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Viertes Kapitel

Bella war in der Küche und bereitete das Abendessen vor, in der einen Hand ein riesiges Messer, in der anderen das Stück Fleisch, an das sie es gleich anlegen würde. Bella gehörte zu den Leuten, die penibel einen wöchentlichen Essensplan verfolgen.

Abgesehen von den Wochenenden, an denen Nathan sich wünschen durfte, was es gab, hielt sie sich mit an religiösen Fanatismus grenzender Hingabe an eine präzis festgelegte Reihenfolge:

Montag:Hühnerpastete
Dienstag:Lammkoteletts
Mittwoch:Fischpastete
Donnerstag:Shepherds-Pie
Freitag:Rindergulasch

Dieser feste Speiseplan hatte in seiner Vorhersehbarkeit etwas an sich, das Alice an ihre Schulzeit erinnerte. Außerdem weckte er in ihr regelrechte Sehnsüchte nach einem schlichten, leichten Salat … Sie ermahnte sich selbst, schließlich war sie schon reichlich privilegiert, überhaupt jemanden zu haben, der für sie kochte. Nur leider fühlte sich dieses Privileg überhaupt nicht wie eines an, wenn die Köchin sozusagen die Horrorrektorin jener Schule mit dem unverrückbaren Speiseplan war …

Bella sah auf, als Alice die Küche betrat, und bedachte sie mit einem Blick, den sie sich vom Rausschmeißer eines angesagten Nachtklubs abgeguckt haben könnte, der einen Einlass begehrenden Betrunkenen in Jeans und dem falschen Schuhwerk beäugt.

»Hallo, Bella, … äh … Nathan … also, ich meine Mr. Masters … wird nicht zum Abendessen da sein … muss noch arbeiten, leider …«, stammelte Alice und wünschte sich gleichzeitig, sie wäre Mrs. Gorse gegenüber nicht so ein Küken und besagte Mrs. Gorse wäre nicht mit einem großen Messer bewaffnet.

Bella hielt inne und sah Alice aus zusammengekniffenen, vorwurfsvollen Augen an, als sei sie daran schuld, dass Nathan nun nicht in den Genuss des Pfeffersteaks kommen würde, das sie auf sein Geheiß so liebe- und hingebungsvoll zubereitete.

Bella legte das Messer hin und seufzte.

»Und wie sieht es mit Ihnen aus, Miss Cooper? Möchten Sie abendessen?«

Alice blinzelte.

Das war die verfänglichste aller Fangfragen.

Wollte sie abendessen?

Das hing einzig und allein davon ab, ob Bella wollte, dass sie abendessen wollte oder nicht.

Sollte sie Nein sagen und riskieren, dass Bella beleidigt war, weil sie ihr Abendessen verschmähte?

Oder sollte sie Ja sagen und riskieren, als verwöhntes Gör abgestempelt zu werden, das von Bella erwartete, rund um die Uhr zu schuften?

Sie konnte es ihr sowieso nicht recht machen. Es war, als habe man ihr eine Granate zugeworfen, und nun musste sie überlegen, ob sie sie auffangen oder in Deckung gehen sollte.

Sie konnte sich lediglich überlegen, welches Szenario heute Abend wohl am schwersten zu ertragen wäre.

Oder sie konnte ein Manöver versuchen.

Gute Idee.

»Was wäre Ihnen denn am liebsten, Bella?«

Granate abgelenkt und zurückgeschickt.

»Es steht mir nicht zu, mich dazu zu äußern, Miss Cooper.«

Granate gefangen und erneut abgefeuert.

Mist.

Ach, was soll’s, es war ja doch verkehrt, ganz gleich, was sie machte, also würde sie das tun, worauf sie selbst am meisten Lust hatte – und das bestand ganz klar darin, für ein bisschen Abstand zwischen sich, Bella und Bellas Pfeffersteak zu sorgen.

Alice log eigentlich nie, aber manchmal diktierte der Selbsterhaltungstrieb ihr doch die eine oder andere Lüge …

»Also, Ihr Pfeffersteak ist ja wirklich immer ganz ausgezeichnet, Bella …« – Lüge Nummer eins; Alice stand nicht besonders auf Steak, und rosa Pfefferkörner in Unmengen von Sahne, Brühe und Brandy mochten ja den Geschmacksnerven anderer Leute einen besonderen Kick verleihen, ihren aber nicht –, »… und es tut mir wirklich leid, dass ich dieses Mal nichts davon kosten werde …« – Lüge Nummer zwei; sie würde jede geringste Chance, diesem Mahl entkommen zu können, mit größter Freude nutzen –, » … aber meine Freundin Flo hat gerade angerufen und mich gebeten, herüberzukommen, weil es Andrew nicht so gut geht …« – Lüge Nummer drei. Aber allein die Erwähnung von Andrews Namen würde Bella zumindest ein kleines bisschen milde stimmen, also musste es sein – auch auf die Gefahr hin, ihm damit eine Krankheit anzuhexen.

Es funktionierte.

Eine halbe Stunde und eine flotte Radtour später saß sie mit Flo und Andrew an deren Küchentisch und beugte das erhitzte rote Gesicht über ein Glas ebenso roten Weins.

»Hör auf, mich auszulachen, Flo …«, brummte sie in ihr Glas, sodass es beschlug.

Flo lachte nur noch lauter.

»Ich kann doch nichts dafür, dass sie so gruselig ist«, schmollte Alice.

Flo schnaubte.

»Ist sie, das weißt du doch!«, verteidigte Alice sich.

Flo nickte, lachte aber immer noch.

»Du brauchst einen Panikknopf«, schlug Andrew vor. »Auf den kannst du dann immer drücken, wenn du Probleme mit Bella hast, und dann …«

»… kommt der rettende Andrew daher?«, spann Flo die Idee weiter und lachte inzwischen Tränen. »Alice braucht keinen Panikknopf, Alice muss sich endlich mal ein Rückgrat zulegen.«

»Ich habe jede Menge Rückgrat, Flo!«, protestierte Alice. »Nur wenn es um Bella geht, krümmt es sich.« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.

»Ich versteh nicht, wieso du dich damit abfindest.« Flo verkniff sich weitere Lachanfälle angesichts der Vorstellung der vor einem Pfeffersteak Reißaus nehmenden Alice, konzentrierte sich auf die ernste Seite des Problems und schüttelte den Kopf.

»Alice würde sich auch mit Dschingis Khan im oberen Etagenbett abfinden, solange sie das untere mit Nathan teilen kann«, grinste Andrew und stupste sie an.

Alice lächelte betreten.

»Stimmt.«

»Dschingis wäre aber mal ’ne nette Abwechslung«, meinte Flo. »Mal im Ernst, Alice, wenn die mich so behandeln würde, hättest du sie dir schon längst vorgeknöpft.«

»Ich weiß, aber das ist was anderes, schließlich bist du meine beste Freundin!«

»Dann sei doch mal selbst deine beste Freundin und knöpf sie dir vor!«

Alice biss sich auf die Lippe und hielt Andrew ihr leeres Weinglas hin.

»Ja, vielleicht sollte ich das mal tun … Ich glaube aber, dass sie irgendwelche Probleme hat …«

»Natürlich hat sie Probleme, und zwar mit dir!«

»Nein, ich meine jetzt ganz persönliche Probleme.«

»Willst du mir etwa weismachen, dass du Mitleid mit ihr hast?« Flo konnte es nicht fassen.

»Na ja, ihre Familie wohnt ja nun nicht besonders weit weg, und trotzdem sieht sie sie so selten. Und außer Robin – einer der Putzfrauen bei uns – hat sie gar keine Freunde. Noch dazu verbindet die beiden meiner Meinung nach eher der gemeinsame Kampf gegen den Schmutz als wahre Freundschaft – sitzen in ihren Pausen immer nur bei einer Kanne Tee zusammen und jammern … Das ist doch kein Leben.«

»Doch, und es ist ein Leben, für das sie sich entschieden hat. Ist dir klar, dass du gerade rechtfertigst, dass sie so unausstehlich ist, weil es ihr ja so schlecht geht? Sag mal, von welchem Planeten kommst du eigentlich, Alice? Manchmal bist du einfach viel netter, als es dir selbst guttut. Das war schon in der Schule so …« Flo wandte sich Andrew zu, der die Geschichte aber schon tausendmal gehört hatte und darum die Augen verdrehte und Alice zuzwinkerte. »Alice war immer supernett und zuckersüß zu allen, auch zu denen, die sie total scheiße behandelten, egal, ob Streber oder Halbstarke, Alice wollte mit allen gut Freund sein. Und wer musste sich die Typen dann vorknöpfen, wenn sie wirklich zu weit gingen?« Sie zeigte mit dem Daumen auf sich selbst. »Meine Wenigkeit, jawohl.«

»Aber würdest du denn Alice anders haben wollen als so, wie sie jetzt ist?«, meldete Andrew sich zu Wort. »Oder hat die Tatsache, dass sie deine beste Freundin ist, vielleicht auch etwas mit der Tatsache zu tun, dass sie einer der nettesten Menschen ist, die du kennst?«

Damit hatte er Flo sichtlich aus dem Konzept gebracht.

»Äh, ja, wahrscheinlich schon.«

Sie streckte die Arme aus und umschlang Alice. »Es macht mich bloß so wütend, dass du dich so von ihr behandeln lässt … und dann auch noch in deinem eigenen Haus.«

»Nathans Haus.«

»Euer Zuhause. Soll ich mitgehen? Meinen Hockeyschläger mitbringen? Bisschen Freundlichkeit in sie reinprügeln?«

»Danke, nein«, grinste Alice.

»Und was ist mit Nathan?«

»Was soll mit dem sein?«

»Na ja, ist doch wohl mindestens das vierte Mal hintereinander, dass er das halbe Wochenende in London bleibt.«

»Er hat gerade wahnsinnig viel um die Ohren. Noch mehr als sonst. Irgendein riesiger Super-duper-Deal auf offener See. Er steckt bis zum Hals in Verträgen und Fristen …«

»Und er hat ja nun weiß Gott einen wunderschönen Hals …« Flo trank einen Schluck Wein und sah Andrew vielsagend an. »Mächtige Männer müssen ja echt wahnsinnig sexy sein … Andrew, Liebling, … wenn unsere liebe Alice sich genug Mut angetrunken und den Heimweg angetreten hat, … ziehst du dir dann wieder deinen Nadelstreifenanzug an und erzählst mir von dreckigen Geschäften …?«

Um Mitternacht stolperte Alice, abgefüllt mit Rotwein, Schokoladenkuchen und Flos guten Ratschlägen, aus Andrews und Flos Haustür zu ihrem im Garten abgestellten Fahrrad und wollte sich gerade etwas wackelig daraufschwingen, als sie im anderen Pförtnerhäuschen Licht sah.

Die beiden wie Lebkuchenhäuser anmutenden Gebäude mit ihren bleiverglasten Fenstern und kunstvollem Stuck flankierten zwillingsgleich die Haupteinfahrt zu Whattelly Hall.

Das Haus auf der anderen Seite der Einfahrt gehörte immer noch Nathan und wurde derzeit von seinem Fahrer Clarence bewohnt.

Flo nannte ihn den »Meuchelmörder«. Weil er sie an den gruseligen Killeralbino aus Da-Vinci-Code erinnerte. Nicht, weil Clarence ein Albino war (im Gegenteil, er hatte dunkle Haare und Haut), sondern weil ihn eine ähnlich stille, brütende Aura umgab.

In der ersten Woche nach seinem Einzug hatte Flo stets bei eingeschaltetem Licht geschlafen – bis Alice sie darauf hingewiesen hatte, dass der Nachbar so nur noch besser in ihr Schlafzimmer gucken konnte. Und dass sie, falls er tatsächlich ein Auftragskiller war, es ihm doch lieber schwerer machen sollte, sie zu beobachten, nicht leichter.

Vor Clarence hatte Nathan einen Fahrer namens Dave. Ein umgänglicher, liebenswerter, knuffiger Bär, den Nathan schließlich aus genau diesem Grund entließ.

Nathan war mit seinen Geschäften zwar schon extrem erfolgreich gewesen, als Alice ihn kennenlernte, aber er war nicht der Typ, der sich auf seinen Lorbeeren ausruhte – er wollte die Welt erobern. Nicht à la Bond-Schurke, sondern à la Gates-Gangster. Und je höher ihn sein Ehrgeiz trieb, desto mehr veränderte sich seine Ansicht darüber, wie ein loyaler Mitarbeiter zu sein hatte.

Dave war keine aalglatte Kampfmaschine gewesen, er konnte nicht fies aussehen und andere im gegebenen Falle einschüchtern. Dave war jemand, der stehen blieb, um Hundewelpen zu streicheln, kleine Kinder zu küssen und alten Damen ein Bonbon anzubieten.

Er fehlte Alice.

Clarence hatte sie nie richtig kennengelernt. In erster Linie, weil Clarence selten etwas sagte. Ganz am Anfang hatte Alice sogar geglaubt, er sei Ausländer und der englischen Sprache nicht mächtig. Entsprechend überrascht war sie, als er irgendwann dann doch den Mund aufmachte und breitestes Cockney sprach.

Es ging das Gerücht, das Clarence mal für jemanden gearbeitet hatte, der für jemanden gearbeitet hatte, der für jemanden gearbeitet hatte, der in der Unterwelt von Soho eine ziemlich wichtige Rolle spielte. Ob das nun stimmte oder nicht – ihm eilte hier in der Provinz ein Ruf voraus, wie es nur in einem Landstrich möglich war, in dem die Definition von »exotisch« ein Glas Ananassaft war und alles und jeder, der von jenseits der Landesgrenze kam, mit ähnlichem Misstrauen beäugt wurde wie ein herrenloser Koffer am Flughafen.

Nicht, dass Clarence das etwas ausmachte. Er war ja ohnehin immer nur an den Wochenenden in Whattelly, nämlich dann, wenn auch Nathan sich wieder aufs Land zurückzog.

Glaubte man Flo, so verbrachte er die Wochenenden damit, Klarinette zu spielen und sich – sommers wie winters – lediglich von einer knappen Badehose und einer Schicht Sonnencreme bedeckt im Garten zu sonnen. Außerdem sah Flo nie Besuch kommen oder gehen, aber Stimmen hörte sie trotzdem … Wie auch immer, Florence ging es deutlich besser, wenn Clarence in London war.

Alice dagegen ging es deutlich besser, wenn Clarence im Pförtnerhaus war, weil das bedeutete, dass auch Nathan zu Hause war.

Erst in diesem Moment ging Alice ein Licht auf. Nathan war nicht in London, sondern … wahrscheinlich in ihrem Bett!

Alice trat so fest in die Pedale, dass sie, hätte sie Flügel gehabt, glatt abgehoben hätte und direkt durchs Schlafzimmerfenster geflogen wäre.

Als sie sich auf Zehenspitzen hineinschlich, schlief er.

Sein goldblondes Haar hob sich vom Kissen ab, die langen Wimpern ruhten auf seinen Wangen, sein schöner Mund war leicht geöffnet … Lautlos zog Alice sich aus, schlüpfte neben ihm unter die Decke und schmiegte ihren nackten Körper an seinen. Als er sie spürte, wachte er halb auf, murmelte etwas, drehte sich um, küsste sie auf die Stirn, schlang die Arme um sie und schlief sofort wieder ein.

Alice schloss die Augen und genoss seine Nähe. Ihr ging durch den Kopf, wie seltsam es doch war, dass Whattelly Hall – ganz gleich, wie viel es ihr bedeutete und wie viele Generationen ihrer Familie bereits dort gelebt hatten – sich für sie jetzt nur wie ihr Zuhause anfühlte, wenn Nathan da war.