er leert den Papierkorb nicht, nicht einmal wenn er an der Reihe ist und nicht einmal wenn er vor sämtlichen Zimmergenossen gerade seine Zehennägel darüber geschnitten hat. »Zehennägel schneiden ist der Feind der Liebe«, hatte Lawrence erklärt, als er mir die Geschichte erzählte.
»Wir bleiben zusammen Single«, sage ich jetzt. »Wir haben einander – wer braucht schon Romantik?«
»Ich nicht.« Kurze Pause. »Na ja, vielleicht ein bisschen.«
»Ich auch ein bisschen«, gebe ich zu.
»Habt ihr was dagegen, wenn ich mich zu euch setze?« Harry lässt sich auf den leeren Stuhl neben mir fallen, bevor ich überhaupt antworten kann. Das macht er jetzt schon die ganze Woche: Sich neben mich setzen, wenn noch ein Platz frei ist. Für mich ist das okay. Er bringt mich zum Lachen. Und immer wenn er mit seiner Flirtmasche anfängt, werfe ich ihm einen Blick zu, und normalerweise klingt dann schon der nächste Satz wieder normal.
Julia ist nicht begeistert von unserer wachsenden Freundschaft. »Ich dachte, du traust ihm nicht!«, bemerkt sie etwas später, als wir zusammen für Eis anstehen.
»Tu ich auch nicht. Aber das heißt ja nicht, dass ich ihn nicht mag.«
»Ich finde es einfach merkwürdig, dass du mir die ganze Zeit predigst, wie oberflächlich und unzuverlässig er ist, und jetzt ist er praktisch dein bester Freund.«
Ich zucke mit den Schultern und behalte für mich, was ich denke, nämlich dass Harry es wahrscheinlich als angenehme Abwechslung empfindet, mit einem Mädchen zu reden, das nicht in ihn verknallt ist. Vielleicht braucht er hin und wieder eine Pause von der harten Arbeit, seinem Ruf gerecht zu werden.
»Nicht dass es mir etwas ausmacht«, fährt Julia fort. »Persönlich, meine ich. Für mich ist er Geschichte.«
»Tatsächlich?« Das ist mir neu.
»In unserem Ensemble ist ein anderer Junge …« Und sie stürzt sich in eine Beschreibung von Manny Yates, der ein paar kleinere Rollen in Was ihr wollt spielt. Er ist süß, er ist hetero, er interessiert sich für sie, und er ist eher schüchtern und hat es nicht so mit dem Flirten. »Ich hab die Schnauze voll von diesen selbstverliebten Typen«, meint sie. »Ich möchte jemanden, dem ich wirklich etwas bedeute.«
»Was du nicht sagst! Und ich möchte jemanden, der nicht mal weiß, dass es mich gibt.«
Den Sarkasmus hätte ich mir sparen können. Julia hat wieder mal nicht richtig zugehört. »Mach bloß keine Dummheiten«, ermahnt sie mich mit der Überlegenheit von jemandem, der schon vor ein paar Tagen – mindestens – aufgehört hat, Dummheiten zu machen.
Als wir wieder an den Tisch zurückkommen, sitzt Marie auf meinem Stuhl.
»Äh, das war mein Platz.«
Sie schaut kaum auf. »Sorry. Harry und ich wollten gerade ein paar Dialoge miteinander proben. Macht es dir was aus, dich woanders hinzusetzen?«
»Ist schon okay.« Ich nehme mein Eis und mein Glas und setze mich auf ihren bisherigen Platz an der Tischseite gegenüber. Ein bisschen ärgere ich mich doch. Harry hätte wenigstens versuchen können, mir meinen Platz freizuhalten. Aber so ist Harry eben. Wie ein Fähnchen im Wind …
Der Wind bläst ihn, Isabella und Vanessa nach dem Essen auf einen kleinen Spaziergang, während wir anderen vor der Mensa zusammenstehen.
Ich genieße die warme Nachtluft und meine letzten Minuten in Freiheit, bevor ich in die Wohnung gehe. Donnerstags schaut sich Amelia gern eine Hausfrauen-Doku-Soap an, während sie und ich von Hand an irgendwelchen Kostümteilen arbeiten, die sie mitgebracht hat. Da kommt Alex zu mir herüber. »Hallo, Franny.«
»Zigarettenpause?« Ich weise mit dem Kinn auf die drei Gestalten, die gerade verschwinden.
Er seufzt. »Sie hat mir gesagt, sie will aufhören. Das Problem ist nur, dass Harry sie immer wieder zum Mitkommen überredet …«
»Du machst ihn dafür verantwortlich, dass sie raucht?«
»Na ja, er ist ihr Raucher-Kumpel.«
»Er hält ihr nicht gerade eine Pistole an den Kopf«, blaffe ich.
Alex hebt mit einem Ruck den Kopf. Mein Ton hat ihn überrascht. Seine hellen blauen Augen streifen kurz mein Gesicht. »Sorry. Ich sollte wahrscheinlich vorsichtiger sein mit dem, was ich sage. Isabella hat mir erzählt, dass du und Harry …« Er hält inne.
»Dass ich und Harry was?«
»Na du weißt schon«, weicht er aus. Das ist im Übrigen das Allerbescheuertste, was jemand sagen kann, wenn man gerade klargestellt hat, dass man es eben nicht weiß.
Aber ich kann es mir denken. »Hat Isabella gesagt, wir seien ineinander verknallt oder so?«
»Seid ihr?«
»Nein. Außerdem geht das Isabella nichts an.«
»Nichts für ungut, aber du hast ihn sofort verteidigt und …«
»Ich habe ihn nicht sofort verteidigt! Ich bin nur der Meinung, dass du niemanden dafür verantwortlich machen kannst, dass Isabella raucht, außer Isabella.«
»Trotzdem … ich meine … Isabella sagt, er mag dich. Dass er immer wieder von dir redet.«
»Meine Güte, das ist ja wie bei Stille Post hier.« Ich hebe die Hände. »Irgendwelche Leute sagen etwas, und andere Leute wiederholen es, und keiner weiß, wovon er eigentlich redet.«
»Warum regst du dich denn so auf?«
Weil du wegen Isabellas Andeutungen glaubst, ich würde jemanden mögen, der mir so was von egal ist. Und weil ich dir nicht sagen kann, wen ich wirklich mag. »Weil«, verkünde ich laut, »zwischen mir und Harry Cartwright nichts läuft, die Leute aber so reden, als wäre da etwas. Ich hasse das.« Das war nicht gelogen.
»Hier redet doch jeder über jeden.«
»Stimmt. Ich weiß entschieden mehr über Isabella und dich, als mir lieb ist.«
Er runzelt die Stirn. »Was soll das denn heißen?«
»Nichts.« Ich bin ein Idiot. Warum habe ich das gesagt? »Das soll nur heißen, dass ich es dir nicht an den Kopf werfe.«
»Was genau hab ich dir denn an den Kopf geworfen? Ich habe mich nur entschuldigt …«
»Es war eine unangemessene Entschuldigung.« Eine Pause tritt ein und wir starren uns an. Ich weiß nicht, wer von uns als Erster anfängt zu lachen. Wir prusten beide ziemlich gleichzeitig los. »Okay«, gebe ich zu, »das war jetzt echt bescheuert.«
»Ich werde versuchen, mich in Zukunft angemessener zu entschuldigen.«
»Tu das.«
Er lächelt, und die ganze Spannung ist weg. »Aber ich bin irgendwie froh …«
»Froh worüber?«
»Dass Isabella nicht recht hat. Mit dir und Harry. Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber ich wäre echt enttäuscht, wenn du mit ihm gehen würdest.«
Ich erstarre zur Salzsäule, zwinge mich aber zu einem beiläufigen Ton. »Wieso das?«
»Ich glaube einfach, dass er ein ziemlicher Fiesling sein kann. Zumindest mit Mädchen.« Er senkt die Stimme. »Du hast was Besseres verdient, Franny.«
»Ach ja?«
»Klar.« Und noch leiser fügt er hinzu: »Du bist etwas ganz Besonderes.«
Ich schaue ihn verblüfft an.
Was soll ich dazu sagen? Danke?
Oder: Ist das dein Ernst?
Wie wär’s mit: Warum bist du mit Isabella zusammen, wenn du mich für so etwas Besonderes hältst?
Ich will, dass er weiterredet. Doch während ich mir noch überlege, was ich sagen kann, damit er weiß, wie dringend ich will, dass er weiterredet, ruft er: »Warte kurz!« Dann läuft er hinüber zum Wohnheim, wo einer der Hausmeister versucht, einen riesigen Müllsack durch die Tür zu bugsieren. Alex hält sie für ihn auf und hilft ihm dann, den Sack auf die Rückseite des Gebäudes zu tragen.
Bis er wiederkommt, sind auch die drei Raucher von ihrem Spaziergang zurück, und ich sage mir, dass ich einfach zu viel in ein Kompliment von jemandem hineininterpretiere, der einfach nur zu allen nett sein will.
Nachdem ich Taille, Hüfte, Brustumfang und Beininnenlänge von allen, die abzumessen sind, abgemessen habe – und das sind eine ganze Menge, schließlich nehmen fast fünfzig Schüler an dem Theater-Workshop teil –, hat Amelia mich dazu verdonnert, bereits vorhandene Kostüme aus der Requisite im Untergeschoss zu ändern. In der Regel heißt das, die Sachen enger zu nähen. Jetzt müssen sie Schülern aus der Highschool passen, während die Mansfield-Schauspieler im Collegealter sind und mit ihrer Figur zu kämpfen haben. Was ein Glück für mich ist. Es ist immer einfacher, eine Naht enger zu machen, als etwas herauszulassen, vor allem da einige Kostüme schon ein paarmal zum Einsatz gekommen sind und geändert wurden und kein Zentimeter Stoff mehr übrig ist. Wenn ich einen Taillenbund oder ein Mieder weiter machen muss, bedeutet das, dass ich einen Stoffstreifen einsetzen muss.
Das ist eine knifflige Arbeit, und so schmerzt mir bald der Nacken vom ständigen Über-den-Stoff-gebeugt-Sein, Auftrennen und wieder Zunähen. Deshalb kommt mir am Dienstagmorgen Amelias Bitte sehr gelegen, ein paar gelbe Strickstoffmuster ins Theater zu bringen, wo gerade Was ihr wollt geprobt wird. Der Regisseur soll entscheiden, welchen Stoff sie für Malvolios Strümpfe verwenden soll.
Ich gehe den Flur hinunter und durch die Tür in der Nähe der Hinterbühne, wo das gesamte Ensemble versammelt ist. Charles sieht mich hereinkommen, gibt mir jedoch mit einer Geste zu verstehen, dass ich kurz warten soll. Nur zu gern setze ich mich im Zuschauerraum in die erste Reihe und schaue ihnen beim Proben zu. Mich zieht absolut nichts zurück ins Atelier, und ich wollte sowieso schon die ganze Zeit wissen, wie die Stücke umgesetzt werden.
Die Schauspieler arbeiten immer noch mit Drehbuch und scheinen noch keine rechte Vorstellung davon zu haben, wo sie auf der Bühne stehen sollen, doch je länger ich ihnen zuhöre, desto beeindruckter bin ich. Aber nicht überrascht. Ich habe mir im Internet die Bewerbung für das Ferienprogramm in Mansfield angeschaut und weiß, dass man ein Video von einer Aufführung einreichen muss und dass die Konkurrenz groß ist. Aus über vierhundert Bewerbungen werden achtundvierzig Schüler ausgewählt. Diejenigen, die es schaffen, gehören also zu den besten Laienschauspielern sämtlicher Highschools des Landes.
An meiner Schule haben wir vor ein paar Jahren ebenfalls Was ihr wollt aufgeführt, und ich weiß immerhin noch, dass die Szene, die sie gerade proben, ziemlich am Ende des Stückes kommt, wenn das ganze Verwirrspiel aufgelöst wird und die richtigen Paare schließlich zusammenfinden.
Es läuft gut, bis irgendwann eine zu lange Pause entsteht. Alle blicken sich unsicher um.
Charles schaut in sein Drehbuch. »Antonio ist dran. Das bist du, Wilson, oder?«
Wilson, ein engelsgleicher Junge mit Brille, meldet sich: »Sorry – jetzt komme ich etwas durcheinander. Ich spiele in dieser Szene schon den Narren.«
Charles lässt eine derbe Fluchkanonade los, der sofort ein »Das habt ihr jetzt nicht gehört, Leute« folgt.
Harry wedelt mit der Hand vor seiner Brust herum. »Himmel, ich glaube fast, der junge Mann hat geflucht. Unsere unschuldigen jungen Ohren werden nicht wiedergutzumachenden Schaden nehmen!«
»Halt die Klappe, Harry.« Charles schüttelt den Kopf. »Ich habe ganz vergessen, dass in einer Szene sowohl Antonio als auch der Narr auftreten.«
»Ich könnte für jede Rolle einen anderen Hut aufsetzen und immer abgehen und wieder auftreten …«, schlägt Wilson vor.
»Das ist doch lächerlich«, sagt Marie.
»Ich könnte Antonio einfach aus der Szene streichen, aber dann würden ein paar gute Dialoge verloren gehen.« Charles dreht den Kopf hin und her, als hoffte er, etwas Hilfreiches zu entdecken.
Was er entdeckt, bin ich, die still in der ersten Reihe sitzt und Strumpfmuster auf dem Schoß hält.
Er kommt an den Bühnenrand und blickt zu mir herunter. »Du bist doch die Tochter von Amelia, stimmt’s?«
»Du lieber Himmel, nein. Ihre Nichte.«
»Klar, sorry, das hab ich ja auch gemeint. Pass auf, könntest du mir einen Gefallen tun? Ich brauche noch eine Person, die hier steht und den Text dieser einen Rolle spricht. Ich will nur sehen, ob wir sie in der Szene brauchen oder nicht. Würdest du das tun?«
»Aber klar!« Ich bin ganz aufgeregt. Ein Grund, nicht gleich wieder ins Atelier zu müssen, und eine Chance, auf der Bühne zu stehen, wenn auch nur ganz kurz. Ich laufe zur Treppe und nehme immer zwei Stufen auf einmal. Julia winkt mir zu. Ich winke zurück. Harry salutiert. Ich salutiere ebenfalls. Marie wackelt nicht gerade begeistert mit den Fingern. Ich wackele genauso wenig begeistert zurück.
Charles gibt mir ein Drehbuch und sagt mir, wo ich mich hinstellen soll. »Kennst du das Stück?«, fragt er. »Weißt du, wer Antonio ist?«
»Das ist doch der Typ, der Sebastian vor dem Ertrinken rettet, oder? Und dann geht’s noch irgendwie um Geld, das er ihm geliehen hat, nur dass er es dessen Zwillingsschwester gegeben hat, die genauso aussieht wie er, weil sie als Junge verkleidet ist. Richtig?«
Charles lacht. »Genau richtig. Du kennst deinen Shakespeare.«
»War nur geraten.«
»Ja klar. Okay, Leute, dann gehen wir noch einmal zurück zu Sebastians Auftritt.« Er tippt auf mein Drehbuch. »Genau an diese Stelle – äh, ich hab deinen Namen vergessen.« Ich sage ihm, wie ich heiße, und er nickt. »Okay, dann machen wir hier weiter. Warte mal – brauchst du die?«
Ich schaue an mir hinunter und sehe, dass ich immer noch die Stoffmuster in der Hand halte. »Das sind Muster für Malvolios Strümpfe – du sollst eines aussuchen.«
»Mach ich.« Er nimmt sie mir ab und steckt sie in seine Tasche. »Okay. Und mach dir keine Gedanken, wie gut du liest oder so, Franny. Ich will nur herausfinden, ob Antonio die Szene bereichert oder nicht.«
»Verstanden.«
Wir fangen an der besagten Stelle an und bald kommen wir zu Antonios Text. Im Grunde muss er nur Marie (Viola) anstarren und den Typen, der Sebastian spielt (Lawrences Zimmergenosse Raymond, der Marie nicht unbedingt ähnlich sieht. Aber ich weiß, dass sie identische Kostüme tragen und sich die Haare mit auswaschbarer Tönung im gleichen Ton färben werden, sodass sie sich ein bisschen ähnlicher sehen dürften), und erstaunt auf die Ähnlichkeit der beiden reagieren und erkennen, dass er sie vorher verwechselt hat.
Antonio hat nur ein paar Zeilen zu sprechen, aber ich hole alles heraus, gehe überrascht um die beiden Schauspieler herum, als ich dran bin, und lasse meine Stimme sich überschlagen vor Aufregung.
Charles lacht laut und ich bin glücklich. Harry fängt meinen Blick auf, lächelt mir kurz zu und reckt den Daumen hoch, und Julia nickt anerkennend. Marie schaut nicht einmal in meine Richtung.
Wir sind ziemlich schnell fertig mit der Szene – Charles hat sie stark gekürzt. Das Drehbuch ist voller geschwärzter Zeilen. Als er mit dem Ensemble ein paar Veränderungen in der Positionierung bespricht, gehe ich zur Treppe. Da höre ich ihn meinen Namen rufen und drehe mich um.
»Musst du gleich wieder zurück oder kannst du mir noch einen Gefallen tun?«, fragt er. »Wenn du noch Zeit hast, würde ich nämlich zu gern sehen, wie du den Antonio in der ersten Hälfte der Szene spielst.«
Als ich endlich wieder auf dem Weg zurück zum Schwitzkasten bin, ist es mir egal, dass Amelia wahrscheinlich stinksauer sein wird, weil ich so lange weg war. Die Schauspielerei macht mir zu viel Freude, als dass ich mir Gedanken um Amelias Reaktion machen würde.
Ich habe hart an mir gearbeitet, um zu vergessen, wie gern ich auf einer Bühne stehe, zuerst als meine Eltern mir sagten, ich sollte mich lieber auf andere Dinge konzentrieren, und dann diesen Sommer in Mansfield, wo ich die einzige Schülerin bin, die nicht in einem Stück mitspielt. Doch schon diese paar Minuten auf der Bühne haben mich wieder daran erinnert, wie viel Spaß es macht.
In diesem Teil der Szene spiele ich meist im Dialog mit Harry – dem Herzog. Das ist mit ein Grund, warum es so gut läuft. Zum einen kenne ich ihn und kann in seiner Gegenwart ganz locker sein. Und zum anderen …
Unser Schauspiellehrer in der Middleschool hat immer davon gesprochen, dass Schauspieler auf der Bühne großzügig oder egoistisch sein können. Ein großzügiger Schauspieler zieht nicht ständig alle Aufmerksamkeit auf sich, sondern lässt auch die anderen zum Zug kommen. Ein egoistischer bringt dich ständig dazu, nur ihn anzuschauen. »Wenn ihr ein Stück gesehen habt, erinnert ihr euch vielleicht an einen egoistischen Schauspieler, aber an das Stück erinnert ihr euch nicht«, pflegte er zu sagen.
Jedenfalls ist Harry als Schauspieler großzügig und spielt bereitwillig den Stichwortgeber für meinen verwirrten, wütenden Antonio. Das wundert mich, bei seinem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, wenn er nicht auf der Bühne steht, aber vielleicht stillt er dieses Bedürfnis ja schon im richtigen Leben. Obwohl einige Zeilen aus Zeitgründen gestrichen wurden, ist mein Text noch ziemlich lang, und er tut während der ganzen Zeit nichts, was von mir ablenken würde, sondern hört nur aufmerksam zu. Als ich fertig bin, entfährt ihm ein begeistertes »Fantastisch, Franny!«, und Marie, die als Nächste mit ihrem Text dran ist, zischt ihm zu, er soll in seiner Rolle bleiben.
Wir spielen noch den Rest der Szene. Dann ordnet Charles eine fünfminütige Pause an, in der sich alle auf die fünfte Szene des ersten Aktes vorbereiten sollen. Mich winkt er in die Kulissen.
»Es hat mir großen Spaß gemacht, dir zuzuschauen«, sagt er.
»Wirklich?«
»Ja. Du bist gut. Hast du dich für diesen Workshop hier beworben? Du hast doch das richtige Alter, oder?«
»Schon, aber ich musste diesen Sommer Geld verdienen, und Amelia meinte, sie könnte eine Assistentin gebrauchen. Deswegen bin ich aus einem ganz anderen Grund hier gelandet.«
»Verstehe.« Er legt den Kopf schräg und betrachtet mich nachdenklich. »Das ist jetzt etwas unorthodox … aber warum eigentlich nicht? Wärst du daran interessiert, einzuspringen und ein bisschen zu schauspielern, da du sowieso schon hier bist? Willst du unser Antonio sein?«
»Wahnsinnig gern«, antworte ich und meine es auch so. Mein Herz schlägt einen Purzelbaum bei dem Gedanken. »Wirklich, aber ich weiß, dass meine Tante sich Sorgen macht wegen der vielen Arbeit, die wir haben …«
»Ich rede mit ihr. Das Gute an Antonio ist, dass er nur in ein paar Szenen auftritt. Wir können um deine Arbeitszeiten herum proben und versuchen, möglichst wenig von deiner Zeit in Anspruch zu nehmen.«
»Ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob sie zustimmen wird.«
»Sag mir einfach ehrlich, ob du es gern machen würdest oder nicht. Wenn ja, kriege ich das mit Amelia schon hin.«
»Was ist mit dem Jungen, der die Rolle vorher hatte?«
»Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hat. Ich musste eine Menge von seinem Text als Narr streichen, weil es sonst zu viel für ihn geworden wäre. Wenn er jetzt nur den Narren spielt, kann ich die Rolle wieder ausbauen.«
»Dann Ja. Ja. Tausendmal Ja!«
Er streckt mir die Hand hin und ich schlage ein.
Ich sprinte zum Atelier zurück. Amelia schaut auf. »Was um alles in der Welt hat dich so lange aufgehalten? Ich wollte dir eine SMS schicken, bis ich gemerkt habe, dass du dein Handy hiergelassen hast.«
»Ich musste warten, bis sie mit ein paar Szenen fertig waren. Charles hatte keine Zeit.«
»Du hättest die Stoffmuster einfach dort lassen können. So wichtig, dass man eine Stunde Arbeitszeit deshalb verliert, ist die Sache jetzt auch wieder nicht. Für welchen Stoff hat er sich denn entschieden?«
»Oh.« Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass die Muster immer noch in Charles’ Tasche stecken. »Sekunde.« Ich flitze zur Tür.
Amelia ruft mir nach: »Ich weiß nicht, was du vorhast, Franny, aber ich würde dir raten, dieses Mal schneller zurückzukommen.«
Im Theater steht Charles vor der Bühne und redet mit den Ensemblemitgliedern, die alle in den vorderen Reihen sitzen. Als ich hereinkomme, sagt Marie gerade: »Aber findest du es nicht zu verwirrend, dass ein Mädchen eine Jungenrolle spielt, wenn ich das schon als Teil der Handlung mache?«
»Dann machen wir eben eine Antonia daraus«, erwidert Charles. »Kein Problem.« Er winkt mir zu. »Hey, Franny.«
»Ich finde es schlicht seltsam«, meint Marie und fügt dann hinzu: »Ach, da ist sie ja«, als hätte sie mich erst jetzt bemerkt.
»Tut mir leid, wenn ich störe«, sage ich zu Charles, »ich hab vergessen zu fragen, welchen Stoff du für die Malvolio-Strümpfe haben willst.«
»Ach ja, stimmt.« Er zieht die Muster aus der Tasche, fragt den Jungen, der Malvolio spielt – Roger –, was der dazu meint, und gemeinsam entscheiden sie sich dann für ein strahlendes Sonnengelb. Ich nehme die Muster und gehe wieder zur Tür.
Harry berührt mich am Arm, als ich an ihm vorbeigehe. »Willkommen im Ensemble, Franny«, flüstert er.
Wenig später erscheint Charles im Atelier. Es ist kurz vor der Mittagspause. Er bittet mich, zum Essen zu gehen, damit er mit Amelia unter vier Augen sprechen kann. »Wir kriegen das schon hin«, sagt er zu mir. »Keine Sorge.«
»Was kriegen wir hin?«, fragt Amelia so argwöhnisch, dass ich sehr froh bin, mich vom Acker machen und die Sache Charles überlassen zu können.
Julia und Harry klatschen in die Hände und jubeln, als ich mich mit meinem Tablett zu ihnen setze.
»Du warst richtig gut!«, ruft Julia.
»Ja, du warst super«, meint Marie ohne jede Begeisterung. »Ich verstehe nur nicht, mit welchem Recht Charles dich ins Ensemble aufnehmen kann. Wir anderen mussten vorsprechen und bezahlen und alles, damit wir hier sein können. Sie bringen uns hier jede Menge bei, nicht? Das ist schließlich der Sinn der Sache. Wir bezahlen, um etwas zu lernen. Ich möchte, dass du mitmachst, Franny, klar. Ich glaube, du wärst eine super Bereicherung für das Ensemble und so. Ich meine nur, du solltest dir keine allzu großen Hoffnungen machen, dass du tatsächlich mitspielen kannst. Es kann nämlich gut sein, dass sich jemand beschwert, weil es nicht fair ist.«
Harry wirft ihr einen finsteren Blick zu. »Wollen wir hoffen, dass niemand auf die Idee kommt.«
»Wilson war ganz unglücklich, weil er die Rolle verloren hat«, sagt sie und wirft den Kopf zurück. »Du könntest ihm keinen Vorwurf machen, wenn er …«
»Das soll wohl ein Witz sein«, unterbricht Julia sie. »Vor gerade mal zwei Minuten hat er mir gesagt, dass er als Narr jetzt viel mehr Text bekommt, und das ist die Rolle, die er von Anfang an wollte. Und du warst ursprünglich ja auch nicht in unserem Ensemble, deshalb verstehe ich nicht, warum es dir so schwerfällt, es zu akzeptieren.«
»Mir ist es ja recht«, faucht Marie. »Ich muss Wilson falsch verstanden haben.« Sie wendet sich an mich. »Ich wünsche mir so sehr, dass es klappt, Franny. Aber was meinst du, wird deine Tante damit einverstanden sein? Du erzählst ja immer, wie viel Arbeit ihr habt und so …«
Ich zucke nur mit den Schultern. »Wir werden sehen.« Aber insgeheim frage ich mich, wie die Unterhaltung zwischen Charles und Amelia läuft, und werde mit jeder Sekunde nervöser. Ständig muss ich zur Tür schauen. Ich versuche, cool zu bleiben, aber ich weiß genau, wenn sie Nein sagt, bin ich am Boden zerstört. Ich will bei einem Stück mitspielen. Ich war lange genug nur Zuschauer.
Kurz darauf kommt Charles endlich herein, holt sich etwas zu essen und setzt sich zu zwei anderen Regisseuren, was meine Nervosität noch mehr steigert. Er hat zwar nicht gesagt, dass er mir Bescheid geben will … aber würde er das nicht tun, wenn er eine gute Nachricht hätte?
Als ich aufgegessen habe, bringe ich mein Tablett zurück und versuche mir auf dem Weg zu seinem Tisch meine Aufregung nicht anmerken zu lassen.
»Alles klar!«, ruft er mir entgegen.
»Echt?« Ich trete näher und betrachte sein Gesicht prüfend, um sicherzugehen, dass es kein Witz ist. »Echt?«
Er nickt leicht erschöpft. »Ich kann nicht behaupten, dass die Verhandlungen einfach waren … aber wir haben uns geeinigt. Ich habe versprochen, dass ich nicht zu viel von deiner Zeit in Anspruch nehmen werde, sodass wir wahrscheinlich ein paar extrem konzentrierte Proben einlegen müssen. Aber der Anfang ist gemacht, wenn du bereit bist.«
»Und wie ich bereit bin!«, erwidere ich, und wir klatschen uns ab.
»Ich habe versprochen, einen Probenplan für dich aufzustellen und ihn Amelia zum Absegnen vorzulegen.«
»Tut mir leid.«
»Hey, mach dir keine Gedanken deswegen, du tust mir schließlich einen Gefallen.«
»Danke!« Auf dem Weg zur Tür mache ich einen kleinen Freudensprung. Ich darf auf die Bühne! Ich spiele zusammen mit meinen Freunden in einem Stück!
Ich höre meinen Namen und blicke mich um. Isabella holt mich ein. »Hast du kurz Zeit?«, fragt sie. Sie riecht nach Zigarettenrauch und Parfüm. Sie trägt rehfarbene Stiefeletten zu weißen Denim-Shorts und einem gestreiften Top. Die Haare hat sie wie gewöhnlich zu einem schlampig-schicken Knoten hochgesteckt und sie hat ihre elegant geschwungene Sonnenbrille auf. Nur ein Mal würde ich sie gern in einem ausgeleierten Top sehen mit Schweißflecken unter den Achseln und unvorteilhafter Schlabberhose. Sie wäre mir sympathischer, wenn sie nicht immer so perfekt wäre.
Jedenfalls glaube ich, dass sie mir dann sympathischer wäre. Ich werde es nie mit Sicherheit sagen können, da ich bezweifle, dass sie jemals nicht perfekt sein wird.
Ich sage ihr, dass ich wieder an die Arbeit muss, dass sie mich aber gern zum Theater begleiten kann.
»Super, ich wollte sowieso in diese Richtung.« Sie passt sich meinem Schritt an, als wir den Weg entlanggehen. »Kommst du am Sonntag mit auf den Ausflug nach Portland?«
»Was gibt’s da?«
»Von hier aus fährt ein Bus in die Stadt«, erzählt sie. »Er hält an verschiedenen Stellen, und wir können uns die Haltestelle aussuchen, die uns am ehesten zusagt. Alex und ich haben uns schon angemeldet. Wir wollen nichts Großartiges unternehmen, einfach nur herumschlendern, ein bisschen shoppen, in einem netten Restaurant etwas essen … Ein paar Leute wollen in einem der großen Einkaufszentren ins Kino gehen. Für mich klingt das nach einer verpassten Gelegenheit, etwas Neues zu entdecken, aber jeder, wie er will. Jedenfalls würde Harry gern mitkommen, aber er sagt, dass er sich nicht den ganzen Tag als fünftes Rad am Wagen fühlen will. Deshalb solltest du auch mitkommen.« Sie berührt mich leicht am Arm. »Er fragt mich ständig nach dir. Du bist in letzter Zeit sein liebstes Gesprächsthema. Er will zum Beispiel wissen, ob ich glaube, dass du so nett bist, wie es den Anschein hat, und ob mir schon aufgefallen ist, was für schöne Augen du hast – lauter solche Sachen.«
Ich schüttele stumm den Kopf. Ich weiß nicht, was hier abgeht, aber es passt zu dem, was Alex gesagt hat – dass Isabella glaubt, Harry und ich könnten ein Paar werden. Aber das wird nicht passieren.
Sie interpretiert mein Schweigen als Verlegenheit. »Du glaubst mir nicht, oder?« Vergnügt drückt sie meinen Arm. »Das hätte ich mir denken können. Es gibt Mädchen auf dieser Welt, die glauben, jeder Typ sei in sie verknallt. Und dann gibt es Mädchen, die nicht glauben können, dass auch nur ein einziger Typ in sie verknallt sein könnte, und die demzufolge sämtliche Signale übersehen.«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich in keine dieser beiden Kategorien falle. »Pass auf, Isabella. Ich weiß, dass Harry ein guter Freund von dir ist, und man kann auch viel Spaß mit ihm haben. Aber er ist auch …« Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.
»Ein Typ, der mit allem flirtet, was sich bewegt?«, hilft sie nach.
Ich nicke, überrascht von ihrer Ehrlichkeit.
»Ich weiß, ich weiß.« Sie verdreht die großen ausdrucksvollen Augen. »Glaub mir, ich weiß es. An unserer Highschool zieht er eine lange Spur der Verwüstung hinter sich her. Die Mädchen glauben immer, er mag sie mehr, als es tatsächlich der Fall ist, und er bekommt dauernd Schwierigkeiten deshalb. Schau dir nur Julia und Marie an.« Sie tut die beiden mit einem Fingerschnippen ab. »Tatsache ist, du hast recht – er ist Weltmeister im Flirten. Aber das ist er nur an der Oberfläche. Tief drinnen ist er total in Ordnung.«
»Das glaub ich dir«, erwidere ich höflich. Überzeugt bin ich davon nicht.
»Ich will jetzt auch keine große Sache daraus machen. Du stehst nicht unter Druck, wenn du mitkommst. Ich will euch nicht verkuppeln oder so – ich denke nur, wir hätten zu viert alle viel Spaß.«
»Ich würde gern mitkommen, aber ich trau’ mich nicht, Amelia zu fragen. Durch die Proben fällt eh schon ein Teil meiner Arbeitszeit weg …«
»Ich rede mit ihr«, sagt sie zuversichtlich. »Ich schaffe es immer, dass die Leute tun, was ich will.«
»Das stelle ich mir ausgesprochen nett vor.«
»Kann sein, dass ich leicht übertrieben habe.« Wir sind fast am Theater angekommen. Sie bleibt unvermittelt stehen und wendet sich mir zu. »Kann ich dich was fragen?« Ich nicke, und sie fährt stockend fort: »Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber mir ist aufgefallen, dass du und Alex …« Sie zögert und beginnt dann von Neuem: »Ich weiß ja, dass du Alex und Julia seit der Middleschool kennst. Vielleicht habe ich deshalb manchmal das Gefühl, dass ihr beide …« Wieder eine Pause. »Ihr seid offenbar gute Freunde und das ist super. Aber ich habe mich gefragt … gibt es etwas, was ich über euch wissen sollte? Ich mag ihn nämlich wirklich sehr gern.« Sie lacht kurz. »Große Überraschung, was? Ich hab damit nicht unbedingt hinterm Berg gehalten. Und ich glaube, Alex gehört nicht zu der Sorte Jungs, die … »Sie hält erneut inne. »Es ist nur so, dass ihr beide euch anscheinend sehr nah seid, und wenn es etwas gibt, was ich wissen sollte …«
»Keine Sorge«, beruhige ich sie, »wir sind nur befreundet.«
»Sicher? Ich sehe euch manchmal miteinander reden und …«
Das ist doch total bescheuert. Warum muss ich sie beruhigen? Sie ist schließlich diejenige, für die er sich entschieden hat. Aber was soll’s. »Im Ernst? Ich glaube, er steht total und hundertprozentig auf dich.«
Sie nickt langsam, lässt meine Worte sacken und beobachtet mich dabei ganz genau, als versuchte sie, etwas herauszuhören, was ich nicht laut sage. »Ich hoffe, du hast recht«, erwidert sie schließlich nur und begleitet mich dann weiter zum Schwitzkasten, wo sie ihren Charme für Amelia anknipst.
Sie braucht keine fünf Minuten, bis sie erreicht hat, was sie will. Sie macht Amelia Komplimente wegen der Kostüme, sagt ihr, was für ein Glück es für uns sei, dass sie die Sachen entwirft, ergeht sich dann in der Beschreibung, was für gute Freundinnen sie und ich geworden seien, und sagt dann: »Sie müssen erlauben, dass Franny am Sonntag mitkommt. Es ist unsere einzige Gelegenheit in diesem Sommer, Portland zu erkunden, und ohne sie macht es keinen Spaß.«
Zu meiner Überraschung nickt Amelia nur kurz. »Natürlich kann sie mitkommen.«
»Das wäre dann also geregelt«, meint Isabella mit einem zufriedenen Lächeln, als sie zur Probe geht. »Ich sage Harry und Alex, dass du mit von der Partie bist.«
Sobald sie weg ist, dreht sich Amelia um hundertachtzig Grad. Sie beklagt sich über die viele Arbeit, die sie hat, dass sie mich an sieben Tagen in der Woche von morgens bis abends braucht, dass es schon schlimm genug ist, dass wegen der Proben so viele Arbeitsstunden wegfallen, und ob ich überhaupt zu schätzen weiß, was für Opfer sie bringt, nur damit ich meinen Spaß haben kann und …
Ich unterbreche sie. »Okay. Ich gehe nicht mit.« Sobald die Worte raus sind, bin ich enttäuscht. Bei der Vorstellung, nicht mitzukommen, merke ich erst, wie gern ich es täte.
Amelia wedelt mit der Hand. »Ich habe versprochen, dass du gehen kannst, und ich halte mein Wort.« Die Art und Weise, wie sie das Ich betont, ist fast schon ein Vorwurf. Als hätte ich sie irgendwie betrogen, nur weil ich an einem Tag in der Woche ein paar Stunden weggehen will. Ich beschließe, mein Angebot zu bleiben nicht zu wiederholen. Sie murrt noch eine Weile vor sich hin, als ich meine Näharbeit aufnehme, und es nervt so, dass ich sie tatsächlich bitte, ihre Folkmusik einzuschalten.
Was echt gruselig ist: Ich habe das Gefühl, dass ich allmählich anfange, Joan Baez und Joni Mitchell zu mögen. Bald trinke ich Kräutertee, trage selbst genähte Röcke und hefte in meiner Freizeit Troddeln an Sofakissen.
So weit ist es schon mit mir gekommen.