Dritte Szene

Ich folge Julia und Vanessa in die Mensa. An einem Ende des großen Raums befindet sich ein lang gestrecktes, geschwungenes Büfett und in der Mitte ist die Salat-Bar. Etwa ein Dutzend große runde Tische nehmen die übrige Fläche ein.

Wir stellen uns zusammen am Büfett an. Ich hole mir ein Stück Pizza und einen Brownie, Vanessa nimmt sich ein Stück Pizza und ein Schälchen Vanillepudding, und Julia nimmt erst mal gar nichts. Erst an der Salat-Bar füllt sie ihren Teller mit Kopfsalat und gießt Balsamicoessig darüber.

Wir holen uns noch was zu trinken und schauen uns dann nach einem freien Platz um. »Mir nach.« Julia geht voraus zu einem Tisch.

Sie stellt ihr Tablett vor einem leeren Stuhl neben einem extrem gut aussehenden Typen ab und fragt ihn: »Erinnerst du dich an Franny? Sie ist mit uns in die Middleschool gegangen.«

Er lächelt mich an. »Hi, Franny, schön, dich wiederzusehen.«

»Hey, Alex.« Selbst wenn ich ihn nicht wiedererkannt hätte – aber das habe ich –, wäre ich ziemlich schnell dahintergekommen, dass er Julias Bruder ist. Sie haben die gleiche gerade Nase, die gleichen unwahrscheinlich blauen Augen, die gleichen dichten dunklen Haare. Sie sind beide gelungene Exemplare ihrer Spezies, ein überzeugendes Argument für Gentechnologie.

Julia lässt sich auf den freien Stuhl neben ihm fallen. »Ihr werdet es nicht glauben, aber ich bin echt erleichtert, dass ich hier schon jemanden kenne. Ich bin gestern den ganzen Tag fast ausgeflippt, weil ich Angst vor den vielen Fremden hatte«, erzählt sie mir und Vanessa.

»Stimmt«, bestätigt Alex. »Aber sie flippt leicht aus.«

»Stimmt auch. Alex, das ist übrigens Vanessa. Sie ist meine Mitbewohnerin und kommt aus New York und ist um Längen cooler, als wir es sind.«

»Um Längen cooler, als ihr je sein werdet!«, meint Vanessa lachend. Wir setzen uns an den Tisch. »Und wer bist du?«, fragt sie den schmächtigen Jungen mit den braunen Augen, der auf der gegenüberliegenden Seite von Alex sitzt.

»Lawrence.« Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Du kommst mir bekannt vor.«

»Wahrscheinlich weil ich dich vor einer halben Stunde am Eingang zum Wohnheim fast über den Haufen gerannt hätte«, erwidere ich.

»Ach ja, richtig. Genau. War meine Schuld.«

»Nö, meine.« Wir grinsen uns an.

»Du warst Lady Larken!«, ruft Alex unvermittelt.

»War ich das?«, fragt Lawrence in gespielter Überraschung.

»Nein, ich war Lady Larken«, melde ich mich. »In Es war einmal eine Matratze

»Ich erinnere mich noch gut an dich«, sagt Alex.

»Du hast vorhin schon so getan, als hättest du mich wiedererkannt.«

»Ich wusste, dass ich dich schon mal gesehen hatte, aber eben erst hat es klick gemacht. Du warst Lady Larken und hast ein weites bauschiges Kleid angehabt. Und ein paar Lieder gesungen. Du hast eine super Stimme.«

»Danke, aber ich hab nicht selbst gesungen – ich bin nur gut im So-tun-als-ob.«

»Und wir waren zusammen in einem Kurs, stimmt’s?«

»Chemie.«

»Miss Adanasio.«

»Die allerdings nach einem Dreivierteljahr verschwunden ist, weißt du noch? Und dann haben sie diesen anderen Typen für sie eingestellt.«

»Oh, richtig«, sagt er. »Den Typen, der nie geduscht hat.«

»Ob wir in den Stücken hier wohl auch singen?«, überlegt Vanessa laut. »Ich weiß natürlich, dass es nicht unbedingt ein Musiktheater ist, aber irgendwas wird doch immer gesungen, oder?«

Die anderen diskutieren die Frage, doch ich beteilige mich nicht daran. Stattdessen greife ich ohne großen Appetit nach meinem Stück Pizza. Beim Anblick von Alex Braverman ist mir der Appetit vergangen. Mägen sind nun mal so. Da ist nicht Platz für beides – für Schmetterlinge und für Essen, das verdaut werden muss.

Ein Junge und ein Mädchen kommen an unseren Tisch. Sie kennen sich offensichtlich, denn sie haben sich untergehakt. »Ist hier noch frei?«, fragt das Mädchen.

Alle am Tisch nicken enthusiastisch, nicht nur aus lauter Freundlichkeit, sondern auch weil die beiden Neuankömmlinge einfach unverschämt gut aussehen. Als sie sich setzen und sich vorstellen – Isabella Zevallos, Harry Cartwright –, starren wir anderen sie unverhohlen an.

Harry hat graugrüne Augen und dichte dunkelblonde Haare. Wenn sie ihm in die Augen fallen, streicht er sie jedes Mal ungeduldig zurück, und sie fallen ihm ständig in die Augen, weil sie, wenn ihr mich fragt, extra so geschnitten sind. Seine Gesichtszüge sind nicht perfekt – seine Nase ist ein kleines bisschen krumm, so als hätte er sie sich schon einmal gebrochen, seine Augen stehen fast zu weit auseinander, und er hat so volle Lippen, dass sie beinahe feminin wirken – aber irgendwie passt doch alles zusammen. Als unsere Blicke sich zufällig irgendwann treffen, schaue ich schnell weg. Es ist mir peinlich, dabei ertappt zu werden, wie ich ihn so unverfroren anschaue. Doch dann merke ich, dass die anderen Mädchen am Tisch ganz genau dasselbe tun, mit Ausnahme von Isabella, die uns amüsiert beobachtet. Kurz darauf beugt sie sich zu Harry und flüstert ihm etwas ins Ohr.

Sie sind also auf jeden Fall ein Paar.

Kein Wunder. Sie sind füreinander geschaffen. Isabella ist so schön, dass sie, wenn sie auch nur einigermaßen schauspielern kann, eines Tages sicher ein Star wird. Dieses Mädchen sieht einfach fantastisch aus, allerdings nicht auf die Art fantastisch wie das hübscheste Mädchen an unserer Schule (lange blonde Haare, lange blonde Beine, lange blonde Persönlichkeit). Nein, Isabella wirkt viel erwachsener als wir anderen. Sie hat aparte hohe Wangenknochen und leicht schräg stehende Augen, die uns alle unter langen dichten Wimpern hervor mustern. Auch ihre Frisur ist erwachsen. Die Haare sind am Hinterkopf zu einem festen Knoten gedreht und festgesteckt. Damit sieht sie aus wie die Filmschauspielerinnen früher. Sie trägt ein seidiges weißes Tanktop über einer engen Jeans, hat ebenmäßige Schultern und dünne Arme und wirkt sehr elegant.

Nach der allgemeinen Vorstellungsrunde reißen sie und Harry selbstbewusst das Gespräch an sich.

»Ihr glaubt ja gar nicht, was für eine Reise wir heute schon hinter uns haben!«, beginnt Isabella. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, reckt sich genüsslich und zeigt den makellosen Hals. »Zuerst mit dem Flugzeug …«

»Nein«, berichtigt Harry, »zuerst mit dem Wagen zum Flugplatz.«

»Ach ja, richtig, dann mit dem Flugzeug, dann mit der Straßenbahn zum Shuttle-Bus, mit dem Bus zum Campus-Van, dann zu Fuß vom Wohnheim …«

»Das Einzige, mit dem wir heute nicht unterwegs waren, ist eine Pferdekutsche.«

»Oder ein Kamel.«

»Keine schlechte Idee. Ich sollte mir ein Kamel zulegen – auf den Straßen von L.A. käme es schneller voran als ein Auto. Außerdem könnte ich es Knubbel nennen.«

»Knubbel wäre ein super Name für ein Kamel«, bestätigt sie.

Julia beugt sich vor. »Ihr kommt aus L.A.? Alle beide?«

Harry lächelt sie an. Es ist ein charmantes Lächeln, aber die blitzenden grünen Augen und die wahnsinnig süßen Grübchen darunter sind fast schon zu viel des Guten. »Ja. Sogar aus demselben Stadtteil von L.A. – aus Brentwood.«

»Dann kennt ihr euch also schon länger?« Julias Blick huscht hin und her, sie checkt die Situation. Ich weiß noch gut, wie es war, als sie sich in Steve Segelman verknallt hat, und sehe vom Typ her eine gewisse Ähnlichkeit zwischen S2 und Harry. Beide sehen super gut aus. Steven hatte allerdings kein Hirn. Ich frage mich, wie das bei Harry ist.

»Wir sind schon seit der neunten Klasse beste Freunde.«

Die besten Freunde? Wirklich? Das würde bedeuten, dass sie kein Paar sind … Oh, Moment mal: Ein wahnsinnig gut aussehender Typ, dessen bester Freund ein Mädchen ist. Das kann ja nur heißen …

Dann ist er also schwul. Sorry, Julia. Und jetzt fällt mir auf, dass Lawrence Harry ebenfalls anstarrt.

Offenbar bin ich gut beraten, erst mal jeden Kerl hier für schwul zu halten bis zum Beweis des Gegenteils.

»Nicht schon Anfang der Neunten«, widerspricht Isabella. »Es war während Music Man, und du warst damals mit dieser – wie hieß die gleich wieder? –, dieses Mädchen mit den riesigen …« Sie formt mit den Finger zwei Rundungen.

»Ohren?«, fragt er verschmitzt.

Sie lacht. »Das auch. Jedenfalls hat sie mich gehasst, seit Jackson Trent mich in der siebten Klasse geküsst hat. Und jedes Mal wenn ich mit dir reden wollte, hat sie sich zwischen uns gedrängt und mich mit ihren riesigen …«

»Ohren.«

»Das auch … Sie hat mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht willkommen bin. Erst als du mit ihr Schluss gemacht hast …«

Er zieht eine Grimasse. »Das war vielleicht was. Geheule und Geschrei und Gebettel …«

»Ja, es hat dir wirklich was ausgemacht, oder? Aber wenigstens durfte ich endlich mit dir reden und da sind wir dann Freunde geworden. Und danach hast du besser aufgepasst und bist nur noch mit Mädchen gegangen, die nicht so geklammert haben.«

Mädchen. Okay, also doch nicht schwul. Aber warum sind sie dann kein Paar?

Ich geb’s auf. Früher oder später werden wir alles voneinander wissen. Ich muss mir nicht schon in der ersten Stunde alles zusammenreimen.

»Hast du auch bei Music Man mitgespielt?«, fragt Julia Harry.

»Natürlich«, antwortet Julia für ihn. »Er war Harold Hill. Harry bekommt immer die Hauptrolle.«

»Als Junge ist man im Vorteil«, meint er. »Es bewerben sich immer mehr Mädchen als Jungs für eine Rolle. Als Junge muss man nicht mal besonders begabt sein, nur bereit, sich zum Affen zu machen.« Er schaut Lawrence und Alex an. »Stimmt’s?«

»Ich nehme Sprechunterricht«, antwortet Lawrence ernsthaft, »und Schauspiel- und Tanzunterricht.«

Harry zuckt vergnügt mit den Schultern. »Es schadet natürlich nicht, wenn man hart arbeitet und Talent hat. Ich sage nur, es muss nicht sein. Schau dich doch um. Die Mädchen sind hier in der Überzahl.« Er beschreibt einen weiten Bogen mit der Hand und ich schaue mich um. Er hat recht. Auf einen Jungen kommen wahrscheinlich vier Mädchen. »Wir Männer brauchen einfach nur anzutanzen.«

»Wessen Handy ist das?«, fragt Isabella, da das unverwechselbare Brummen eines auf Vibration geschalteten Handys zu hören ist. Sie blickt sich am Tisch um. »Hat es nicht geheißen, wir dürfen unser Telefon nur abends im Zimmer benutzen?«

»Das ist meins.« Ich ziehe es aus der Tasche und lese: Die Mittagspause ist um. Danke, Amelia.

»Heut’ ist der erste Tag«, meint Alex, »ich glaube nicht, dass sie es jetzt schon so genau nehmen. Aber du solltest es wahrscheinlich trotzdem nicht so offen zeigen, Franny.«

Ich simse kurz brb zurück – ich bezweifle, dass Amelia weiß, was es bedeutet, aber sie hat ja Zeit, es herauszufinden –, bevor ich das Handy wieder einstecke. »Ist schon in Ordnung. Ich darf meins benutzen.«

»Warum das?«, will Lawrence wissen. »Bist du was Besonderes?«

»Das hat meine Mommy schon immer gesagt.« Sie stöhnen alle, und ich füge hinzu: »Aber das ist nicht der Grund. Ich kann’s benutzen, weil ich nicht an dem Programm teilnehme.«

»Was soll das denn heißen?«, fragt Isabella.

»Sie macht ein Praktikum bei der Kostümbildnerin«, schaltet Julia sich ein.

»Es ist eigentlich kein Praktikum.« Ich stehe auf. »Eher ein Job – ich arbeite für die Kostümfrau. Die auch meine Tante ist. Was kein Zufall ist.«

»Wie ist die Arbeit so?«, fragt Vanessa.

»Hast du schon von diesen Ausbeuterbetrieben aus dem neunzehnten Jahrhundert gehört, wo es immer unwahrscheinlich heiß war und die Leute unter unmenschlichen Bedingungen von morgens bis abends schuften mussten? So ungefähr musst du es dir vorstellen. Nur mit Folkmusik.«

»Klingt schlimm«, findet Harry. »Besonders das mit der Folkmusik.«

»Ja, das Gedudel kann einen fertigmachen. Trotzdem muss ich jetzt gehen.«

»Aber du kommst doch zum Abendessen wieder hierher?«, fragt Julia.

»Ich hab’s jedenfalls vor.«

»Wir halten einen Platz für dich frei, wenn wir als Erste hier sind.«

»Danke.« Ich bin seltsam berührt.

»Ach, eine Sache noch.« Harry schaut mich an. »Falls du an meinem Kostüm arbeitest, solltest du schon einmal wissen, dass ich Linksträger bin. Und dass ich auf dieser Seite eine Menge Platz brauche.«

Ich blicke ihn verständnislos an. Keine Ahnung, wovon er redet. Isabella lacht. Ich schaue Julia an, die genauso verwirrt ist. »Was soll das heißen?« Sie wendet sich an ihren Bruder. »Alex?«

Der rutscht verlegen auf seinem Stuhl hin und her. »Ich weiß das nur, weil Dads Schneider mich das mal gefragt hat und Dad es mir erklären musste. Es hat etwas damit zu tun, wie die Hose bei einem Mann sitzt …« Er gerät ins Stocken.

»Wie sie sitzt?«, wiederholt Julia verständnislos.

Aber Vanessa hat kapiert. »Er meint, auf welche Seite sie ihren Krempel packen, wenn sie die Hose anziehen«, erklärt sie gelassen.

»Oh.« Ich ziehe die Nase kraus. »Puh. So genau wollte ich es gar nicht wissen, Harry.«

Er grinst selbstzufrieden. »Ich hatte einfach das Gefühl, dass man das wissen sollte.«

»In Zukunft ignorierst du solche Gefühle besser. Bis später, Leute.«

Im Weggehen höre ich Isabella noch leise fragen: »Moment mal – sie ist wirklich nicht in dem Programm?« Die Antwort verstehe ich nicht mehr.

Ich verlasse die Mensa und bleibe draußen erst mal stehen, um mich an die schwülheiße Luft zu gewöhnen. Alle anderen sind drinnen. Hier draußen bin nur ich.

Es ist irgendwie ein blödes Gefühl, so als wäre ich von dem ganzen Spaß ausgeschlossen. Ich weiß, dass das eigentlich nicht so ist. Niemand schließt mich aus. Niemand behandelt mich wie eine Außenseiterin. Im Grunde waren sie alle echt nett zu mir. Trotzdem fühlt es sich so an.

Als ich über den Hof in Richtung Theater gehen will, muss ich zurückspringen, als ein Wagen die geschotterte Zufahrt herunterprescht. Das ist keine öffentliche Straße oder so. Am Eingang steht ein Schild, dass hier nur collegeeigene Autos fahren dürfen. Bei diesem Wagen handelt es sich allerdings um einen kleinen silberfarbenen Porsche Cabrio.

Er bremst ganz in der Nähe von mir ab. Eine Schotterfontäne spritzt auf und ein Typ steigt auf der Fahrerseite aus. Er hat glatte braune Haare und einen runden Kopf. Im Kinnbereich wirkt er etwas unterentwickelt. Da er eine Sonnenbrille trägt, kann ich seine Augen nicht sehen, aber er scheint im Collegealter zu sein. »Hallo«, grüßt er freundlich. »Wo sind die anderen alle?«

»Mensa.« Ich weise mit dem Daumen in die entsprechende Richtung.

Er beugt sich zum Wagenfenster hinunter. »Sie sagt, dass sie alle in der Mensa sind.«

Auf der Beifahrerseite steigt ein Mädchen aus. Sie sieht etwas jünger aus als er – ungefähr in meinem Alter – und mit ihren honigfarbenen Haaren, den großen braunen Augen und dem herzförmigen Gesicht ist sie ausgesprochen hübsch. Sie trägt eine sehr kurze, abgeschnittene Jeans und ein enges blaues T-Shirt. Der perfekte Körper: klein, kompakt, kurvig. »Deshalb ist es so still hier. Ich hab mich schon gefragt, ob ich mich vielleicht im Datum geirrt habe«, sagt sie zu mir. »Ich war vorher schon mal da, um meine Sachen abzustellen. Dann sind wir zum Essen gegangen. Ich wollte mir noch eine letzte gute Mahlzeit gönnen, bevor ich den ganzen Sommer Mensafraß hinunterwürgen muss.«

»Eigentlich ist es ganz okay«, sage ich. »Die Pizza schmeckt jedenfalls nicht schlecht.«

»Echt? Da hab ich so meine Zweifel.« Eine Pause tritt ein.

»Ich bin Franny«, stelle ich mich vor, um nicht einfach nur so dazustehen.

»Oh, hi. Ich bin Marie.«

Da sie nicht daran denkt, mir den Typen vorzustellen, tut er es mit einem knappen »James Rushport« selbst, bevor er sich wieder an sie wendet. »Dann müssen wir uns jetzt wohl verabschieden.«

»Sollten wir nicht meine Handtasche aus dem Wagen holen, bevor du wegfährst?«

»Oh, klar doch.« Er geht schnell um den Wagen herum, hievt eine große gesteppte Ledertasche heraus und gibt sie ihr.

»Jetzt können wir uns verabschieden.« Sie hält ihm die Wange hin und er drückt einen deftigen Kuss darauf. Das schmatzende Geräusch scheint ihr Schmerzen zu bereiten, denn sie zuckt zusammen.

Nachdem sie sich wieder erholt hat, sagt sie zu ihm: »Ich geb’ dir Bescheid, wann du mich besuchen kannst. Sie haben hier alle möglichen Regeln, was Besucher und das Verlassen des Campus betrifft, aber ich habe nicht vor, die nächsten sechs Wochen wie eine Gefangene zu leben. Stell dich also darauf ein, dass du bald von mir hörst.«

»Für dich breche ich jede Regel«, erwidert er mit unbeholfener Galanterie.

Sie kräuselt die Lippen. »Du wärst ja nicht derjenige, der sie bricht, sondern ich.«

»Stimmt. Schick mir eine SMS.« Damit steigt er in den Porsche und fährt weiter die abschüssige Auffahrt hinunter – was bedeutet, dass er ein paar Sekunden später wieder an uns vorbeimuss, da die Schotterstraße nur zu einem Wendeplatz führt. Er winkt kurz, als er wieder an uns vorbeidüst.

»Er ist nett«, stelle ich fest.

Sie zuckt mit den Schultern. »Mm-hm. Komm, gehen wir rein. Ich will das Begrüßungstreffen nicht verpassen.«

Ich zeige auf das Theater. »Ich gehe in diese Richtung.«

»Hat es nicht geheißen, wir sollen uns in der Mensa versammeln?«

»Du schon. Alle, die an dem Programm teilnehmen. Ich arbeite in der Kostümschneiderei.«

»Oh. Super.« Sie wendet den Blick ab, dreht sich zur Mensa um und hält inne. »Hey, könntest du mir, wenn du nicht zu dem Treffen musst, einen Riesengefallen tun und meine Tasche in mein Zimmer bringen?« Sie hält sie mir hin. »Die ist echt schwer. Ich will sie nicht den ganzen Nachmittag mit mir herumschleppen, aber ich bin sowieso schon zu spät dran. Es wäre wahnsinnig nett von dir …«

»Ich kann da nicht rein«, erkläre ich und bin froh, eine so einfache Ausrede zur Hand zu haben. Ich habe nicht vor, mich von irgendjemandem zur Kammerzofe machen zu lassen. »Kein Schlüssel. Sorry.«

»Ich kann dir meinen geben und du bringst ihn mir gleich wieder.« Pause. Ich gehe nicht auf das Angebot ein. Sie hängt sich die Tasche über den Arm. »Dann verspäte ich mich wohl noch mehr als sowieso schon.«

»Sorry«, wiederhole ich. »Ciao.«

»Da bist du ja endlich«, begrüßt mich Tante Amelia, als ich ihr Atelier betrete. Den Schwitzkasten.

»Ich habe ein paar Leute getroffen.«

»Waren sie nett?«

»Ein paar schon«, antworte ich, und aus irgendeinem Grund sehe ich dabei Alex’ blaue Augen und sein leises Lächeln vor mir.

Ein paar Stunden später habe ich das Gefühl, ich halluziniere – die Hitze muss mir zugesetzt haben –, denn der Typ steht plötzlich höchstpersönlich in der Tür und versucht mit einem fröhlich unsicheren »Äh … hallo?« auf sich aufmerksam zu machen.

Bevor ich die Tatsache verarbeiten kann, dass er womöglich wirklich da steht, schaut Amelia auf und fragt kühl: »Wie können wir dir helfen?«

»Entschuldigen Sie die Störung, aber Ted – unser Regisseur – lässt fragen, ob wir uns für den Rest des Nachmittags vielleicht ein paar Hüte ausleihen könnten. Hi, Franny.«

»Dann habt ihr euch also schon kennengelernt«, stellt Amelia mit einem vielsagenden Lächeln fest.

Ich stehe auf. »Wir sind in dieselbe Schule gegangen. Wenn du willst, zeige ich ihm, wo die Hüte sind«, biete ich ihr an und hoffe, dass ich nicht übereifrig klinge.

Sie hat sich schon wieder über ihre Maschine gebeugt, um sie herum bauschen sich Berge von Stoff, und so nickt sie nur abwesend. »Gib ihm nichts, das neu oder teuer aussieht. Nicht, wenn sie damit nur herumblödeln.«

»Wir spielen Improvisationstheater«, antwortet Alex.

»Nichts Neues oder Teures«, wiederholt sie. »Und ich will sie vor dem Abendessen wieder hier sehen, sauber abgebürstet. Der Schlüssel liegt in der obersten Schreibtischschublade, Franny.«

Ich hole den Schlüssel und gehe vor Alex den Flur hinunter zum Hinterausgang des Theaters, dann nach draußen und am Gebäude entlang zu dem separaten Eingang, der zum Lager im Untergeschoss führt. Ich schließe die Tür auf und wir gehen die schmale Treppe hinunter. Der Schalter, den ich auf dem Weg nach unten anknipse, ist nur mit einer einzelnen Glühbirne an der Decke verbunden, doch unten schalte ich die helle Raumbeleuchtung ein, und wir bleiben stehen und lassen den Blick über die vielen Reihen von Regalen und Kleiderständern wandern.

Alex pfeift leise durch die Zähne. »Wow. Beeindruckend.«

»Finde ich auch. Ich würde mich gern ein bisschen umschauen. Oder hast du es eilig?«

»Nö. Deine Tante hatte recht – wir blödeln da oben tatsächlich nur rum.«

»Was hältst du bis jetzt von dem Programm?«, frage ich, als wir wieder weitergehen.

»Die ersten beiden Stunden waren super«, antwortet er und lacht. »Drei Minuten waren vielleicht ein bisschen langweilig, aber ich hab’s überstanden.«

»Sorry. Blöde Frage.«

»Nein, gar nicht blöd. Ich wollte dich nur aufziehen.« Und er lächelt sein nettes Lächeln, und meine kurzzeitige Verlegenheit ist wie weggeblasen.

»Kann ich dir meine Lieblingskostüme zeigen?«, frage ich. »Die aus der Restaurationszeit? Die sind der Wahnsinn.«

»Absolut.«

Als wir durch die schmalen Gänge zwischen den beschrifteten Kleiderständern hindurchgehen, streiche ich leicht mit der Hand über die durchsichtigen Schutzhüllen. »Wie kommt es, dass ihr diesen Sommer hier gelandet seid, du und deine Schwester?«

»Zum Teil aufgrund gleicher Interessen und zum Teil über Vetternwirtschaft. Mein Onkel ist der Leiter des Programms.« Er schaut mich von der Seite an. »Bin ich jetzt in deiner Achtung gesunken, weil ich Beziehungen habe spielen lassen, um reinzukommen?«

»Hey, ich bin nur hier wegen meiner Tante. Vetternwirtschaft ist doch alles. Aber hast du mit der Schauspielerei echt was am Hut?«

»Ich denke schon. In unserer Schulaufführung von Anatevka hab ich letzten Herbst den Tevje gespielt.«

»Das ist eine irre große Rolle!« Meine Bewunderung ist echt. In der Middleschool hat er nicht einmal beim Casting mitgemacht. Ich hatte keine Ahnung, dass er eine Hauptrolle übernehmen könnte.

Er winkt ab. »Ich hatte Glück. Ich bin nur zum Casting gegangen, weil Julia mich dazu gedrängt hat und ich in diesem Schuljahr keinen Sport gemacht habe.«

»Aber du wolltest schon an dem Theater-Workshop hier teilnehmen, oder?«

»›Wollen‹ ist leicht übertrieben. Meine Eltern haben mich dazu überredet. Sie glauben, dass ein Sommer in Mansfield meine Chancen, an einem guten College angenommen zu werden, verbessert. Ich spiele Baseball, den Punkt hab ich schon mal … aber das machen tausend andere auch. Und nachdem ich die Rolle in Anatevka bekommen hatte, sind sie auf die Idee gekommen, dass die Kombination von Sport und Theater mich etwas aus der Masse herausheben könnte. In letzter Zeit denken sie nur noch an das Eine – wie sie mich in ein College kriegen.«

»Wem sagst du das. Meine Mom hat doch tatsächlich ein Übungsbuch für den Test zur College-Zulassung in meinen Koffer geschmuggelt.« Ich grinse. »Nicht dass ich was dagegen hätte – ich kann es wunderbar als Unterlage für mein MacBook gebrauchen.«

Er nickt. »Ich wünschte, meine Mom oder mein Dad würden nur ein Mal sagen: ›Egal, wie das mit dem College ausgeht – wir glauben an dich, wir wissen, dass was aus dir wird.‹ Aber das machen sie nicht. Sie behaupten immer nur: ›Deine Schulbildung bestimmt, wie der Rest deines Lebens verläuft.‹ Ach ja, und manchmal kommt dann gleich danach noch: ›Aber hey, wir wollen nicht, dass du dich zu sehr unter Druck fühlst.‹«

»Genau. Und damit ist dann alles in Ordnung.«

»Natürlich … Das Verrückte ist, dass meine Mutter das College nach einem halben Jahr geschmissen hat, und mein Dad ist auf die staatliche Hochschule in Indiana gegangen. Darum denken sie, dass ich es im Leben nur zu was bringen kann, wenn ich in eine der acht Elite-Unis komme …« Er schüttelt den Kopf.

»Ich weiß. Meine Mom war nämlich auf einem dieser Eliteschuppen, auf dem Pennsylvania College – und jetzt muss sie zusehen, dass sie als Lehrerin an der Middleschool über die Runden kommt. Man sollte also meinen, sie weiß, dass ein gutes College nicht alle Probleme löst. Aber sie ist genauso schlimm wie deine Eltern. Es ist wie eine Art elterliche Massenhysterie oder so.« Ich bleibe vor dem Kleiderständer, den ich gesucht habe, stehen. »Hier – das sind die Kostüme aus der Restaurationszeit. Cool, oder? Schau dir das mal an.« Ich ziehe ein kunstvoll gerüschtes Männerhemd mit der passenden gebauschten Hose und einem langen, gestreiften Überzieher heraus.

»Wow. Der Wahnsinn. Weißt du, für welches Stück sie das gebraucht haben?«

»Es steht überall dabei.« Ich ziehe den Zettel aus dem Kragen und lese. »Tartuffe im Jahr 2002 und Die Unschuld vom Lande 2009.«

»Ob wir bei der Aufführung auch so etwas tragen?«

»Es würde dir gut stehen.« Ich halte ihm die Teile an. »Der Überzieher betont die Streifen in deinen Augen.« Ich hänge es zurück. »Weißt du schon, in welchem Stück du mitspielst?«

»Noch nicht. Bist du zu den Aufführungen noch hier?«

»Ich hoffe es. Amelia wird mich zum Knöpfeannähen und Säumeheften bis zur letzten Minute brauchen, meinst du nicht auch?«

»Auf jeden Fall. Wir finden schon einen Grund, warum du hierbleiben musst.«

Ich konzentriere mich darauf, die Plastikhülle über dem Kostüm zurechtzuzupfen, damit er nicht sieht, wie sehr ich mich über das Wir freue. »Komm mit, ich zeig dir jetzt die Hüte.«

An dieser Stelle erscheint es mir wichtig zu erwähnen, dass ich seit Beginn meiner Highschool-Zeit zwei ernst zu nehmende Freunde hatte.

Der erste war Samuel Ellerstein. Er war süß und witzig, und wenn ich mit ihm zusammen war, hatte ich auch das Gefühl, süß und witzig zu sein. Er lachte über meine Scherze und er lachte über seine Scherze und er lachte über jede noch so kleine Absurdität des Lebens. Er lachte sogar, als ich ihn mit Janet Rollins im Arm zufällig im Kino sah, und zwar an dem Tag, an dem er, wie er mir erzählt hatte, mit seiner Großmutter zu Abend essen musste. Es gefiel mir, dass er so unbeschwert war und nichts ernst nahm, bis ich begriff, dass nichts auch mich einschloss, seine Freundin. Da haben wir uns getrennt. Es tat nicht allzu weh. Er lachte und ich zuckte mit den Schultern.

Tyler Gustafson hat mir schon eher das Herz gebrochen. Ich habe keinen dauerhaften Schaden davongetragen, aber meine Tränen haben ein paar Kissenbezüge durchweicht, bevor ich über ihn hinweg war.

Das Problem bei Tyler war, dass er im Vergleich mit Samuel perfekt war. Er nahm alles ernst, meine ich. Er war einer der leidenschaftlichsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Wenn wir über die Erderwärmung sprachen oder über die (falsche) Richtung, in die sich unser Land entwickelt, leuchteten seine Augen vor Inbrunst. Er glühte förmlich, wenn wir über Politik oder über ein gutes Buch diskutierten. Wenn man ihm die Hand auf den Arm legte, konnte man die Energie spüren, ich schwör’s. Eine Zeit lang war es herrlich zu spüren, dass diese Leidenschaft auch auf mich gerichtet war.

Aber es dauerte nicht lange, bis ich begriff, dass auf der Liste der Dinge, die Tyler viel bedeuteten – eine Liste, auf der die Weltpolitik genauso stand wie sein nächster Test in Geschichte, sein Notendurchschnitt und die tägliche Nachrichtensatire –, Freundin Franny Pearson keineswegs unter den oberen Zehn rangierte. Selbst der Öko-Klub unserer Schule kam noch vor mir. Ich konnte neben ihm sitzen und ihn bewundern – im Stillen, denn er musste sich konzentrieren –, während er lernte und zehn Millionen Umwelt- und Politik-Blogs verfolgte und zu einigen auch selbst Kommentare schrieb. Doch wenn ich mehr von ihm wollte, musste ich warten, bis ich an die Reihe kam.

Ich kam nicht oft an die Reihe.

Mein Pech, dass ich am Tag vor seinem Englisch-Examen Geburtstag hatte. Ich wusste, dass er nicht mit mir feiern und sich mit Lernstress entschuldigen würde. Nicht vorhergesehen habe ich, wie zutiefst unglücklich er darüber war, dass ich mir den Wagen meiner Mutter auslieh und zu ihm nach Hause fuhr, um einfach nur Hallo zu sagen. An meinem Geburtstag.

»Oh nein«, entfuhr es ihm, als er die Tür öffnete. Er bat mich nicht herein, stand nur da und schüttelte den Kopf. »Oh nein. Du bist echt super, Franny, aber keine Beziehung, die ich jetzt habe, ist es wert, dass ich meine Zukunft dafür aufs Spiel setze.«

Er meinte das wirklich ernst. So ernst, dass es als Wärmeenergie durch seine Hemdsärmel hindurch zu spüren war, als er mich zum Abschied umarmte.

Deshalb will ich jetzt einfach nur jemanden, der mich ernst nehmen kann und bereit ist, dem Rest der Welt den Rücken zu kehren, wenn wir allein sind.

Natürlich habe ich nichts gegen blaue Augen und breite Schultern.

Sie sind ein netter Bonus.