Zweite Szene
Tante Amelia will, dass ich einen Tag vor den Schülern, die sich für die Theater-Workshops angemeldet haben, bei ihr bin, damit sie mir alles zeigen kann, bevor es zu verrückt zugeht. Das Programm fängt Ende Juni an, sodass ich nach dem letzten Schultag noch zwei herrliche Wochen lang an anderer Leute Pool herumsitzen und die Wiederholungen der ganzen Fernsehsendungen anschauen kann, die ich während der Prüfungen verpasst habe.
Der Flug von Phoenix nach Portland ist leider nur kurz. Ich bin noch nicht so oft allein geflogen. Okay, in Wahrheit bin ich noch nie allein geflogen. Ich bin überhaupt erst ein Mal geflogen, und ich bekomme eine Gänsehaut, als ich beim Start und bei der Landung aus dem Fenster schaue und dann meinen Sitznachbarn, einen Mann mittleren Alters, geheimnisvoll anlächele. Ich überlege, ob er mich nett findet und froh ist, dass er nicht neben irgendeinem alten fetten Kerl sitzen muss. Bis auf ein »Entschuldigung«, wenn wir mit den Ellbogen aneinanderstoßen, reden wir nicht miteinander, sodass ich es nicht erfahre.
Amelia begrüßt mich am Flughafen mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange und einem »Du bist aber groß geworden«. Dann fährt sie mit mir zum Campus, der sehr blattgrün und hübsch ist.
Ich kenne eine Menge Schüler, die sich am Mansfield College bewerben wollen, aber für mich ist es zu klein und zu ruhig. Manchen Leuten gefällt das. Für mich muss es ein bisschen aufregender sein, wenn ich vier Jahre meines Lebens dort verbringen soll. Die Uni in New York wäre ideal. Ich will unbedingt dorthin.
Im Sommer, wenn keine Studenten mehr hier sind, wirkt Mansfield besonders verschlafen, wie eine Geisterstadt. Doch Amelia sagt ohne jede Begeisterung, dass sich das schlagartig ändert, sobald die Teilnehmer am Theaterprogramm kommen.
Im Eilschritt geht sie mit mir an ein paar Gebäuden vorbei. »Das ist die Mensa, das ist das Wohnheim, das ist das Verwaltungsgebäude. In dem Wäldchen dort habe ich ein paar Studenten beim Rauchen erwischt, deshalb erwarte ich, dass du dich fernhältst. Da wir gerade beim Thema sind: Du rauchst besser nicht. Und trinkst nicht. Oder noch etwas Schlimmeres. Ich schicke dich auf der Stelle zurück, wenn ich dich bei so etwas erwische. Und denk bloß nicht, das tut sie ja doch nicht, denn ich verspreche dir, ich tue es.«
Der Rundgang endet am Theater, wo Amelias Atelier ist. Sie führt mich hinein mit den Worten: »Na, dann wollen wir mal sehen, wie gut du nähen kannst.«
Meine Mom hat es mir schon vor langer Zeit beigebracht. Ihre Mutter – die von meiner Mom und Amelia – war gelernte Schneiderin, drum können beide Töchter gut nähen. Mom nutzte ihre Begabung immer nur, um Halloweenkostüme für mich und William zu nähen. Da Mom es aber für wichtig hält, dass man ein paar praktische Dinge selbst kann, wie zum Beispiel kochen und nähen und putzen, hat sie dafür gesorgt, dass William und ich die Grundlagen beherrschen.
Ich halte mich für kompetent, aber nachdem Amelia mich ein paar Säume hat nähen lassen, teilt sie mir mit, dass meine Stiche beim Nähen mit der Hand kleiner und fester sein müssten und dass ich an der Maschine einen Bleifuß hätte.
»Das überrascht mich gar nicht«, fügt sie hinzu. »Deine Mutter war genauso – schnell fertig zu werden war ihr wichtiger als die Qualität der Arbeit. Kein Wunder, dass sie es nicht beruflich macht.«
»Ich glaube nicht, dass sie jemals Näherin werden wollte«, bemerke ich.
»Na klar, das sagt sie jetzt natürlich.«
Ich halte es für klüger, nicht weiter darüber zu diskutieren, und schaue mich in dem kleinen Atelier um. Es hat mehrere Fenster, und die beiden Nähmaschinen stehen nebeneinander. Außerdem ist es wahnsinnig heiß, und das, obwohl wir noch nicht mal Juli haben. Ich muss also davon ausgehen, dass es im Lauf der nächsten sechs Wochen noch heißer wird. Der eine stinknormale Ventilator hat überhaupt keine Chance gegen die Sonne, die durch die Fenster hereinflutet, doch Amelia erklärt mir, dass wir die Jalousien nicht herunterlassen können, weil sie Licht braucht.
»Meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher«, meint sie, und das stimmt wahrscheinlich auch, denn überall liegen Lesebrillen herum, damit sie, wo sie geht und steht, eine in Reichweite hat.
»Und wie funktioniert das jetzt alles?«, frage ich und stelle mich schon mal auf sechs Wochen schwitzen ein. »Was für Kostüme nähen wir denn?«
»Wir haben fünf Wochen Zeit, um Kostüme für vier verschiedene Aufführungen zu entwerfen und fertigzustellen«, antwortet sie mit einer seltsamen Mischung aus Düsterkeit und Stolz. »Ich habe schon mit den Regisseuren gesprochen und weiß so ungefähr, was sie sich vorstellen, aber richtig loslegen können wir erst, wenn das Casting abgeschlossen ist und wir bei den Schülern Maß nehmen können. Das dauert immer ein paar Tage. Bis dahin recherchieren wir in den literarischen Quellen, durchforsten die Kostümkammer und überlegen, welche Stoffe wir nehmen.«
»Wie viele Mitwirkende sind es insgesamt?«
»Achtundvierzig. Zwölf in jedem Stück.«
»Das sind eine Menge Kostüme«, stelle ich fest.
Amelia hebt die Arme. »Es ist unmenschlich viel Arbeit! Hunderte von Kostümen – die meisten Mitwirkenden spielen mehrere Rollen – und alle müssen zur selben Zeit fertig sein.«
Ich lasse mich auf den Hocker fallen. »Und wir sind nur zu zweit?«
»Ich mache das seit fünfzehn Jahren jeden Sommer«, erwidert sie fast stolz. »Mit nur einer Assistentin, genau wie jetzt. Leicht ist es nie, aber es klappt immer. Du kannst dich allerdings jetzt schon auf viele Überstunden und auf harte Arbeit gefasst machen.«
»Entwirfst du alles neu?«
»Nicht alles. Ich kaufe ein paar Sachen und nehme, was geht, aus der Kostümkammer des College.«
Ich bin erleichtert. »Ach, dann ist es ja nicht so schlimm.« »Immer noch ziemlich schlimm. Wir müssen alles ändern. Die jungen Mädchen heutzutage sind entweder zu dick oder zu dünn. Normale Figuren gibt es gar nicht mehr.«
»Ich muss doch sehr bitten«, erwiderte ich mit gespielter Entrüstung.
Ich meine es nicht ernst, doch sie schaut mich mit zusammengekniffenen Augen an, legt den Kopf mit der langen schmalen Nase etwas zurück und mustert mich. »Falls du ein Kompliment hören willst, könnte es sein, dass niemandem danach ist, dir eins zu machen.«
»So war das auch nicht gemeint.« Was übrigens stimmt.
»Deine Figur ist jetzt ganz nett, aber werd erst mal zwanzig, dreißig Jahre älter. Die Schwerkraft und die Zeit setzen einer Frau schrecklich zu. Ich hatte einmal deine Figur.«
»Wie kommt es dann, dass ich sie jetzt habe?«, frage ich fröhlich.
Sie seufzt nur. »Die Zeit und die Schwerkraft kriegen uns am Ende alle am Wickel«, verkündet sie düster. »Die Zeit und die Schwerkraft.«
Amelia zeigt mir die Kostüm- und Requisitenkammer im Kellergeschoss des Theaters und bringt mich dann zu ihrer Wohnung. Wir nehmen das Auto, da sie mich damit vom Flughafen abgeholt hat, aber normalerweise geht sie zu Fuß, wie sie sagt, da sie nicht weit vom Campus entfernt wohnt. Sie hat eine Festanstellung am College und ist zuständig für die Kostümabteilung des Fachbereichs Theater (sie hält auch Vorlesungen in Kostümdesign und Kostümgeschichte). Ihre Wohnung ist in einem Haus, das dem Mansfield College gehört. Es liegt in einer wunderschönen, teuren Gegend – sie könnte sich die Wohnung nicht leisten, wenn das College sie nicht bezuschussen würde, sagt sie. Das Gebäude hat mehrere Eingänge und einen eingezäunten Bereich mit einem briefmarkengroßen Pool und einem frei stehenden Whirlpool – in Amelias Augen ganz klar eine Brutstätte für gefährliche Keime.
Ihre Wohnung ist klein, aber sauber und hübsch. Die Möbel sind nichts Besonderes, doch an jedem Fenster hängen supertolle Vorhänge – alle selbst gemacht, versteht sich – und die Kissen auf dem Sofa und auf den Sesseln sind wahnsinnig aufwendig gearbeitet, mit Troddeln und Rüschen und Knöpfen, als stammten sie aus einem Harem.
Ich frage mich, ob Amelia vielleicht doch eine romantische Ader hat. Wenn man sie so sieht in ihrer weißen Bluse und der Baumwollhose, würde man das garantiert nicht vermuten.
»Du hast ein eigenes Zimmer, aber es gibt nur ein Bad«, erklärt sie, als sie mich herumführt. »Bitte mach das Waschbecken sauber, nachdem du es benutzt hast. Haare im Becken kann ich nicht ausstehen.«
»Ich versuche, daran zu denken«, erwidere ich. »Und danke, dass ich bei dir wohnen kann.«
»Ich freue mich auf die Gesellschaft.«
Sie klingt genauso steif wie ich, und ich frage mich, ob sie tatsächlich meint, was sie sagt. Meine Mom behauptet, diese ganze Geschichte sei Amelias Idee gewesen, doch jetzt habe ich den Eindruck, als würde sie sich in meiner Gegenwart unbehaglich fühlen.
Im Gästezimmer packe ich meine Sachen aus. Es ist genauso klein und sauber wie die ganze Wohnung. Amelia kocht inzwischen Nudeln zum Abendessen. Sie mischt sie mit einem Pesto aus dem Glas und taut Rosenkohl als Beilage auf. »Ab morgen ist die Mensa offen, und du kannst so viele Mahlzeiten dort einnehmen, wie du magst«, sagt sie, als wir uns an ihren kleinen Esstisch setzen. »Ich bin sicher, dass du lieber mit Gleichaltrigen zusammen bist.«
»Hier zu essen ist auch schön«, erwidere ich, aber sie hat natürlich recht. Außerdem … tiefgefrorener Rosenkohl? An meinem ersten Abend hier? Also wirklich!
Nach dem Essen schaltet sie den Fernseher ein, macht es sich mit einer Tasse Kamillentee gemütlich und schaut Immobilienjäger International.
»Ich würde gern eine Weile in Europa leben«, meint sie in einer Werbepause.
»Und warum tust du es dann nicht?«
»Weil das Leben so nicht funktioniert.«
Ich weiß wirklich nicht sehr viel über meine Tante, außer dass sie älter ist als meine Mutter und schlanker und schlechter drauf. Wenn sie uns früher besuchen kam, sind William und ich immer auf Abstand gegangen, denn wenn wir ihr zu nahe kamen, packte sie uns am Arm und fragte uns über unsere schulischen Leistungen und über unsere Freizeitaktivitäten aus. Wenn sie dann hörte, was wir in unserer Freizeit machten, schüttelte sie in schöner Regelmäßigkeit den Kopf und schürzte die Lippen auf eine Weise, die vermuten ließ, dass wir ihren Erwartungen nicht entsprachen.
Ich weiß, dass sie mal verheiratet war, aber das ist lange her, da war ich noch gar nicht geboren, und zu mehr als einem platten »Es hat nicht funktioniert« ließ sich meine Mom nicht bewegen. Soviel ich weiß, hatte Amelia seitdem keinen Freund mehr. Es ist natürlich möglich, dass sie ein sehr viel aufregenderes Privatleben hat, als uns bekannt ist, aber nach dem heutigen Tag mit ihr bezweifle ich das irgendwie.
Was mein Mitgefühl weckt. Arme Tante Amelia. Sitzt hier in dieser kleinen, spärlich möblierten Wohnung und näht den ganzen Tag Kostüme für andere Leute.
Deshalb sage ich: »Hey, vielleicht könnten wir beide irgendwann einmal zusammen nach Europa reisen.«
»Und wer soll das bezahlen?«, blafft sie als Antwort. »Deine Mutter vielleicht? Oder ich? Wir kommen beide gerade so über die Runden. Das sind nur Träume, Franny, aber davon kann man nicht leben.«
»Dann eben nicht«, entgegne ich, und wir warten schweigend darauf, dass die Werbepause zu Ende geht.
Als wir am nächsten Morgen zu Fuß zum Campus gehen, spüre ich den Unterschied in der Luft. Es ist, als wäre das College in den letzten zwölf Stunden lebendig geworden. Aus der Mensa riecht es nach Brot und Kaffee, und ich bin froh, dass Amelia mir eine Essenskarte besorgt hat.
»Heute essen wir hier zu Mittag, ja?«, frage ich hoffnungsvoll.
»Ich esse nicht in der Mensa. Ich habe ein Mal da gegessen und das hat mir gereicht. Ich habe fünf Haare auf meinem Teller gefunden. Es wundert mich, dass die Lebensmittelkontrolleure noch nicht Anzeige erstattet haben. Aber für dich ist es sicher okay. Jugendliche haben einen Magen aus Stahl.«
Wir gehen in ihr Atelier und sie weist mir meine Arbeit für die nächsten Stunden zu: Ich soll eine aufgegangene Naht an einem riesigen Bühnenvorhang zunähen. Das Nähen an sich ist nicht schwierig, ich kann es mit der Maschine machen, aber mit ganzen Armladungen voll Samt zu kämpfen ist eine anstrengende, schweißtreibende Angelegenheit, und die Zeit vergeht nur langsam. Die Folkmusik der Siebziger – nur von Frauen gesungen und gespielt –, die Amelia leise im Hintergrund laufen lässt, verstärkt meine innere Unruhe noch.
Den ganzen Morgen über höre ich draußen auf dem Hof fröhliche Stimmen, Autos fahren vor, und Türen werden zugeschlagen. Die Schüler treffen ein, keine Frage. Als Amelia schließlich meint: »Du kannst genauso gut gehen – du konzentrierst dich ja sowieso nicht mehr auf deine Arbeit«, muss sie mir das nicht zwei Mal sagen. Innerhalb von Sekunden bin ich aufgesprungen und zur Tür hinaus.
Draußen bleibe ich kurz stehen und blinzele. In der grellen Sonne bin ich erst einmal ganz benommen.
Zig Kids in meinem Alter laufen hin und her, begrüßen sich und kreischen vor Freude. Sie ziehen und schleppen ihr Gepäck über den Hof, und im Wohnheim und in der Mensa gleich daneben herrscht ein reges Kommen und Gehen.
Ein paar Meter von mir entfernt sehe ich, wie ein Mädchen einen Jungen am Arm packt. »Du musst Jorey sein!«, ruft sie. »Ich kenne dich von deinem Profilbild!«
»Carson?«, fragt er. »Carson Bailey?«
»Oh mein Gott, ich glaub’s einfach nicht, dass wir uns nach den endlosen Chat-Sessions tatsächlich treffen!« Sie kreischt und er kreischt und sie hüpfen auf und ab. »Du bist eine Art männliches Gegenstück von mir! Ich finde dich total irre!«
»Und ich finde dich total irre!«
Noch mehr Kreischen und noch mehr Auf-und-ab-Gehüpfe.
Ohne ein bestimmtes Ziel schiebe ich mich durch das Gewühl und überlege: Wenn ich nur mit einer Person, die einigermaßen nett wirkt, in Kontakt kommen kann, wird die mich wieder jemandem vorstellen, und schon kenne ich Leute, zu denen ich mich in der Mensa an den Tisch setzen kann. Ich werde nicht den ganzen Sommer allein mit Amelia verbringen.
Aber ich komme mir seltsam vor. Ich gehöre nicht dazu. Irgendwie gehöre ich schon dazu, aber irgendwie auch wieder nicht.
So ist das nun mal.
Mir fällt ein Mädchen auf, das mühsam versucht, sich mit zwei großen Taschen durch die Wohnheimtür zu zwängen. Ich stürze hin und halte ihr die Tür auf. »Danke«, sagt sie, als sie sich durchschiebt. »Das ist echt nett von dir.«
Ein paar andere wollen wieder hinaus, und da ich die Tür schon mal halte, muss ich sie auch für sie aufhalten. Alle danken mir, aber keiner bleibt stehen.
Endlich entsteht eine Lücke im Verkehr und ich kann die Tür loslassen. Ohne mich umzuschauen, mache ich einen Schritt rückwärts und stoße fast mit einem schlanken Jungen mit großen braunen Augen zusammen. »Sorry!«, entschuldigt er sich sofort.
»Meine Schuld.«
Er schüttelt den Kopf, um mir auf freundliche Art zu zeigen, dass es doch seine Schuld war, und geht um mich herum ins Wohnheim. Ich beschließe, ihm zu folgen und mir das Haus von innen anzuschauen.
Ich gelange in eine große Halle, die von einem Treppenhaus beherrscht wird wie in einem Industriegebäude. Ringsum an den Wänden verlaufen auf Augenhöhe Anschlagbretter, an denen schon jede Menge Anschläge hängen. Die meisten weisen darauf hin, dass sich nach 21 Uhr nur noch Mädchen im dritten Stock aufhalten dürfen. Ich schlendere daran vorbei und dann unter einem Bogen hindurch in einen riesigen Aufenthaltsraum mit jeder Menge Sofas und Sessel, einer ganzen Reihe Verkaufsautomaten, einem Klavier und einem Fernseher.
Kein Mensch hängt hier drin ab. Ein paar Kids stecken den Kopf herein und kommentieren: »Ganz nett!« oder »Krass!«, je nachdem, was sie davon halten. Aber alle gehen weiter, wahrscheinlich um ihre Sachen auszupacken oder ihren Erkundungsgang fortzusetzen.
Ich schlendere zurück in Richtung Treppe und überlege, ob ich raufgehen und einen Blick in die Zimmer werfen soll. Ich komme im selben Moment an die Treppe wie zwei Mädchen mit jeder Menge Gepäck und mache Platz, damit sie zuerst hinaufgehen können.
Eine der beiden bedankt sich mit einem flüchtigen Blick auf mich. Sie ist groß und dünn und hat einen hellbraunen Teint, wilde schwarze Korkenzieherlocken, die sie mit einem breiten Stirnband zurückgebunden hat, und große dunkle Augen, umrahmt von einer Brille mit dickem Rand. Sie trägt klobige schwarze Schnürstiefel, eine kurze Jeans und ein enges Top.
»Keine Ursache«, erwidere ich.
Das andere Mädchen ist noch größer. Sie bleibt stehen. »Franny? Franny Pearson?«
Ich fahre herum. Sie ist hübsch, hat dichte dunkle, stufig geschnittene Haare und große blaue Augen. Und ich kenne sie! »Julia? Oh mein Gott!«
Wie sich herausstellt, kann ich genauso gut kreischen wie die anderen Mädchen hier.
Ich kenne jemanden!
Zumindest kannte ich sie, damals in der achten Klasse. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.
»Ich fass’ es nicht!« Sie lässt ihre Tasche fallen und löst die Hand vom Griff ihres Rollkoffers, damit sie mich umarmen kann. »Warum habe ich deinen Namen nirgends gelesen? Du hast dich nicht in der Facebook-Gruppe von Mansfield angemeldet!«
Ich drücke sie an mich. »Stimmt, weil …«
Doch bevor ich es erklären kann, fragt das andere Mädchen: »Woher kennt ihr euch?«
Julia lässt mich los. »Wir sind zusammen in die Middleschool gegangen, aber dann sind wir auf verschiedene Highschools gewechselt und haben uns irgendwie aus den Augen verloren. Aber eigentlich hätte ich mir denken können, dass du hier bist, Franny. Du warst immer eine von den besten Schauspielerinnen.«
»Du auch«, sage ich. »Aber ich bin nicht wirklich hier.«
Das andere Mädchen zieht die Augenbrauen hoch. »Bist du ein Geist?«
»Nein, aber ich nehme nicht am Theaterprogramm teil. Ich arbeite den Sommer über hier – ich helfe meiner Tante. Sie entwirft die Kostüme.«
»Oh.« Ein kurzes peinliches Schweigen tritt ein. Dann meint Julia: »Cool. Ich wünschte, ich könnte nähen.«
»Ich auch«, pflichtet das andere Mädchen ihr bei. Sie weist mit dem Kinn die Treppe hinauf. »Wo wohnst du? Hier im Wohnheim?«
»Schön wär’s. Nein, ich habe ein Zimmer in der Wohnung meiner Tante.«
»Ich heiße übrigens Vanessa.«
Ich stelle mich vor und frage: »Kann ich euch rauftragen helfen?«
»Ja, bitte!« Julia gibt mir sofort ihre karierte Reisetasche von Burberry. »Weißt du, wie die Zimmer sind?«
Ich schüttele den Kopf.
»Julia und ich haben uns draußen unterhalten und dann festgestellt, dass wir im selben Zimmer sind«, erklärt Vanessa, als wir uns die Treppe hinaufkämpfen. Ihre Rollkoffer klacken auf jeder Stufe. »Wir wissen noch nicht, ob wir allein sind oder ob noch wer dazukommt.«
Wir kommen in den zweiten Stock. Eine verschlossene Tür führt auf den Flur. An der Tür hängt ein Schild, auf dem steht: »Nach 21 Uhr Zutritt nur für Jungen!«
»Was glauben die wohl, ändert sich nach 21 Uhr?«, frage ich mit Blick auf das Schild. Hinter der Tür sind Stimmen zu hören und man sieht verschwommene Bewegungen durch die Milchglasscheibe.
»Sex«, sagt Julia. »Nehm ich zumindest an.«
»Ich habe gehört, dass man auch schon um sieben Uhr morgens Sex haben kann«, erwidere ich. »Sonntags allerdings nicht vor fünf Uhr nachmittags.«
Vanessa lacht, als wir zum dritten Stock hinaufgehen. »Wisst ihr, was echt komisch ist? Das hier ist ein Theater-Workshop. Die meisten Jungs hier sind schwul. Wenn sie also glauben, dass alle brav und unschuldig bleiben, weil sie keine Mädchen reinlassen, sind sie bescheuert.«
»Ich bin trotzdem froh, dass wir auf verschiedenen Stockwerken sind«, bemerkt Julia, als wir den nächsten Treppenabsatz erreichen und wieder vor einer Milchglastür stehen. »Ich habe einen Zwillingsbruder, und glaubt mir, ihr wollt das Zimmer nicht mit einem siebzehnjährigen Jungen teilen. Das sind Schweine.«
»Dein Bruder …«, setze ich an, doch Vanessa hat gleichzeitig angefangen zu sprechen. »Moment, wir brauchen einen Schlüssel.« Sie jongliert mit ihren Sachen, damit sie die Karte aus ihrer Gesäßtasche ziehen kann. Dann schließt sie auf und wir gehen hinein. Der Flur zieht sich über die gesamte Länge des Gebäudes, und auf beiden Seiten befinden sich Türen.
»Zimmer 307«, murmelt Julia und lässt im Vorbeigehen den Blick über die Zimmernummern wandern. Viele Türen stehen offen, und man hört Mädchen darüber diskutieren, wer wo schläft und welche Schrankseite sie wollen.
»Da ist es – 307!« Ich sehe es als Erste. Das Zimmer liegt ungefähr in der Mitte des Flurs auf der rechten Seite.
Vanessa hat immer noch ihren Kartenschlüssel in der Hand. Auch die Zimmertür lässt sich damit öffnen.
Das Kartenschloss ist das einzig Moderne hier. Ansonsten ist das ein typisches nüchternes Wohnheimzimmer, in dem sich wahrscheinlich seit dreißig Jahren nichts verändert hat: weiße Wände, Stockbetten, zerkratzte Holzschreibtische und Kommoden. An den Fenstern sind einfache Plastikrollos angebracht.
»Sieht so aus, als wären wir zu viert«, bemerkt Julia, da zwei Doppelstockbetten und vier Kommoden in dem Zimmer stehen.
»Gut möglich, dass die Zimmer nur während dem Semester voll belegt sind und dass es während den Sommerkursen anders ist«, meine ich.
»Aber drei sind wir auf jeden Fall – jemand hat schon seine Sachen hier abgeladen.« Auf einem der unteren Betten liegt eine Reisetasche und daneben steht ein riesiger Rollkoffer, der schon offen ist. Eine Jeans hängt heraus und neben dem Bett liegt eine mit Strasssteinen besetzte hochhackige Sandale. Auf dem Label steht Prada.
Was sonst.
Julia und Vanessa diskutieren darüber, welches Bett sie nehmen sollen.
Julia verzieht unschlüssig ihren hübschen Mund. »Wenn ich in einem Stockbett oben schlafen muss, bekomme ich Panik. Als ich noch klein war, ist der Freund meines Bruders von oben heruntergefallen und hat sich den Arm gebrochen. Daran muss ich seitdem immer denken.«
»Dann nimm das andere unten«, rät Vanessa. »Ich schlafe sowieso lieber oben. Wenn das ganze Ding zusammenbricht, hat nicht diejenige oben ein Problem, denk ich mir, sondern das Mädchen unten.«
»Oh mein Gott, das hättest du nicht sagen dürfen. Jetzt denke ich immer nur daran.«
»Soll ich über dem anderen Mädchen schlafen, falls wir keine vierte Mitbewohnerin haben?«
»Das überlasse ich dir«, antwortet Julia, aber sie sagt nicht: Nein, bitte nicht. Es macht mehr Spaß, wenn wir das Stockbett teilen, wie ich es getan hätte.
Langsam fällt mir wieder ein, wie Julia früher war.
»Das andere ist sowieso näher beim Fenster«, erwidert Vanessa diplomatisch. »Ich mach’ jetzt mein Bett, falls wir nachher nicht mehr viel Zeit haben.« Sie klettert halb die Leiter hinauf und faltet das Bettzeug auseinander, das in einem Stapel auf der Matratze liegt.
Julia nimmt das Häufchen zusammengefaltete Bettwäsche auf ihrem Bett und legt es auf eine der Kommoden. »Lacht nicht, Leute, aber ich hab mein eigenes Bettzeug von zu Hause mitgebracht.« Sie kniet sich vor ihren nagelneu aussehenden Rollkoffer, öffnet den Reißverschluss, wühlt darin herum und zieht schließlich einen Packen ordentlich gefaltete schneeweiße Bettwäsche heraus. Lavendelduft weht zu mir herüber, als sie sich aufrichtet.
»Das war clever«, bemerkt Vanessa. Sie hängt über der Leiter und versucht das Laken unter die Matratze zu stopfen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. »Warum hab ich daran nicht gedacht?«
»Ich hab’s auf die harte Tour gelernt. Letztes Jahr hab ich Sprachferien gemacht, und das Bettzeug dort war so rau, dass ich dachte, ich schlafe auf Sandpapier. Ich war noch Monate danach überall ganz rot.«
Vanessa wirft ihr einen belustigten Blick über die Schulter zu. »Du bist ja wie die Prinzessin auf der Erbse.«
Julia klimpert mit den Wimpern. »Ja, ich bin sehr empfindlich. Aber, hey, Franny, woran denkst du bei der Prinzessin auf der Erbse?«
»Natürlich an Es war einmal eine Matratze.«
»Genau. Wir haben in der Middleschool beide eine Hauptrolle darin gespielt«, erklärt sie Vanessa.
»Und hatten eine Menge Spaß dabei«, ergänze ich.
Und daran erinnere ich mich, wenn ich an den gemeinsamen Auftritt mit Julia Braverman denke:
Das Positive: Sie schien sich echt zu freuen, dass wir gute Rollen in dem Schul-Musical bekommen hatten, und war während der Proben gern mit mir zusammen. Auch wenn ihre Eltern stinkreich waren – alle wussten das, schon damals in der Middleschool – und auch wenn sie teure Klamotten trug und die Ferien in Belize und Thailand verbrachte, war sie nicht eingebildet. Wir waren von unterschiedlichen Grundschulen gekommen und hatten einen unterschiedlichen Freundeskreis, wo es kaum Berührungspunkte gab, aber wir kamen trotzdem gut miteinander klar.
Das Negative: Julia hat sich, soweit ich mich erinnere, kein einziges Mal nach mir oder meiner Familie erkundigt. Während der Proben hörte ich jede Menge über ihr Leben. So wusste ich zum Beispiel, dass sie vor jeder Aufführung so nervös war, dass sie Durchfall bekam (das ist nicht unbedingt das, woran man sich bei jemandem, den man fast vier Jahre lang nicht gesehen hat, erinnern will, aber irgendwie kann ich dieses kleine Detail wohl nicht vergessen), und ich wusste, dass sie in Steven Segelman verknallt war, obwohl es ziemlich offensichtlich war, dass er nur Augen für Rachel Goldman hatte. Aber Julia hat sich nie die Mühe gemacht, irgendetwas Persönliches über mich zu erfahren.
Das Nervige: Sie steckte ständig in irgendeiner emotionalen Krise, suchte ständig Halt bei mir und jammerte, wie voller Angst/müde/überfordert/verunsichert/unglücklich sie sei, obwohl sie (soweit ich das beurteilen konnte) ein ziemlich angenehmes Leben führte. Ich ertrug es, da ich von den anderen Mitwirkenden keine wirklich gut kannte – meine Freundinnen waren meist Sportlerinnen und hatten mit Schauspielerei nichts am Hut – und weil sie sich immer zu freuen schien, wenn sie mich sah.
Wenn ich es mir recht überlege, ist es jetzt nicht viel anders. Sobald man von zu Hause weg ist, freut man sich über jedes vertraute Gesicht.
Jedes vertraute Gesicht, solange es nicht das deiner nervigen Tante ist, meine ich.
»Du, Julia«, sage ich in einem beiläufigen Tonfall, während ich mich recke und Vanessas Laken an meinem Ende des Bettes glatt ziehe, »was macht eigentlich dein Bruder?«
Sie zieht etwas Großes, Weißes aus ihrer Tasche – ah, ein Kissen – und schüttelt es ein wenig auf. »Alex?«, fragt sie geistesabwesend. »Dem geht’s gut, nehme ich an. So wie immer. Er ist übrigens auch hier.«
Ich drehe mich zu ihr um. »Im Ernst?«
»Mmhm. Zimmer 203.«
»Ich hab ihn draußen getroffen«, wirft Vanessa ein. Sie steigt von der Leiter und begutachtet ihr Werk, reckt sich und streicht eine Falte glatt. »Er ist richtig süß.«
»In der Middleschool war ich total verknallt in ihn«, erzähle ich leichthin und habe sofort das Gefühl, als würde ich mein zwölfjähriges Ich verraten. Damals hätte ich nicht von »verknallt« gesprochen. Ich war bis über beide Ohren und absolut unsterblich verliebt in Alex Braverman.
»Oh Gott, das waren doch alle. Und es ist immer noch so.« Julia legt das Kissen ans Kopfende ihres Bettes. »Wenigstens hast du nie versucht, dir eine Einladung zu uns nach Hause zu organisieren, nur um ihn zu treffen. Erinnerst du dich noch an Cara Sackeroff?«
»Die mit dem Glitzerlidschatten?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das war die andere Cara. Meatloaf.«
»Cara Meatloaf?«, wiederholt Vanessa ungläubig.
»Das war ihr Spitzname. Ich glaube, eigentlich hieß sie Meeloff. Oder so ähnlich.«
Ich nicke, obwohl ich mich nicht an den Spitznamen erinnere. So muss Cara in Julias Clique geheißen haben, in meiner Clique nannten wir sie nicht so.
»Jedenfalls hat sie mich gefragt, ob wir nicht dieses Englisch-Projekt zusammen machen könnten. Dann meinte sie, dass wir es aber bei mir zu Hause machen müssten, weil ihre kleine Schwester eine totale Nervensäge sei. Mir war das recht so, aber dann ist sie die ganze Zeit hinter Alex hergedackelt. Sie ist sogar in sein Zimmer gegangen, nachdem er sich dorthin geflüchtet und die Tür hinter sich zugemacht hatte, damit er sie endlich loswird. Ich durfte sie nie mehr einladen. Hätt’ ich sowieso nicht gewollt.«
»Er war echt nett zu mir«, sage ich. »Er hat mir sogar mal eine Blume geschenkt.«
»Wirklich?«
»Ja. Nach der Aufführung. Deine Eltern hatten dir einen Blumenstrauß gebracht, und ich stand neben dir, und meine Eltern waren an dem Abend nicht da – sie hatten sich gerade getrennt, und alles war noch ganz frisch, und sie konnten sich nicht einigen, wer wann kommt –, jedenfalls muss ich wohl ziemlich verloren ausgesehen haben. Da hat Alex eine Blume aus deinem Strauß gezogen und sie mir geschenkt.«
»Das ist ja süß«, sagt Vanessa.
»Die Ehre gebührt eigentlich mir«, meint Julia. »Schließlich war es meine Blume, die er gestohlen hat. Dafür werd’ ich ihn zusammenscheißen.«
»Bitte nicht!«
Sie lacht über meine Besorgnis. »War doch nur Spaß. Es freut mich, dass er es getan hat.« Sie blickt auf. »Was ist das für ein Geräusch?«
»Wahrscheinlich die Mensaglocke«, antwortet Vanessa. »Kommt, gehen wir zum Mittagessen.«
»Ich will mir nur noch andere Schuhe anziehen.« Als Julia aus ihren Turnschuhen schlüpft und ein Paar Flipflops anzieht, schaut sie mich an. »Oh, warte mal … darfst du überhaupt dort essen?«
»Ja, ich habe eine Essenskarte.« Als wir die Treppe hinunter und aus dem Haus gehen, bin ich zum ersten Mal, seit meine Mom mich gezwungen hat hierherzukommen, optimistisch, was diesen Sommer betrifft. Ich habe schon Leute getroffen, mit denen ich meine Freizeit verbringen kann, aber was noch wichtiger ist …
Alex Braveman ist hier. Und ich werde ihn sehen.
Als wir über den Hof gehen, ziehe ich das Gummiband aus meinen Haaren und schüttele den Kopf, damit sie mir locker um das Gesicht fallen. Dann fahre ich mit den Fingern durch die Wellen.
Alex Braveman ist hier. Und ich werde ihm gleich begegnen. Meine Haare müssen gut aussehen.