Vierte Szene

Als ich um sechs Uhr an diesem Abend die Mensa betrete, fasst mich jemand am Arm.

»Gott sei Dank, dass du kommst!«, ruft Julia. »Ich muss unbedingt mit jemandem reden, dem ich vertrauen kann!« Sie schleift mich hinüber in eine ruhige Ecke. »Harry Cartwright! Oh mein Gott! Harry Cartwright!«

»Das ist der Blonde, der heute Mittag mit an unserem Tisch gesessen hat, richtig?«

»Als ob er dir nicht aufgefallen wäre!«

Ich zucke mit den Schultern. Er hat mich nicht sonderlich beeindruckt. Er war kein Alex. Aber natürlich sieht Alex’ Schwester das anders.

»Wir haben heute Nachmittag ganz lange miteinander geredet«, erzählt sie. »Und er ist der Wahnsinn. Er kennt diese ganzen berühmten Leute – sein Dad ist irgendwie Musikproduzent in L.A. oder so –, aber er ist kein bisschen eingebildet, sondern nur echt witzig. Und findest du nicht auch, dass er total süß ist? Man muss ihn doch nur anschauen.« Sie zeigt auf die andere Seite des Raums. Harry rekelt sich am Wasserspender, und ich meine wirklich rekeln. Er lehnt irgendwie mit der Hüfte am Tresen, während er seinen Becher neu füllt, als wäre er zu cool, um sich aufrecht hinzustellen. Jede Wette, dass er die Pose abends in seinem Zimmer übt.

Marie, das Mädchen, das ich nach der Mittagspause draußen mit ihrem Freund getroffen hatte, stellt sich neben Harry und schiebt ihn mit dem Ellbogen zur Seite, damit sie ihren eigenen Becher füllen kann. Er drängelt sich ganz bewusst wieder vor sie und sie schubst ihn im Spaß weg, und dann machen sie sich gegenseitig den Platz vor dem Wasserspender streitig, lachen und sagen etwas, was wir nicht verstehen.

»Oh Gott, das ist ja die«, stöhnt Julia. »Unsere dritte Mitbewohnerin. Sie ist ganz früh gekommen, hat das beste Bett im Zimmer belegt und ist wieder verschwunden. Zu dumm, dass sie zurückgekommen ist. Sie war den ganzen Tag hinter Harry her. Und jetzt schau sie dir an.«

Von da, wo ich stehe, sieht es so aus, als beruhte das Geplänkel doch auf Gegenseitigkeit. »Sie hat einen Freund«, sage ich.

»Im Ernst?«

»Ja. Ich hab ihn getroffen. Wahrscheinlich ist sie nicht wirklich an Harry interessiert.«

Julia verdreht die Augen. »Klar. Weil noch kein Mädchen ihren Freund betrogen oder sich einen neuen gesucht hat.«

Ich übergehe die Bemerkung und frage stattdessen: »Habt ihr auch noch eine vierte Mitbewohnerin?«

»Ja – sie soll Jillian noch was heißen, ist aber bis jetzt noch nicht aufgetaucht.«

Nachdem wir unsere Tabletts beladen haben, setzen wir uns zu so ziemlich derselben Gruppe an den Tisch, mit der wir auch zu Mittag gegessen haben, plus Marie mit den honigfarbenen Haaren. Sie ist Harry Cartwright gefolgt und sitzt jetzt neben ihm.

Julia setzt sich schnell auf seine andere Seite und macht sich sofort an ihn ran, flirtet, was das Zeug hält, und zieht ihn gnadenlos auf wegen allem und jedem, einschließlich seines schwarzen T-Shirts und seiner schwarzen Jeans (»Könnte man dich einen Hipster nennen?«), seinen weinroten Converse, seiner Art zu reden, zu essen, zu atmen. Er verdreht die Augen und zieht sie ebenfalls auf, fragt, ob ihre Wimpern auch lang genug sind (sie kommen tatsächlich nah an die eines Transvestiten heran) und warum Mädchen glauben, sie könnten ungestraft von anderer Leute Teller essen (nachdem sie mit einem unschuldigen Lächeln Pommes bei ihm stibitzt hat).

Ich sitze auf Julias anderer Seite, und sie bezieht mich in die Unterhaltung ein, allerdings nur als Helfershelfer für ihre Flirterei. »Echte Kerle tragen keine weinroten Schuhe, hab ich recht?«, fragt sie mich. Doch bevor ich antworten kann, habe ich schon wieder ihre Schulter im Gesicht, und sie gesteht Harry: »Versteh mich nicht falsch, ich liebe Männer, die sich ihrer Männlichkeit so sicher sind, dass sie den Sommer über an einem Theater-Workshop teilnehmen und weinrote Schuhe tragen und immer noch glauben, dass ihnen sämtliche Mädchen zu Füßen liegen.«

»Glaube ich das?« Harry wendet sich an seine andere Nebensitzerin. »Marie, du musst mir helfen. Benehme ich mich so, als würde ich erwarten, dass mir sämtliche Mädchen zu Füßen liegen?«

Marie hatte in ihrem Essen herumgestochert und während ihres Geplänkels wütende Blicke in Julias Richtung geworfen. Als Harry sich ihr zuwendet, steigt ihr Interesse an der Unterhaltung rasch wieder. »Unbedingt. Du bist ein hundertprozentiger Narzisst.«

»Ach, Marie«, beginnt Julia, als fiele es ihr gerade wieder ein, »Franny hat erzählt, dass sie deinen Freund getroffen hat. Wie ist er so?«

Marie schnippt eine Krume vom Tisch. »Es ist bloß ein Bekannter. Der zufällig einen echt coolen Wagen hat und dem es nichts ausmacht, mich darin herumzukutschieren.«

Harrys Interesse ist geweckt. »Welche Marke?«

»Porsche.«

»Nicht schlecht.« Er nickt bedächtig und anerkennend. »Mein nächster Wagen ist auch ein Porsche.«

»Was für einen fährst du denn jetzt?«, will Marie wissen.

»Einen Porsche«, antwortet er mit einem geheimnisvollen Lächeln. Ich kann nicht beurteilen, ob es ein Witz sein soll oder nicht.

»Jungs und Autos.« Julia wirft den Kopf zurück, sodass ihr die langen dunklen Haare ums Gesicht fliegen. »Warum sind Jungs nur so verrückt nach Autos, was glaubst du, Franny? Hat nicht Freud oder so jemand eine Theorie dazu?« Sie spricht wohl mit mir, aber sie meint gar nicht mich.

»Freud oder so jemand?«, wiederholt Harry. »Soll ich mich jetzt beeindruckt zeigen von deinem messerscharfen Intellekt, den du hier beweist?«

»Hört, hört!«, kontert sie. »Das sagt der Typ, der einen Comic mit sich herumträgt. Leugnen hat keinen Zweck, ich hab’s nämlich gesehen.«

»Das ist eine Graphic Novel. Marie, könntest du unserer Freundin hier den Unterschied zwischen einer Graphic Novel und den Archie-Comics erklären, die sie liest?«

Marie kichert und stößt ihn mit dem Ellbogen an. »Du bist echt schlimm!«

Seufzend drehe ich ein paar Spaghetti auf meine Gabel. Ich bevorzuge Unterhaltungen, bei denen ich nicht nur dazu da bin, anderen Leuten beim Flirten zu helfen. Aber Vanessa und Lawrence holen sich gerade beide etwas vom Büfett und deswegen ist im Moment niemand da, mit dem ich reden könnte.

Eine plötzliche Bewegung mir gegenüber lenkt meine Aufmerksamkeit auf die andere Tischseite. Alex schiebt seinen Stuhl zurück und steht auf. »Jetzt reicht’s. Ich hol dir einen Keks ganz für dich allein!«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich einen will.« Isabella lacht zu ihm hoch.

»Das nicht, du starrst nur ständig auf meinen, und ich weiß, wann mir jemand mein Essen klauen will, sobald ich eine Sekunde wegschaue. Es ist leichter für mich, wenn ich dir deinen eigenen hole. Welche Sorte willst du haben?«

»Das überlasse ich dir. Du kannst ja anscheinend sowieso meine Gedanken lesen.«

»Nur wenn’s ums Essen geht.«

»Wirklich nur dann?«, fragt sie verschmitzt. »Bist du sicher?«

»Ja. Mädchen sind mir ein totales Rätsel.«

»Wir haben keine Läuse«, sagt sie. »Falls du in dieser speziellen Entwicklungsphase stecken geblieben bist.«

Er grinst. »Gut zu wissen. Ich werde diese Information speichern, damit ich sie später abrufen kann.« Er blickt in die Runde. »Braucht sonst noch jemand was, wenn ich schon unterwegs bin?«

Ich stehe ebenfalls auf. »Ich möchte etwas zu trinken, aber ich komme mit.« Wir gehen zusammen durch die Mensa. »Gab’s Probleme, weil du heute Nachmittag mit den Hüten so lang gebraucht hast?«, frage ich.

»Nö, war okay. Und wie ist es bei dir noch gelaufen?«

»Super. Ich hab mich nur fünfzehn Mal mit der Nadel gestochen.«

»Autsch. Arme Franny. Was ich dich fragen wollte – wie kommt’s überhaupt, dass du nähen kannst?«

»Wie kommt’s, dass du es nicht kannst?«, erwidere ich, und er lacht kurz auf.

Er betrachtet die Teller mit dem Nachtisch hinter der Glasscheibe. »Welche Kekssorte soll ich Isabella bringen? Haben Mädchen eine Lieblingssorte?«

»Wir stimmen nicht darüber ab.«

»Ich bringe ihr einen von jeder Sorte.« Er lädt Kekse auf einen Teller. Eine der Küchenhilfen beobachtet ihn argwöhnisch, aber er scheint es nicht zu merken. »Kannst du mir noch einen mit Haferflocken holen, Franny?«

»Klar. Für Isabella tu ich alles.« Er hört mich gar nicht, da er schon wieder auf dem Rückweg ist. Isabella hebt ihr hübsches Gesicht und lächelt ihm dankbar entgegen.

Irgendwann nach dem Mittagessen hat sie ihren Knoten gelöst. Die Haare fallen ihr jetzt als glänzender Vorhang über die Schultern, dunkel und glatt. Als sie aufschaut, streicht sie sie aus dem Gesicht und man kann die zarten hohen Wangenknochen und das perfekt geformte Kinn erkennen.

Ich könnte sie hassen, denke ich.

Nach dem Essen rennen alle zu irgendeiner wichtigen Versammlung mit den Regisseuren – eigentlich Regiestudenten – ins Theater.

Ich gehe zurück zu Tante Amelias Wohnung und schaue mit ihr im Fernsehen Realityshows an. Aber nachdem ich mir zwei Stunden lang angehört habe, wie unverschämt und grob die Leute sind, kriege ich fast einen Schreikrampf. »Ich geh’ noch mal rüber zum Campus«, verkünde ich schließlich, stehe auf und recke mich. »Mal sehen, ob ich jemanden treffe.«

»Okay, aber um zehn bist du wieder da. Ich habe keine Lust, wegen dir länger aufzubleiben.« Dann fügt sie noch hinzu, als wäre es ihr gerade eingefallen: »Außerdem könnte es auch gefährlich sein.«

Als ich zu dem Platz vor dem Theater komme, stelle ich erleichtert fest, dass die Versammlung schon vorbei sein muss. Ein paar Schüler stehen noch draußen zusammen, doch die meisten sind auf dem Weg ins Wohnheim. Ich gehe mit einer Gruppe hinein und dann weiter zum Aufenthaltsraum, wo sämtliche Sitzgelegenheiten belagert sind. Ein Junge spielt ein Stück von Sondheim auf dem Klavier und zwei Mädchen sitzen rechts und links von ihm auf der Bank und singen dazu.

Ich entdecke Vanessa und Julia im Gespräch auf einem der großen Sofas.

»Wir sind schon in verschiedene Ensembles eingeteilt worden«, ruft Julia, kaum dass ich bei ihnen bin.

»Cool! Wen spielt ihr beide?«

»Die Rollen sind noch nicht verteilt worden«, antwortet Vanessa. »Wir wissen nur, in welchem Stück wir mitspielen. Lawrence und ich sind in Ein Sommernachtstraum, Julia und Harry in Was ihr wollt« – das erklärt, warum Julia grinst wie ein Honigkuchenpferd; sie ist mit Harry zusammen – »und Alex und Isabella sind in Maß für Maß. Das ist komisch, weil die Hauptperson in dem Stück Isabella heißt. Vielleicht ist das ja kein Zufall. Vielleicht haben sie sie ganz bewusst für dieses Stück ausgesucht, damit sie die Hauptrolle spielen kann.«

»Sie würden niemandem nur wegen des Namens eine Rolle zuteilen«, widerspricht Julia. »Das wäre unfair. Außerdem wissen sie noch nicht, wer wen spielen soll. Sie lassen uns erst ein paar Tage lang vorsprechen.«

»Ich hoffe, sie verteilen die Rollen unabhängig vom Geschlecht der Schauspieler«, meint Vanessa.

»Sie müssen auf jeden Fall ein paar Mädchen eine Männerrolle geben, das geht gar nicht anders. Hier sind doch viel mehr Mädchen als Jungs.«

»Ich will den Zettel spielen.«

»Du bist ja verrückt«, ruft Julia. »Und bei jeder Vorführung die Hälfte der Zeit einen Eselskopf tragen?«

»Das wäre cool.«

»Es wäre heiß. Du würdest schwitzen und könntest kaum etwas sehen oder hören.«

Ich setze mich neben Julia. »Werden nur Stücke von Shakespeare aufgeführt?«

»Ja«, antwortet Vanessa. »Sie haben auch noch Das Wintermärchen auf dem Spielplan, also vier Stücke insgesamt. Aber ich bin echt froh, dass ich im Sommernachtstraum bin, das gefällt mir am besten.«

»Spielen sie immer nur Shakespeare?«

»Nö. Wahrscheinlich war ihnen in diesem Jahr einfach danach.«

»Die Regisseure verändern die Stücke ganz schön«, berichtet Julia. »Sie kürzen und legen Rollen zusammen und so, damit sie für uns passen. Ach, Vanessa, hab ich dir das schon erzählt? Charles hat gesagt, wenn er gewusst hätte, dass Alex und ich uns so ähnlich sehen, hätte er darum gebeten, dass wir beide in Was ihr wollt mitspielen. Du weißt schon, als Viola und Sebastian.«

»Das wär’ der Hammer gewesen!«

»Absolut. Dann hätte ich auf jeden Fall die Hauptrolle bekommen.« Sie wendet sich an mich und fügt hinzu: »Charles führt in unserem Stück Regie. Er macht ein Aufbaustudium an der Uni von New York.«

»Ich glaube, alle Regisseure hier absolvieren noch ein spezielles Regiestudium an irgendeiner Uni«, meint Vanessa. »Und in der Highschool haben sie alle an diesem Programm teilgenommen.«

»Jillian sollte auch in meinem Stück mitspielen«, erzählt Julia. »Unsere fehlende vierte Mitbewohnerin.«

»Ist sie immer noch nicht aufgetaucht?«, frage ich.

Julia schüttelt den Kopf und senkt die Stimme. »Charles hat gesagt, in der Familie hätte es einen plötzlichen Todesfall gegeben – mehr wollte er nicht erzählen –, deshalb kommt sie nicht.«

»Das ist schlimm«, bemerke ich.

»Ja«, bestätigt Julia, und Vanessa nickt, und wir schweigen einen Augenblick, weil wir das Gefühl haben, dass es sich so gehört.

Vanessa bricht das Schweigen. »Das klingt vielleicht herzlos, aber macht es nichts, wenn in eurem Stück jetzt eine Schauspielerin fehlt?«

»Charles hat gesagt, er lässt sich was einfallen. Die meisten von uns müssen sowieso eine Doppelrolle übernehmen, wahrscheinlich ist es jetzt einfach noch eine mehr. Ach, da ist Alex.« Sie winkt ihrem Bruder zu, der zusammen mit Isabella den Aufenthaltsraum betritt.

»Ich bin so aufgeregt!«, ruft Isabella, als sie bei uns sind. »Ich liebe Maß für Maß! Ich komme mir vor, als hätte mir gerade jemand ein Geschenk überreicht. Und ich find’s auch nicht bescheuert oder so, dass Alex in meinem Ensemble ist.« Die beiden schlagen die Faustknöchel aneinander. »Ach, da ist eine meiner Mitbewohnerinnen. Ich muss sie etwas fragen. Bin gleich wieder da.« Damit rauscht sie ab. Anmutig, versteht sich.

»Hey, Franny.« Jetzt, da Isabella weg ist, bemerkt Alex mich – zumindest bilde ich mir das ein. Den Mond bemerkt man auch erst, wenn die Sonne untergeht, richtig? »Was hast du seit dem Abendessen gemacht?«

»Nicht viel.« Ich lege den Kopf in den Nacken, damit ich ihm in die Augen schauen kann. »Du bist auch in Maß für Maß? Ich kenne das Stück überhaupt nicht.«

»Es ist toll.« Dann bittet er Julia: »Mach mal Platz.« Sie schneidet ihm eine Grimasse, rutscht aber ein Stück zur Seite, damit er sich zwischen uns setzen kann. Er wendet sich wieder mir zu. »Es ist das coolste Shakespeare-Stück überhaupt, und das sage ich jetzt nicht nur, weil ich eine Rolle darin übernehmen muss. Ich habe letztes Jahr für Englisch ein Referat darüber gehalten.«

»Worum geht es?«

Er erzählt kurz die Geschichte, aber da immer mehr Schüler hereinkommen, ist es so laut in dem Raum, dass ich die Hälfte von dem, was er sagt, gar nicht verstehe. Doch das macht nichts. Ich genieße es einfach, dass wir dicht nebeneinander auf dem Sofa sitzen, die Beine aneinandergepresst, und ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit habe.

Ich weiß, es ist bescheuert, schon nach so kurzer Zeit vollkommen hin und weg zu sein von einem Jungen, aber so plötzlich kam das Hin-und-weg-Sein ja gar nicht. Man vergisst den ersten Jungen nicht, der einem eine Blume schenkt (selbst wenn sie aus dem Strauß seiner Schwester stammte und er kein Wort dazu gesagt hat, sondern sie dir einfach in die Hand gedrückt hat und wieder verschwunden ist), besonders wenn man ihn damals schon irgendwie süß und cool fand.

Ihr wisst doch, wie das bei den kleinen Gänsen ist. Sie werden auf das erste Tier geprägt, das nach ihrer Geburt an ihnen vorbeigeht, und folgen ihm überallhin, egal was für eines es ist. Ich glaube, Alex war der erste Junge, der mir aufgefallen ist, als ich anfing, mich nach Jungs umzusehen, und ich wurde ein bisschen auf ihn geprägt. Und nach all den Jahren muss ich sagen, dass ich schon damals in der achten Klasse einen guten Geschmack hatte.

Ich merke, dass ich keine Ahnung habe, was er in den letzten paar Minuten erzählt hat, so sehr war ich damit beschäftigt, verträumt in diese wunderschönen blauen Augen zu schauen. Also konzentriere ich mich wieder mühsam auf seine Worte. »… aber die Guten in dem Stück machen ein paar wirklich fiese Sachen, und von den eigentlich Bösen sind ein paar total sympathisch. Deshalb weiß man nicht so recht, auf wessen Seite man sich schlagen soll. An Ende sagt jemand, dass man uns Menschen nur nach unseren Taten beurteilen sollte, nicht nach unseren Absichten oder Überzeugungen. Aber es wird nicht klar, ob Shakespeare das tatsächlich glaubt oder nicht.«

»Also, ich weiß nicht. Das würde ja heißen, dass du, wenn du auf jemanden schießt und nicht triffst, trotzdem irgendwie schuldig bist.«

»Genau. Ted, unser Regisseur, will, dass wir über alle diese Dinge nachdenken, solange wir an dem Stück arbeiten, und dann entscheiden, wie wir dazu stehen – ob wir im Leben nur nach unseren Taten beurteilt werden wollen oder nach unseren Absichten. Oder ob beides gleich wichtig ist.«

»Ich finde es unheimlich spannend, sich Gedanken über solche Dinge zu machen.« Plötzlich merke ich, dass ich neidisch bin und zu gern auch eine Rolle in dem Stück hätte. Nicht nur, dass die Leute um mich herum sich auf die Stücke freuen, in denen sie mitwirken, dass Freundschaften unter den Schauspielern entstehen und sie darüber diskutieren, welche Rolle sie vielleicht bekommen. Es klingt auch alles total cool. Ich lese in meiner Freizeit nicht Shakespeare oder so, aber die paar Stücke, die ich gelesen oder gesehen habe, sind mir im Gedächtnis geblieben. Und alles, was Alex mir gerade erzählt hat, erinnert mich daran, warum. »Aber wir können doch eigentlich kein Urteil über jemanden fällen, wenn wir nur …«

»Jetzt schaut euch dieses reizende Grüppchen an«, unterbricht jemand mich laut.

Ich schaue auf und sehe Harry Cartwright auf uns zuschlendern, die Hände in den Taschen, mit leicht hängenden Schultern. Wahrscheinlich hat er jede Folge von Maxim genau studiert, um diese Haltung lässiger Gleichgültigkeit richtig hinzubekommen. Er wartet einen Moment lang und vergewissert sich, dass auch alle ihm zuhören.

»Ehrlich, schaut euch doch einfach mal an.« Er deutet auf Vanessa. »Du bist der Inbegriff des Hipster-Chic. Und du« – auf Julia – »bist total die klassische Schönheit, wie eine echte Schauspielerin, und du« – er wendet sich an mich – »du bist Miss Smith, wenn sie die Brille abnimmt und jeder plötzlich feststellt, wie hübsch sie ist. Und du« – auf Alex –, »also du bist einfach nur potthässlich und solltest vom Sofa aufstehen und jemandem Platz machen, der diese wunderschönen Ladys auch wirklich verdient hat.«

»Ich hätte einen Vorschlag, wo du sitzen kannst«, versetzt Alex.

»Du brauchst das nicht näher auszuführen.« Harry wirft sich unvermittelt der Länge nach über unsere Oberschenkel. Er liegt auf dem Rücken, sein Kopf ruht auf Julias Schoß, Oberkörper und Beine sind über den Rest von uns ausgebreitet.

»Runter mit dir!« Alex schiebt Harrys Füße weg.

Harry hebt sie hoch und kreuzt die Knöchel auf der Sofalehne. »Ich hab’s bequem so und sonst gibt es keinen freien Platz mehr.« Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf, schaut zu Julia auf und klimpert mit den Wimpern. »Ihr habt doch nichts dagegen, oder?«

»Ich schmeiß dich gleich runter«, erwidert sie und wippt ein paarmal mit den Knien, sodass er sich an ihrem Bein festhalten muss, damit er nicht herunterfällt.

»Das war jetzt nicht nett von dir«, beschwert er sich. »Wenn du nicht aufpasst, such ich mir einen freundlicheren Schoß.«

»Gott bewahre«, ruft sie, aber ich sehe, dass sie aufhört zu wippen.

Harrys Ankunft hat nicht nur meine private Unterhaltung mit Alex beendet. Mit ihm kam auch die stets wachsame Marie zu uns herüber.

»Du bist so ein Blödmann«, bemerkt sie und schaut bewundernd auf ihn hinunter. »Das kann doch nicht bequem sein.«

Er klopft auf seinen flachen Bauch. »Setz dich her, dann siehst du, wie bequem es ist.«

»Untersteh dich!«, wehrt Julia rasch ab. »Du zerquetschst uns ja.«

»Herzlichen Dank.« Marie verschränkt die Arme fest vor der Brust.

»Ich wollte damit nicht sagen, dass du zu dick bist«, lenkt Julia ein. »Nur dass meine Beine kein Gramm mehr tragen können.«

»Bist du okay?«, fragt Alex mich.

»Geht schon.« Harrys Beine über meinem Schoß machen mir nichts aus – mich stört nur, dass er immer im Mittelpunkt stehen muss.

Doch offensichtlich denkt hier jemand, dass jetzt sie an der Reihe sei. Marie räuspert sich und verkündet laut: »Ihr wisst alle, dass ich im Wintermärchen mitspielen soll, oder?«

»Ach ja?«, fragt Julia gleichgültig. »Harry, nimm deinen Ellbogen aus meinem Bauch.«

»Nimm deinen Bauch aus meinem Ellbogen«, gibt er zurück.

»Ich hasse das Stück, deshalb habe ich versucht zu tauschen …«

»Das geht nicht«, unterbricht Vanessa sie. »Stimmt doch, oder? Das haben sie uns nämlich als Erstes gesagt. Es wird nicht getauscht.« Ich weiß nicht, wo sie den Stift herhat, aber sie ist anscheinend dabei, das Wort Shakespeare in großen runden Buchstaben auf Harrys Unterarm zu malen.

»Du kriegst, was du kriegst, und du kriegst keine Wut«, bemerkt Julia und kichert. »Weißt du noch, Alex? Das hat unser Kindermädchen immer zu uns gesagt.«

»Hat aber nicht funktioniert. Du bist trotzdem immer wütend geworden.«

»Und habe deshalb immer das größere Stück Kuchen bekommen. Wer am lautesten schreit, kriegt eben, was er will.«

»Wenn du redest, spüre ich die Vibrationen in deinem Bauch«, stellt Harry fest.

»Jedenfalls wollte ich nur sagen«, meldet Marie sich wieder, dieses Mal noch lauter, »dass ich jetzt mit euch in Was ihr wollt bin.« Sie knufft Harry in die Seite. »Ist das nicht super?«

»Super.« Er ballt die freie Hand zur Faust und reckt sie aus seiner liegenden Position in die Luft. »Wir sind die Größten! Alle Macht dem Volk!«

Julia und Vanessa schauen sich an. Vanessa beugt sich achselzuckend wieder über ihr angefangenes Kunstwerk, und Julia fragt: »Sie haben dir wirklich erlaubt zu tauschen?«

»Charles ist ja so nett«, antwortet Marie. Sie hat ihre dichten hellen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sodass ihre bernsteinfarbenen Augen riesig wirken. Ich hatte eine American-Girl-Puppe, die genauso aussah wie sie. Allerdings kann ich mich nicht mehr erinnern, welche es war. Nellie? Kit? Josefina jedenfalls nicht. »Wir werden irre viel Spaß haben.«

»Aber sie haben doch gesagt, dass wir auf gar keinen Fall tauschen können. Unter gar keinen Umständen.« Julias Stimme klingt plötzlich ungewöhnlich hoch und gepresst. »Bist du sicher, dass du in unserem Ensemble bist?«

»Absolut. Und eine gewisse Diane übernimmt meinen Part im Wintermärchen.« Marie knufft Harry wieder. »Will sich vor dem Zapfenstreich noch jemand eine Limo oder so aus der Mensa holen?«

»Wie spät ist es?«, frage ich. Ich kann mein Handy nicht aus der Tasche ziehen und nachschauen, weil Harrys Beine darauf liegen.

»Sie haben uns gesagt, dass wir immer eine Uhr tragen sollen«, erklärt Marie – und schlägt die Hand vor den Mund. »Oh, sorry – das hab ich vergessen. Du bist ja gar nicht in dem Programm. Ich bin echt blöd!«

»Es ist halb zehn«, sagt Alex. »Du musst doch noch nicht gehen, Franny, oder?«

»Noch nicht«, antworte ich, weil es mir egal ist, ob ich zu spät komme und Tante Amelie sauer ist – nicht, wenn Alex will, dass ich bleibe.

Genau diesen Moment sucht Isabella sich aus, um zu unserem Sofa zurückzukommen. Ich bin nicht besonders glücklich, sie zu sehen, vor allem da Alex ihr gespannt entgegenblickt. Aber sie ist nicht seinetwegen gekommen. Sie fängt Harrys Blick auf und hebt Zeigefinger und Mittelfinger ausgestreckt an den Mund. Er rollt sich sofort von unseren Beinen und steht auf. Von seinen menschlichen Kissen kommt ein mehrstimmiges »Aua«.

»Tut mir echt leid«, sagt er munter. »Viel Spaß noch, Leute.« Damit gehen er und Isabella in Richtung Ausgang.

»Wartet auf mich!« Vanessa springt auf und läuft hinter ihnen her.

»Was war das denn?« Marie schaut ihnen nach. Eine kleine Zornesfalte bildet sich zwischen ihren Brauen.

»Zigarettenpause«, erkläre ich.

Julia steht ebenfalls auf. »Brianna ist in meiner Gruppe.« Sie weist mit dem Kinn auf eine zierliche Rothaarige auf der anderen Seite des Raumes. »Ich sag mal Hallo.«

»Ich komme mit«, beschließt Marie sofort. »Jetzt, da ich in eurem Ensemble bin, sollte ich die anderen auch alle kennenlernen.«

Julia nickt nicht gerade begeistert. Ich nehme an, dass sie nur zu Brianna wollte, um sich mit ihr darüber auszutauschen, wie unfair es doch ist, dass Marie die Gruppe gewechselt hat, wo man ihnen doch gesagt hatte, dass es gegen die Regeln verstößt.

Sie gehen. Alex und ich bleiben allein auf dem Sofa zurück. Wir sitzen immer noch dicht nebeneinander und keiner rückt vom anderen weg.

»Du rauchst nicht, oder?«, fragt er.

Ich schüttele den Kopf. »Meine Mutter schnuppert an mir, sobald ich durch die Tür komme. Sie wüsste es sofort, wenn ich auch nur eine einzige Zigarette geraucht hätte, und sie hat schon eine Liste mit den Dingen gemacht, auf die ich verzichten müsste, falls sie mich je beim Qualmen erwischen würde: auf ihren Wagen, auf mein Handy, auf mein Glück und auf meine Freiheit … Außerdem hat mein großer Bruder gedroht, dass er kein Wort mehr mit mir redet, sollte ich je so blöd sein und mit dem Rauchen anfangen.«

»Das soll eine Drohung sein? Wenn Julia mir versprechen würde, dass sie dann nie mehr mit mir redet, würde ich mir sofort eine anstecken.«

»Ich mag meinen Bruder. Er ist in Ordnung.« Ich hoffe, dass er mehr über William erfahren will – er ist eines meiner Lieblingsthemen –, doch ein Student erscheint in der Tür und bittet um Ruhe. Er ist groß und schlank und trägt eine Brille mit dickem schwarzen Rand (ganz ähnlich wie die von Vanessa, fällt mir auf).

»Nur eine kurze Durchsage, Leute«, fängt er an, und Julia ruft: »Gib’s ihnen, Charles!« Er salutiert in ihre Richtung und fährt fort: »Ich möchte euch nur daran erinnern, dass ihr um elf alle in euren Zimmern sein müsst und dass das Licht um Mitternacht gelöscht wird. Im Moment kommt euch das vielleicht früh vor, aber glaubt mir, wir werden euch so hart rannehmen, dass ihr froh sein werdet um jede Minute Schlaf, die ihr kriegt. Einer von uns knipst um Viertel nach zehn das Licht hier aus. Ihr vertagt dann eure Unterhaltungen und marschiert nach oben. Bis halb elf jeden Abend könnt ihr euch in der Mensa Tee, Kakao und Mineralwasser holen. Ihr könnt gern hinübergehen und euch eindecken – ihr müsst nur rechtzeitig wieder zurück sein.« Er blickt sich um. »Das sieht alles sehr gemütlich aus. Freut mich, wenn alle Freunde finden. Aber vergesst nicht: Auch der Schlaf ist euer Freund.« Es folgt ein kollektives Stöhnen, woraufhin Charles sagt: »Hey, das ist mein Eins-a-Text. Besser wird’s nicht.« Er klopft mit den Fingerknöcheln an die Wand. »Elf Uhr, Leute. Zwingt uns nicht, euch danach zu holen. Ihr werdet uns sonst nicht mehr mögen, das kann ich euch versprechen.« Damit verlässt er den Aufenthaltsraum.

Alex erhebt sich und streckt mir die Hand hin. »Sollen wir uns in der Mensa was zu trinken holen?«

»Gern.« Ich lasse mich von ihm hochziehen. Seine Hand ist warm und trocken, und er drückt meine kurz, bevor er loslässt. Das ist schön, aber lieber hätte ich noch eine Weile länger mit ihm auf dem Sofa gesessen.

Richtig deprimiert bin ich, als uns draußen Isabella, Harry und Vanessa entgegenkommen. Alex lädt sie sofort ein, mit uns in die Mensa zu kommen. Irgendwie ergibt es sich, dass er plötzlich neben Isabella geht, während ich zwischen Vanessa und Harry hinterherzockle. Die beiden riechen wie ein voller Aschenbecher.

Da es sowieso schon spät ist und es allem Anschein nach keinen guten Grund mehr gibt, Amelia zu verärgern, wünsche ich allen eine gute Nacht und mache mich vom Acker.

Alex lauscht so konzentriert auf etwas, was Isabella sagt, dass er zum Abschied nur fahrig die Hand hebt.