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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Sie wurden um zwölf Uhr im Shoestring Cottage erwartet.

Um halb zwölf stand Alice in der Küche des Pförtnerhauses und starrte Flo wie vom Donner gerührt an.

»Flo! Was hast du denn an?«

Flo trug ein hautenges rotes Satinkleid, in dem ihr beeindruckendes Dekolleté und ihre langen Beine ein bisschen zu sehr zur Geltung kamen. Sie war geschminkt und hatte sich die Haare frisiert. Sowohl Lippenstift als auch die gefährlich hohen Stilettos passten exakt zur Farbe des Kleides.

Sie sah aus wie eine Mischung aus Jessica Rabbit und Rita Hayworth.

Andrew glotzte sie ebenfalls an und geiferte. Buchstäblich.

»Bin ich sexy?«

»Und wie«, sagte Alice.

»Danke.«

»Vielleicht ist es für ein sonntägliches Mittagessen etwas übertrieben, aber …«

»Das habe ich auch schon gesagt«, unterbrach Andrew. »Ich finde, du solltest sofort zurück ins Schlafzimmer gehen.«

»Ja, aber nicht, um mich umzuziehen, wenn es nach dir geht«, schalt sie ihn.

»Nein, aber ich habe nichts dagegen, mich auszuziehen.« Hoffnungsvoll strahlte er sie an.

»Siehst du, was ich meine?«, sagte Flo an Alice gewandt.

»Also, hör mal, in einer halben Stunde werden wir Julian Stanton kennenlernen.« Andrew zuckte mit den Schultern. »Das heißt, heute könnte mein letzter Tag als dein Ehemann sein. Ich möchte auf meinen ehelichen Rechten bestehen, solange ich kann.«

Flo nahm sein Gesicht in beide Hände.

»Andrew, Liebling, ich werde dich nicht verlassen, nicht einmal für Julian Stanton, okay? Verstanden? Vielleicht musst du mich eine Weile mit ihm teilen, aber verlassen werde ich dich nicht. Niemals.«

Da Andrew sich bereit erklärt hatte zu fahren, näherte sich Alice Shoestring Cottage zum ersten Mal von der Vorderseite. Das war sicher von Vorteil, weil sie ihre zweitbeste, enger als hauteng sitzende Jeans trug, die eine Kletteraktion über die Mauer sicher nicht heil überstanden hätte.

Als sie sich der kirschroten Haustür näherten, fassten sich die beiden Freundinnen instinktiv an den Händen.

»Ich werde mich bis auf die Knochen blamieren, Flo, versprich mir bitte, dass du mich erschießt, wenn ich anfange zu schreien«, brummte Alice.

»Ja, aber wenn ich dich erschieße – wer erschießt dann mich?«

»Recht hast du. Wir müssen cool bleiben. Wir müssen einfach so tun, als würden wir täglich anbetungswürdige Bestsellerautoren von Filmstarkaliber treffen. Ist doch total easy.«

»Ganz genau, Puppe.« Flo nickte. »Wir sind so cool wie Clooney, aber hallo.«

Daniel öffnete die Tür.

Alice stellte alle einander vor.

Flo fielen sofort Daniels blaue Augen auf, die ganz und gar Julians glichen, aber auch sein schönes Gesicht und sein liebenswürdiges Lächeln. Sie musste ein klein wenig kichern, konnte sich aber ansonsten noch beherrschen.

Und dann war er da. Stand mitten im Wohnzimmer. Höchstpersönlich. Nicht einfach nur ein vom vielen Küssen abgesabbertes Foto. Nein, Julian Stanton. In Fleisch und Blut.

Alice hatte die Hände in die Hosentaschen gezwängt und schlenderte in den Raum. Sie hatte Mühe, das Zucken in der rechten Wange unter Kontrolle zu halten, jenen Vorboten eines ziemlich dämlichen breiten Grinsens. Dann reichte sie Julian Stanton die Hand, doch der begrüßte sie gleich mit Küsschen, sodass Alice puterrot anlief vor Freude und Aufregung.

Flo tat es ihr nach, schlenderte zwei Schritte, stürzte dann auf ihn zu, fing an zu schluchzen und warf sich ihm mit den Worten »Ich verehre Sie!« in die Arme. Diese Erklärung wiederholte sie noch einige Male in unangemessener Lautstärke.

Sie benötigten beide einen ziemlich großen Gin Tonic, um sich von der ersten Begegnung zu erholen, sowie einen weiteren, um sich wieder in den gleichen Raum mit Julian Stanton begeben zu können. Kaum hatte Julian die Chance gehabt, zehn Minuten mit der echten Flo statt mit dem hysterischen Groupie zu reden, wussten sie beide, dass sie Freunde fürs Leben sein würden.

Das Mittagessen gestaltete sich wunderbar gesellig – sie tranken viel Wein, lachten viel und unterhielten sich gut. Julian war genauso, wie sie ihn sich vorgestellt hatten: liebenswert, witzig, unterhaltsam. Und irgendwie hatten sie es sogar geschafft, nicht über seine Bücher zu reden – abgesehen davon, dass sie ihm den Erscheinungstermin seines nächsten Romans entlockten, der genau einen Monat nach Alices Geburtstag lag.

Um Mitternacht schafften sie es endlich, sich loszueisen, und es nahm auch keiner Anstoß daran, dass Flo Julian bat, ihren BH zu signieren … Alice ließ sich weinselig und auch sonst glücklich ins Bett fallen und lachte beim Gedanken an die in ihrem roten Satinkleid auf einen völlig perplexen Julian Stanton zufliegende Flo. Die Szene veranlasste sie, noch einmal ihr Tagebuch hervorzunehmen:

O steht für Obsession.

Besser lassen. Ist nicht schön.

Während Alice diesen kurzen Eintrag verfasste, saßen Daniel und Julian immer noch am jetzt leeren Esstisch bei einer Flasche Rotwein.

»Wie lange bleibst du?«, fragte Daniel seinen Onkel.

»Ich dachte, das würdest du mir sagen. Steht nicht irgendeine Lesereise an?«

Daniel nickte.

»US-Ostküste. Im September.«

»Willst du mitkommen?«

Daniel schüttelte den Kopf.

»Kennst mich doch, ich steh nicht so auf kreischende Fans.«

»Na ja, heute kamst du aber doch ganz gut mit einem von ihnen aus«, witzelte Julian.

»Flo? Ja, die ist toll, was?«

»Eine großartige Frau, und ihr Mann Andrew ist auch total in Ordnung.«

»Und Alice? Wie fandest du Alice?«

Julian schob seine Brille etwas herunter und lächelte seinen Neffen faustisch an.

»Das will ich dir gerne sagen. Aber zunächst mal eine Frage: Warum wolltest du, dass ich sie kennenlerne, Daniel?«

»Wie ich gestern schon sagte, sie ist ein riesiger Fan von dir. Ich dachte, ich würde ihr eine Freude machen, wenn ich sie dir persönlich vorstelle.«

Julian zog die Augenbrauen hoch.

»Du hast mir in meiner gesamten Zeit als Autor Julian Stanton noch nie jemanden vorgestellt, nur weil dieser ein großer Fan von mir ist.«

»Ich dachte, sie würde dir gefallen.«

»Tut sie auch, sehr sogar, aber das ist doch immer noch nicht der Grund, oder?«

»Sie ist eine wunderbare Frau. Hat’s nicht besonders leicht im Moment. Außerdem gefällt sie mir auch. Ich mag sie. Ich wollte sie aufheitern.«

»Du magst sie, Daniel?«

»Ja, ich mag sie.«

»Ist das alles?«

»Ja, das ist alles … Man kann auch mit Frauen einfach so befreundet sein, lieber Onkel. Nicht alle Beziehungen zwischen Männern und Frauen drehen sich um Sex.«

»Kann sein. Aber ich glaube, du machst dir selbst was vor, wenn du dir einredest, dass du rein platonisch an ihr interessiert bist.«

»Ich fand deine Direktheit schon immer sehr erfrischend«, lachte Daniel.

»Du kennst mich, so bin ich. Also …?«

»Gut, ja, ich gestehe es … Wenn die Umstände anders wären … vielleicht …«

»Du meinst, wenn sie nicht mit Nathan Masters zusammen wäre?«

»Du kennst ihn?«

»Nicht persönlich, aber ich habe genug gehört. Und ich weiß, dass er nicht der Typ Mann ist, der es einfach so hinnimmt, wenn man versucht, ihm irgendetwas wegzunehmen, das ihm gehört.«

»Alice gehört ihm doch nicht.«

»So siehst du das. Und ich auch. Aber ein Mann wie Nathan Masters sieht das vielleicht anders. Was mich zu meiner Frage zurückführt: Warum hast du sie mir vorgestellt? Und dieses Mal möchte ich bitte die Wahrheit hören.«

»Weil ich wollte, dass du sie kennenlernst.«

»Aha, das klingt doch schon etwas anders als ›sie wollte mich kennenlernen‹.«

Daniel nickte.

»Und weil du dir vielleicht wünschst, dass die Umstände andere wären?«, bohrte Julian weiter.

»Wir sind einfach nur Freunde, Onkel Julian.«

Doch Julian nickte, als habe Daniel seine Frage auch so beantwortet.

»Also, meinen Segen hast du so oder so. Sie ist eine ganz wunderbare Frau. Und schön.« Über den Rand seiner Brille sah er seinen Neffen an. »Und wenn du dich nicht ranhältst, könnte ich mich selbst Hals über Kopf in sie verlieben …«

»Herrgott noch mal, Julian, ich bin nicht verliebt, und auf deinen Segen war ich auch nicht aus.«

»Ach nein?« Julian zog die Augenbrauen hoch, stand auf und suchte in seinen Jackentaschen nach Zigaretten. »Ich geh nur mal kurz raus, frische Luft schnappen.«

»Also, wie du das Verpesten deiner Lungen mit Zigarettenqualm ›frische Luft schnappen‹ nennen kannst, ist mir wirklich ein Rätsel.« Daniel schüttelte den Kopf.

»Wir habe alle unsere Schwächen … und deine scheint zu sein, dass du gerne alte Männer anlügst, mein Junge.« Er zwinkerte seinem Neffen zu und ging hinaus.

Daniel seufzte und schenkte sich noch ein Glas Rotwein ein.

Julian hatte ja recht. Er wollte es ihm gegenüber nur nicht zugeben … Unter anderen Umständen … Wenn sie nicht in einer Beziehung wäre, die nach allem, was er anfangs erfahren hatte, stabil und langjährig war …

Aber jetzt, da er sie besser kennengelernt und auch mit Menschen gesprochen hatte, die sie gut kannten, gewann er langsam den Eindruck, dass die Welt in Whattelly Hall nicht ganz so heil war. Dass das äußerliche Idyll, das wunderbare Postkartenmotiv, im Inneren alles andere als perfekt war.

Und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihn das freute.

Wenn man jemanden gern hatte, durfte man sich doch nicht darüber freuen, dass es ihm schlecht ging.