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Zweiunddreißigstes Kapitel

Am Morgen ihres Geburtstages wachte Alice auf und war allein im Bett.

Sie war dreißig.

Und hatte ein neues Jahrzehnt als Alice Cooper vor sich.

Und während sie so dalag und die Sonne durch das Fenster fiel, stellte sie sich dieselbe Frage, die sie Flo an ihrem Dreißigsten gestellt hatte:

Fühlte sie sich jetzt, mit dreißig, irgendwie anders?

Und die Antwort lautete: Ja, und wie. Aber das hatte nichts mit ihrem Alter zu tun. Sondern ausschließlich mit diesem Tag.

Alice schnappte sich ihr Tagebuch.

Q steht für Qualen.

Es wäre naiv (da ist es schon wieder!) zu glauben, dass zwischen dir und deiner Liebsten auf immer und ewig eitel Sonnenschein herrscht. Es ist traurig, aber vorprogrammiert, dass die wunderschöne Liebesseifenblase, in der ihr steckt, platzen wird und ihr euch gegenseitig mächtig auf den Senkel gehen werdet. Dass euch vielleicht sogar aufgeht, dass das, was ihr für Liebe hieltet, nur noch ein Scherbenhaufen ist. Wenn es dazu kommt, wenn dieser schreckliche Tag eintritt, dann versucht, bitte, bitte, trotzdem noch nett zueinander zu sein! Quält euch nicht. Streitet euch nicht. Bekämpft euch nicht. Es gehört nicht unabdingbar zu einem Krach dazu, dass man sich anschreit und vollkommen ausflippt. Man kann wütend sein und trotzdem ruhig bleiben. Seid fair. Respektiert einander. Als Individuen, als Menschen. Schreit euch nicht anredet miteinander. Seid rational und rücksichtsvoll. Denkt daran, dass Sarkasmus das Hindernis ist, das euren Zug entgleisen lässt. Und was Sex angeht denn es geht irgendwann immer um Sex, insbesondere nach einem Streit: Selbst der attraktivste, anziehendste Mann mit einer sexuellen Ausstrahlung, die eine Nonne vom Pfad der Tugend abweichen lassen könnte, darf nicht vergessen, dass die erogenste Zone der Frau ihr Kopf ist. Wer das vergisst, wird viele Enttäuschungen erleben. Glaubt mir, Schmollen hilft da auch nichts! Nehmt euch Zeit, miteinander zu reden. Gebt nicht gleich bei den ersten Schwierigkeiten auf, macht euch nicht gegenseitig Vorwürfe, Tobsuchtsanfälle bringen euch auch nicht weiter. Glaubt mir, das Schlimmste für uns Frauen ist, wenn ein Mann sich unfair verhält. Wenn ihr einen auf Vendetta machen wollt und uns verletzt, werden wir des ganzen Spiels sehr schnell überdrüssig und uns eines Tages einfach verziehen, euch in Windeseile zu unserem EX machen, noch eine Weile darüber traurig sein, aber letztendlich sagen: »YEAH, ich habs geschafft!«, weil uns eben doch klar geworden ist, dass Z zwar auch für einige andere Dinge stehen kann, in erster Linie aber das Symbol für ein Ende ist: von A bis Z. Man fängt bei A an und kommt irgendwann zu Z: Z steht für »Ende«.

Sie schlug das Buch zu.

Versteckte es.

Stand auf, duschte und ging hinunter in die Küche. Bob hatte Bella nach unten geholfen, sie saß beim Kamin. Mrs. Hamble stand am Herd und briet eine absurde Menge von Eiern mit Speck in drei Bratpfannen.

Alle drei sahen zu ihr auf und nickten kurz zur Begrüßung.

Dann sahen sie alle wieder weg.

»Möchte jemand eine Tasse Tee?«, frage Alice verwirrt in die den Blick abwendende Runde.

»Gerne, ja.«

»Oh, ja, bitte.«

»Das wäre lieb von Ihnen.«

»Gut, dann setze ich mal Wasser auf.«

Sie hatte ja nun wirklich keine Geschenke oder Glückwunschkarten erwartet, aber mündliche Glückwünsche zum Geburtstag bekam sie doch in der Regel – selbst von Bella.

Und dann erschrak Alice fast zu Tode, als die Tür zur Speisekammer aufflog und ein ganzer Stimmenchor »ÜBERRASCHUNG!!!!« schrie.

Und da waren sie alle: Flo, Andrew, Floyd, Lucy, Sebastian, Anton und all die anderen Freunde aus Whattelly. Flo hielt einen Kuchen in der Form eines riesigen Marmeladenglases, auf dem dreißig Kerzen flackerten.

»Wir können den Tag doch nicht völlig partylos verstreichen lassen«, lächelte sie ihre Freundin voller Hoffnung an. »Wir wissen ja, dass du eigentlich nicht feiern wolltest, aber … bitte sei jetzt nicht sauer auf uns!«

Alice war nicht sauer.

Eier mit Speck und Geburtstagskuchen. Eine seltsame, aber sehr schöne Kombination.

Sie setzten sich alle an den großen Holztisch, lachten, machten Witze, überschütteten Alice mit Geschenken und Umarmungen und Liebesbekundungen. Erst da fand Alice die innere Stärke, sich einzugestehen, wo ihr Zuhause war. Wem ihr dummes, fehlbares, naives Herz gehörte.

Als sie gingen, umarmte Flo Alice, als wolle sie sie nie wieder loslassen.

»Wir kommen trotzdem heute Abend noch vorbei«, flüsterte sie ihr entschlossen ins Ohr.

»Sicher? Das wird wahrscheinlich nicht gerade lustig.«

»Umso wichtiger, dass wir in der Nähe sind.« Flo nickte. »Ich bringe auch meinen Hockeyschläger mit.«

Zehn Minuten nachdem die Gäste weg waren und Alice Katie geholfen hatte, die Küche aufzuräumen, während Bob Bella wieder nach oben in ihr Zimmer brachte, stand sie im Flur und fragte sich, wie sie die dunklen Stunden bis zu Nathans Ankunft verbringen solle. In dem Moment klingelte das Telefon.

Alice hatte keine Ahnung, wer außer Nathan das sein könnte, und ließ den Anrufbeantworter drangehen. Doch dann hörte sie eine aufgekratzte Frauenstimme auf Band sprechen.

»Hallo, Alice, Barbara Darling hier. Ich hatte gehofft, Sie noch zu erwischen, bevor Sie wieder Stachelbeeren stampfen und Birnen blubbern lassen. Ich bin heute wieder mal in Whattelly und wollte fragen, ob Sie wohl Zeit hätten, mit mir zu Mittag zu essen? Meine Handynummer ist …«

Alice staunte selbst über den Eifer, mit dem sie auf einmal den Hörer abnahm.

»Hallo, Barbara, tut mir leid, ich hatte …«

»Sie filtern wohl Ihre Anrufe, was?«, neckte Barbara sie.

»So ähnlich, ja. Hören Sie, ich arbeite heute gar nicht, ich habe heute frei …«

»Na, wunderbar! Also können wir uns treffen? Um halb eins? Sie bestimmen, wo. Was meinen Sie?«

»Großartig. Wirklich, gerne.«

Zwei Stunden später saß sie einer recht perplex wirkenden Barbara Darling im Darjeeling gegenüber – einem netten kleinen Café in Upper Whattelly.

»Tee und Kuchen zum Mittagessen, Alice?«

Barbara staunte ganz offenkundig angesichts des Lokals, das Alice sich ausgesucht hatte.

»Mittagessen, Frühstück, Abendessen – ich kann immer Kuchen essen.« Alice zuckte mit den Schultern.

Barbara lachte.

»Sie klingen ja genau wie Daniel.«

»Aha? Haben Sie ihn denn heute schon gesehen?«

Barbara nickte. »Da war ich heute früh gleich als Erstes.«

»Wie geht es ihm?«

Forschend sah Barbara sie an.

»Schien mir ein bisschen durch den Wind zu sein. Hatte dunkle Ringe unter den Augen, war sehr blass. Ein bisschen wie Sie, um ehrlich zu sein. Vielleicht haben Sie beide sich den gleichen Virus eingefangen?«

»Kann schon sein.« Alice senkte den Blick. »Warum wollten Sie sich mit mir treffen, Barbara?«

Barbaras Antwort war nicht die Antwort, die Alice erwartet hatte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie gedacht, nein, gehofft, dass Daniel sie geschickt hatte.

»Sie wollen was?«, musste Alice zum wiederholten Male fragen, weil sie einfach nicht glauben konnte, was sie da gerade gehört hatte.

»Palindrome möchte gerne einen Vertrag mit Ihnen machen«, wiederholte Barbara.

»Einen Vertrag.«

»Palindrome Verlag. Einen Verlagsvertrag. Über ein Buch«, erklärte Barbara zum dritten Mal.

»Aber ich habe doch gar keins geschrieben.« Alice war verwirrt.

»Nein, noch nicht ganz«, räumte Barbara ein. »Aber ich glaube, … die glauben, … dass Sie schon ganz gut angefangen haben …«

»Barbara, ich verstehe wirklich beim besten Willen nicht, wovon Sie reden!«

»Ich weiß.« Barbara biss sich auf die Lippe und riss zerknirscht die ohnehin schon großen Augen auf. »Vielleicht sollte ich doch besser ganz von vorne anfangen … Und das heißt, ich muss Ihnen etwas beichten …«

Sprachlos hörte Alice sich Barbaras Geständnis an. Erst erstaunt, dann verwirrt, dann wieder erstaunt – es war eine regelrechte Achterbahnfahrt der Gefühle, die sie in ihrem momentanen Zustand kaum ertragen konnte. Alice hätte vor Scham im Erdboden versinken mögen bei der Vorstellung, dass nicht nur Barbara, sondern auch ihre Agentur und ein ganzer Verlag ihre intimsten Gedanken gelesen hatten. Doch dann durchflutete sie ein bis dato ungekanntes Hochgefühl. Man bot ihr nicht nur einen Verlagsvertrag an – einen äußerst lukrativen Verlagsvertrag sogar –, sondern eine Rettungsleine. Geld war nie ihr Ein und Alles gewesen, aber wenn jemand dir erzählt, dass du auf einen Schlag so viel davon verdienen könntest, dass es für eine satte Anzahlung für ein Haus reicht, dann hörst du nicht einfach weg und sagst: »Nein, danke.« Und weil sie das dachte, musste Alice sich konsequenterweise fragen, wozu sie denn eine Anzahlung für ein Haus bräuchte, und sich der unausweichlichen Antwort auf diese Frage stellen.

Darum sah sie zu Barbara auf, die sie mit dem hoffnungsvollen Blick eines Menschen fixierte, der auf ein Ja wartete, und sagte es.

»Ja.«

Barbara jubelte vor Freude, was die anderen Gäste in dem ruhigen Café dazu veranlasste aufzusehen.

»Ach, Alice, ich freu mich so! Wie schön! Wie wunderbar! Die Leute bei Palindrome waren so begeistert, und ich freue mich wahnsinnig, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, ich glaube, wir werden sehr gut miteinander auskommen, wirklich!« Sie streckte den Arm aus und ergriff Alices Hand. Diese ehrliche, spontane Geste der Zuneigung war nach allem anderen einfach zu viel für Alice.

Ihr lief eine Träne über die Wange. Eine dicke, fette Träne, die sich den Weg aus ihrem rechten Auge in die Freiheit erkämpft hatte, kullerte ihr übers Gesicht und fiel dann auf ihren Kuchen.

Das entging Barbara natürlich nicht.

»Dann ist es also wahr, was in dem Tagebuch steht?«, fragte sie leise.

Alice nickte.

»Ich kenne Nathan Masters nicht besonders gut, Alice. Ich kenne mehr seinen Ruf als ihn selbst. Aber ich kenne mich mit Männern generell ein bisschen aus, und ich glaube, ich kann mit voller Überzeugung sagen, dass es die Sache nicht wert ist, wenn er Sie nicht glücklich macht. Wenn er Sie nicht gut, das heißt, mit Respekt behandelt, dann hat er Sie nicht verdient. Es gibt ja noch andere Männer, wirklich gute Männer …«

»So wie Daniel?«, rutschte es Alice heraus. »Ist Daniel ein guter Mann?«

Barbara lächelte.

»Ich glaube, die Antwort auf diese Frage kennen Sie bereits selbst. Aber wenn Sie meine ganz bescheidene Meinung hören wollen, ich finde ihn fantastisch.« Und dann lehnte sie sich über den Tisch, als wolle sie Alice ein Geheimnis zuflüstern. »Er ist noch viel besser, als den meisten Menschen bewusst ist …« Und dann richtete sie sich wieder auf, nahm sich ihre Tasche und holte eine schlichte schwarze Schachtel heraus.

»Jetzt hätte ich es doch fast vergessen. Er bat mich, Ihnen das hier zu geben. Alles Gute zum Geburtstag von Daniel. Und wenn ich früher gewusst hätte, dass Sie heute Geburtstag haben, hätte ich Ihnen natürlich auch eine Kleinigkeit gekauft. Aber da wir jetzt viel Zeit miteinander verbringen werden, werde ich ja noch ausreichend Gelegenheit haben, das wiedergutzumachen. So, und jetzt muss ich zum Bahnhof, zurück nach London, um Ihren Vertrag in Stein zu meißeln, bevor Sie es sich anders überlegen.«

Barbara verabschiedete sich mit Küsschen und rauschte ab.

Alice sah ihr nach, wie sie, ohne sich umzusehen, noch einmal winkte und verschwand. Ein Wirbelwind aus Chanel. Sie wartete, bis Barbaras Duft verflogen war, dann bestellte sie noch eine Tasse Earl Grey. Unverwandt sah sie die Schachtel vor sich auf dem Tisch an.

Sie zwang sich, erst den Tee zu trinken, bevor sie das Geschenk öffnete. Mit schlechtem Gewissen genoss sie die Freude darüber, ein Geschenk von Daniel bekommen zu haben – dann erst wollte sie den Inhalt genießen.

In der Schachtel lag ein wunderbar schlichtes, schweres silbernes Charms-Armband, an dem nur ein einziger Anhänger war.

Ein Schlüssel.

Alice war im Bad noch gar nicht fertig, als die ersten Autos kamen. Nach einer ausgiebigen Dusche, noch in ihr Handtuch gewickelt, hörte sie Reifen über den Kies knirschen und dachte, dass es für Flo und Andrew doch noch viel zu früh sei, also musste es sich wohl um Nathan handeln. Als sie aus dem Fenster schaute, ließ sie vor Schreck das Handtuch fallen.

Der großräumige Wendehammer stand bereits voller Autos, und auf der Einfahrt reihten sie sich Stoßstange an Stoßstange, um möglichst nah zum Haus zu kommen.

Als die Scheinwerfer eines Wagens über die Fassade glitten wie Suchscheinwerfer in einem Gefängnis, verschwand Alice ganz schnell hinter dem schweren Brokatvorhang.

»Was ist denn jetzt los?«, murmelte sie.

Als wolle sie einen merkwürdigen Traum verscheuchen, blinzelte Alice und schüttelte den Kopf. Dann streckte sie den Kopf hinter dem Vorhang hervor und warf einen weiteren vorsichtigen Blick aus dem Fenster.

Alles immer noch genau wie eben – und noch mehr Autos auf der langen Einfahrt.

Was wollten die hier?

In Windeseile schlüpfte sie in die Klamotten, die sie vorher angehabt hatte: Jeans und Pulli. Doch dann sah sie, wie eine Gruppe äußerst elegant gekleideter Frauen aus einem großen Geländewagen ausstieg, erinnerte sich an die neuen Sachen, die Nathan ihr in absentia geschenkt hatte, und zog sie so feierlich an wie eine Ritterrüstung.

Alice hörte von unten das Knallen eines Sektkorkens und gleich darauf ein Quieken. Sie dachte nicht mehr an die Kürze ihres Kleides und spähte ängstlich über das Geländer hinunter in die große Eingangshalle.

Die war voller Menschen.

Alice ließ den Blick über die Menge schweifen und musste feststellen, dass kein einziges bekanntes Gesicht dabei war. Sie eilte den Flur hinunter zum anderen Ende des Hauses – zu Bella. Die saß mit hochgelegtem Bein direkt am Fenster im Schlafzimmer und betrachtete ebenfalls das Chaos vor dem Haus.

»Wissen Sie, was hier los ist, Bella?«

Bella lächelte sie mitfühlend an.

»Das ist Ihre Geburtstagsparty.«

»Meine Geburtstagsparty? Aber … aber …«

Das konnte nicht ihre Geburtstagsparty sein.

Weil sie nämlich gar keine Geburtstagsparty wollte.

»Was möchtest du an deinem Geburtstag gerne machen?«

Das hatte er sie bereits vor Monaten gefragt, sie erinnerte sich genau daran.

Und sie erinnerte sich auch genau an ihre Antwort: »Nur nichts Großartiges, vielleicht mit Flo und Andrew zu Abend essen?«

»Du willst keine große Party?«

»Eine große Party wäre der reinste Albtraum für mich.«

Woraufhin er gelächelt und zustimmend genickt hatte.

»Also ein Abendessen für vier«, hatte er gesagt.

Und auch sie hatte gelächelt.

Ein Abendessen für vier?

Das sah mehr nach einem Abendessen für vierhundert aus.

Fassungslos sah Alice, wie immer mehr Leute auf das Haus zuströmten. Dann drehte sie sich zu Bella um und blickte sie aus großen Augen wie ein verstörtes Kaninchen an.

»Aber …«, sagte sie. »Aber …«

Bella schüttelte den Kopf.

»Er hat eine Cateringfirma beauftragt, und in der Orangerie ist ein DJ. Bob hat die Stiefelkammer umbenannt in die Schampuskammer, weil sich so viele Kisten Champagner darin stapeln, dass man vor lauter Schampus keine Stiefel mehr findet. Im Speisesaal steht ein Kuchen, der so groß ist wie das Duck & Bucket. Und für Mitternacht ist ein Feuerwerk geplant, das selbst das zum Jahrtausendwechsel in den Schatten stellen wird. Seit Tagen wird alles Mögliche angeliefert. Die Leute von der Cateringfirma haben sich in den Ställen versteckt, bis Sie im Bad verschwunden waren. Er hat Unmengen an Zeit und Geld in die Organisation gesteckt, Miss Alice. Ich weiß, das ist nicht das, was Sie wollten. Aber es ist das, was Sie bekommen. Und manchmal muss man die Dinge eben akzeptieren, wie sie sind, und das Beste daraus machen …«

Alice ging zurück zur Treppe und betrachtete staunend die Menschenmenge. Wie die Sardinen standen sie in der Eingangshalle, und von der weiteren Geräuschkulisse konnte sie darauf schließen, dass es in den anderen Räumen nicht anders aussah.

Sie musste jedes Fitzelchen Mut zusammenkratzen, um schließlich die Treppe hinunterzugehen.

Der riesige Speisesaal, in dem die eigenen Schritte sonst hallten, war so voller Menschen, dass man nicht bis zum Ende des Raumes sehen konnte. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war und ihr Vater sich noch rauschende Feste hatte leisten können, hatten an dem großen Tisch in der Mitte einmal zu Weihnachten vierzig Gäste Platz gefunden. Jetzt verschwand er völlig unter zahllosen silbernen Serviertellern mit exotisch aussehenden Häppchen darauf.

Äußerst effiziente Kellner in Schwarz huschten leise wie Gespenster herein und wieder hinaus, reichten ständig neue Tabletts mit Kanapees herum oder stellten noch mehr Essen auf dem ohnehin schon unter seiner Last ächzenden Tisch ab, in dessen Mitte ein riesiger Kuchen stand, mit weißem Zuckerguss überzogen und mit Schmetterlingen aus Zucker dekoriert.

Andere Kellner zirkulierten mit Champagnergläsern, die ihnen so schnell vom Tablett gerissen wurden wie Designerklamotten bei einem Lagerverkauf von der Stange.

Alice nahm sich ein Glas, weil sie sonst die Einzige im ganzen Haus gewesen wäre, die kein Glas in der Hand hatte, und bewegte sich dann verunsichert durch die Räumlichkeiten des Hauses. Sie hoffte, wenigstens einen Menschen zu treffen, der ihr nicht völlig fremd war. Wenigstens einen Menschen, den sie irgendwann vorher schon einmal gesehen hatte. Sie schob sich durch das Gemurmel, von dem im Vorbeigehen Gesprächsfetzen wie Spinnweben an ihr hängen blieben und sie schaudern ließen.

»So, so, hierher verschwindet Masters also immer am Wochenende. Und ich dachte, er sei mit irgendeiner französischen Tänzerin in Brighton liiert?«

»Nein, das ist doch schon Jahre her.«

»Ach, ja?«

»Ja. Mindestens vier oder sogar fünf.«

»Celia, Schatz, was machst du denn hier? Ich dachte, du wolltest dieses Wochenende nach Chamonix?«

»Na ja, also, wenn Nathan Masters eine Party schmeißt, dann zögere ich natürlich nicht lange.«

»Also, ich habe gehört, er will damit den Philadelphia-Deal feiern.«

»Ach, ja? Gemma hat gesagt, es sei eine Geburtstagsparty, und Gemma weiß eigentlich immer, was Nathan vorhat.«

»Was und mit wem.«

»Also, da drüben steht ein Kuchen, von daher könnte das mit dem Geburtstag stimmen …«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen, Süße. So, wie ich Nathan kenne, springt da nachher eine nackte Frau raus.«

»Sind Sie sich sicher, dass Nathan Masters der Gastgeber ist?«

»Ganz sicher. Warum?«

»Weil im Badezimmer kein Koks ist und ich noch keine Stripperinnen gesehen habe!«

Alice hätte vor Erleichterung weinen können, als sie Andrew und Flo in einer Ecke der Orangerie stehen sah. Sie standen ganz dicht beieinander, betrachteten aus großen Augen die vielen Menschen und klammerten sich jeweils an einem Glas Champagner fest. So fest – es grenzte an ein Wunder, dass das Glas nicht zersprang.

Sie brauchten einen Moment, bis sie Alice erkannten. Bis ihnen aufging, dass diese hochgewachsene, gertenschlanke Frau in dem atemberaubenden Kleid und auf Absätzen, die so schwindelerregend hoch waren, dass sie vermutlich inklusive Auffanggurt geliefert worden waren, Alice war. Doch als es ihnen dämmerte, war die Freude groß.

»Alice! Wir haben dich überall gesucht! Was ist denn hier bloß los?«, flüsterte Flo, als interessiere sich irgendjemand in der plappernden Menge dafür, was sie zu sagen hatte. »Wer sind all diese Menschen?«

Alice schüttelte hilflos den Kopf.

»Wie es aussieht, ist das hier eine Party von Nathan Masters, und die Gäste sind Leute, die er seine Freunde nennt.«

»Und wo ist er? Wo ist Nathan?«

Wie zur Antwort auf diese Frage brach plötzlich eine allgemeine Unruhe aus, gegen die selbst der DJ mit seiner Anlage nicht mehr ankam. Die Leute fingen an, durch die Orangerie hinaus in den Garten zu laufen.

Die Ursache dieses Tumultes war die Ankunft eines Hubschraubers.

Das Flappflappflapp der Rotorblätter im Landeanflug übertönte die Musik und die aufgeregten Rufe. Das Fluggerät mit dem runden Bauch setzte auf. Die Rotorblätter drehten sich weiter, während eine Gruppe beanzugter Männer herauskletterte. Dann hob der Hubschrauber wieder ab. Er tauchte die Männer in Lichtblitze, während sie über den makellosen englischen Rasen auf das Haus zuliefen. Der DJ legte »Little Green Bag« aus Reservoir Dogs auf, und die Gäste jubelten und jauchzten, als seien sie bei einem Rockkonzert und die Band sei gerade angekommen.

Nathan führte die Gruppe an, als sie die Orangerie erreichte. Als seien sie die Könige der Welt. Seine Haare vom Wind zerzaust, aber ansonsten so makellos wie immer, in einem grauen Hugo-Boss-Anzug, der seine breiten Schultern und seine schmale Hüfte gut zur Geltung brachte, schritt er zum Mischpult und schnappte sich das Mikrofon.

Der DJ drehte die Musik ab.

Nathan sah aus, als sei er völlig high – kein Wunder, nach dem Auftritt!

Seine grünen Augen glitzerten wie Edelsteine. Mit der freien Hand löste er seine Krawatte, bevor er die Stimme erhob.

»Schön, dass Sie alle gekommen und hier sind! Willkommen! Ich hoffe, dass jeder hier ein Glas in der Hand hat, weil ich nämlich etwas sehr Wichtiges zu sagen habe. Etwas, das mit jeder Menge Champagner gefeiert werden muss … Heh, Sie da!« Er sah zu einer Gruppe von Kellnern, die sich in der Nähe der Tür zur Küche versammelt hatte. Er bedeutete ihnen, sich in Bewegung zu setzen. »Marsch, Marsch! Ich will nicht, dass irgendjemand ein leeres Glas in der Hand hält!«

Er schwieg, während sämtliche Kellner sich wie Ameisen durch die Gästeschar bewegten.

»Der Mann ist einfach so hammerattraktiv, der steht schon länger auf meiner Liste«, hörte Alice eine junge Frau neben sich ihrer Freundin zuraunen.

»Was denn für eine Liste?«, fragte die Freundin.

»Männer, mit denen ich gevögelt haben will, bevor ich dreißig werde.«

»Isobelle! Er hat eine Freundin! Und mit der wohnt er sogar zusammen!«

»Aber nicht in London.«

»Isobelle!«, quietschte die andere jetzt noch lauter, doch ihre Empörung schlug jetzt um in bewunderndes Lachen. »Pscht! Mag ja sein, dass sie nie in London ist, aber das heißt doch, dass sie sehr wohl hier sein könnte. Wer weiß, vielleicht steht sie ja sogar neben dir?«

Die Frau sah sich um, ihr Blick streifte Alice nur kurz, und dann lachte sie.

»Ach, was«, höhnte sie, »Nathan Masters Freundin müsste ja wohl vom Kaliber einer Helena Christensen oder Claudia Schiffer sein, oder? Und so eine sehe ich im Umkreis von zehn Metern nirgends. Außer uns natürlich!«

Alice und Flo sahen einander an. Flo nahm einen imaginären Hockeyschläger zur Hand und briet »Isobelle« damit von hinten eins über. Sie musste die Prügelstrafe jedoch einstellen, als ein Kellner, der sich auf die Lippe biss, um nicht laut loszulachen, ihnen Champagner anbot.

»Gut. Sind jetzt alle versorgt? Wunderbar. Also, wie ich bereits erwähnte, ich habe etwas sehr Wichtiges zu sagen …«

»Er holt dich bestimmt gleich nach vorne, Alice …«, flüsterte Flo besorgt.

»Also, Folgendes: Ich bin extrem stolz, und es ist mir eine riesige Freude, …«

Flo griff Alices Hand.

»… Ihnen allen mitteilen zu können, dass Masters Inc. soeben den fettesten Deal der Firmengeschichte gelandet hat, … und das, meine Lieben, heißt: Ab heute sind wir ein Global Player!«

Die Menge fing wieder an, begeistert zu jubeln, doch Nathan hob die Hand, um wieder für Ruhe zu sorgen.

»Als wir anfingen, von der Fusion mit Philadelphia zu reden, wurde uns von allen Seiten gesagt, das werde nie klappen. Wir haben das Gegenteil bewiesen! Und zwar so überzeugend, dass die anvisierte Fusion sogar zu einem Übernahmeangebot geführt hat …« Er hielt inne, als wieder Jubelrufe und Pfiffe ertönten. »Masters Incorporated ist jetzt der Name in Sachen weltweites Fondsmanagement. Wir haben Büros in jeder wichtigen Stadt von London bis Hongkong … Also, stoßen wir an … auf uns … WIR HABEN ES GESCHAFFT

Der Jubel war ohrenbetäubend.

Nathan stand da vorne wie ein Prediger bei einer religiösen Versammlung, der seine Schäfchen immer mehr aufputscht. Wahrscheinlich würden die Gäste in Kürze reihenweise in Ohnmacht fallen und anfangen, verzückt zu schreien.

Dann hob er wieder die Hände, um für Ruhe zu sorgen, und wie ein Orchester, das den Anweisungen seines Dirigenten folgt, verstummte die Gästeschar.

»Außerdem … Viele von Ihnen wissen es wahrscheinlich nicht, aber wir haben heute noch etwas ziemlich Wichtiges zu feiern … Alice? Wo zum Teufel bist du? Kann mir mal bitte jemand Alice hierher schaffen?«

Jeder sah sich in seiner direkten Nachbarschaft um.

Die unverblümte »Isobelle« sah ihre Freundin an und schnitt eine Grimasse.

Alice war entsetzt und versteckte sich hinter Flo.

Da tauchte aus Nathans Schatten eine Gestalt auf. Clarence. Er flüsterte Nathan etwas zu und zeigte auf Alice.

Aller Augen richteten sich auf sie.

Genau wie in dem Traum, in dem man splitternackt in der Schule ist und sich nirgends verstecken kann.

»Hey, da bist du ja! Was zum Teufel machst du so weit weg von mir, Miss Cooper!?«

Im Raum war es mucksmäuschenstill.

»Na ja, wenn du dich also am anderen Ende des Raumes herumtreibst, Alice, dann muss ich es dir eben zurufen …«

Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Alice schloss die Augen.

»Alles Gute zum verdammt beschissenen Geburtstag«, flüsterte sie sich selbst zu, bevor sie tief durchatmete, die Augen wieder öffnete und ihn ansah.

»Alice Cooper«, sprach er sie noch einmal an und hob sein Glas. »Willst du mich heiraten?«

Als habe jemand einen Schalter betätigt, herrschte mit einem Mal Totenstille. Immer noch sahen alle Gäste sie an.

Und dann sah sie aus dem Augenwinkel ein bekanntes Gesicht.

Aus dem dunklen Flur kommend betrat jemand den Raum.

Daniel.

Sie sah, wie seine Lippen ein einziges Wort formten. »Nein.«

Mehr sagte er nicht.

Sie sah ihn an, wartete, sah wieder zu Nathan, wartete, und auch die vierhundert begeisterten, bösen, begierigen Fremden warteten.

Alle warteten auf ihre Antwort.

Drängten sie schweigend dazu, etwas zu sagen.

Flo hielt immer noch ihre Hand.

Sie ließ sie los.

Trat einen Schritt nach vorne.

Atmete tief durch.

»Ja.«