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MANCHMAL GIBT ES GRÜNDE, ZU LÜGEN .

Gute Gründe.

Logische Gründe.

Wie das Versprechen, das ich meinem Dad gegeben habe und das mich jetzt zwingt, Braxton eine erfundene Geschichte zu erzählen.

Das Problem ist nur, dass ich mich schrecklich dabei fühle, die eine Person anzulügen, die mir hier wirklich etwas bedeutet. Doch Braxton sieht mich immer noch an, wartet auf eine Antwort und ich muss schnell etwas sagen.

Ich räuspere mich übertrieben, bevor ich einfach das ausspreche, was mir als Erstes in den Sinn kommt. »Ich dachte, ich hätte … keine Ahnung, eine Spinne gesehen oder so …« Ich schlucke schwer, spüre die Scham heiß in meine Wangen steigen. Lügen ist mir noch nie leicht gefallen.

Ich hoffe, dass Braxton sich damit zufriedengibt, die Lücken einfach selbst füllt. Doch er bleibt reglos vor mir stehen, Wasser tropft von seinem Haar auf seine Schultern, rinnt dann langsam über seine Brust, folgt den harten Linien seiner Muskeln.

Ich zwinge mich, den Blick abzuwenden, atme tief durch. Dann blase ich meine Backen auf und versuche es erneut. »Ich … ich hab mir einfach das Erste geschnappt, was ich gesehen habe, und …« Meine Stimme bricht, ich ziehe die Schultern ein. Ich kann ihn nicht ansehen. Wir wissen beide, dass ich lüge.

Braxton sieht zwischen mir und den Stiefeln hin und her. Und gerade, als ich damit rechne, dass er mich zur Rede stellt, sagt er: »Du sahst so panisch aus. Ich dachte, etwas wirklich Schlimmes wäre passiert.« Seine Stimme ist ruhig, sein Blick fest.

Unwillkürlich lege ich die Hände auf meinen Bauch, fahre mit den Fingern nervös die Linien des Gray-Wolf-Logos nach. »Tja, ich war noch nie ein Fan von achtbeinigen Viechern.« Meine Stimme schnellt so weit in die Höhe, dass ich das Gesicht verziehe. Das ist eins meiner verräterischen Zeichen und ich frage mich, ob Braxton das inzwischen weiß. So wie mir aufgefallen ist, dass er mit seinem Siegelring spielt und dass sein Akzent plötzlich klingt wie bei einem Charakter aus Oliver Twist , wenn er nervös ist oder etwas verbirgt.

»Und wo ist sie jetzt?«, fragt er. »Die Spinne, die du gesehen hast.« Fragend legt er den Kopf schief, doch ich presse nur die Lippen zusammen und hebe halbherzig die Schultern.

Einen nervenaufreibenden Moment lang mustert mich Braxton. Mir wird klar, dass ich überzeugender sein muss, also deute ich vage ans andere Ende des Schranks, beobachte dann, wie er hinübergeht und so tut, als würde er sich dort genau umsehen.

Oder vielleicht sieht er sich tatsächlich um. Nicht einmal das kann ich noch mit Sicherheit sagen. Ich will einfach nur aus dieser Situation entkommen, einen Ausweg aus diesem lächerlichen Spiel finden.

»Und wie groß ist deine Abneigung gegen achtbeinige Viecher?« Braxton dreht sich wieder zu mir, die Lippen zu einem Grinsen verzogen, das seine Augen nicht erreicht. »Muss ich ausziehen? Arthur bitten, mir ein anderes Zimmer zu besorgen? Weiter oben vielleicht? Soll ich hier am besten alles niederbrennen?«

Er kommt auf mich zu, mit nackten Füßen überquert er den Webteppich, die stürmischen Augen fest auf mich gerichtet.

»Ähm, nein«, murmle ich. Mein Herz rast so schnell, dass es laut in meinen Ohren dröhnt. »Halt einfach nur die Augen offen, das reicht schon.«

Direkt vor mir bleibt er stehen, so nah, dass ich die kleinen violetten Sprenkel in seinen Augen sehen kann und die exakte Stelle, an der sich seine Nase leicht krümmt. Der nach der Dusche frische Duft seiner Haut dringt in meine Nase.

Mein Kinn bebt, meine Knie zittern, doch ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass nur noch ein plüschiges weißes Handtuch uns trennt, oder daran, dass uns beiden klar ist, wie sehr ich mich in meinem eigenen Lügennetz verfangen habe.

Braxton legt einen Finger unter mein Kinn, presst seine Stirn an meine. »Solange es dir gut geht. Das ist alles, was mir wirklich wichtig ist.«

Dann, bevor ich etwas erwidern kann, dreht er sich um und sammelt die Klamotten zusammen, die er heute tragen will.

Ich sehe zu, wie er einen dunkelblauen Kaschmirpulli über den Kopf zieht und das kreisförmige Tattoo in seiner Armbeuge unter dem Ärmel verschwindet.

Als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er das Tattoo als Fehler bezeichnet. Wie bei den Stiefeln hat er schnell das Thema gewechselt, wollte offensichtlich nicht darüber sprechen. Und auch wenn ich ihn nicht weiter gedrängt habe, war da so viel angestaute Energie spürbar, dass ich es mit all den anderen merkwürdigen Dingen abgespeichert habe.

Und je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher sehe ich, wie schnell sich diese merkwürdigen Dinge zu einem großen Stapel auftürmen.

Wie viele Geheimnisse hat dieser Junge vor mir?

Er steigt in dunkle Jeans und als er sich auf eine Ottomane fallen lässt, um sich Socken anzuziehen, frage ich: »Dann fällt unser Tag am Strand wohl aus?«

»Tut mir leid«, sagt er und sein Blick wirkt tatsächlich aufrichtig. »Aber ich mache es wieder gut, versprochen. Du weißt, dass ich dir nicht mehr verraten darf.«

»Natürlich«, erwidere ich und auch wenn das Wort eine gewisse Schärfe hat, weiß ich, wie es läuft. Braxton ist schon länger hier als ich, was bedeutet, dass er kein Schüler mehr ist, aber auch noch kein Lehrer. Im Prinzip geht er einfach überallhin, wo Arthur ihn braucht und manchmal sind diese Orte eben geheim.

Mein Blick wandert zurück zu den Stiefeln.

Was zur Hölle war das für eine Vision?

Ich meine, wie ist es möglich, dass eine Verbindung zwischen diesen schwarzen Lederstiefeln und meinem Dad besteht, wenn er doch aus meinem Leben verschwunden ist, bevor ich Braxton überhaupt kennengelernt habe?

»Was ist mir dir?« Der Klang von Braxtons Stimme holt mich aus meinen Gedanken. »Du kannst trotzdem an den Strand gehen. Jago hilft dir bestimmt gern dabei, surfen zu lernen.«

Ich sehe zu, wie er die Schnürsenkel seiner Sneaker bindet, bevor er sich auf die Suche nach einem Gürtel macht. Jago ist super und in den letzten Wochen zu einem guten Freund geworden. Das letzte Mal war ich mit Oliver und Finn in der Gray Wolf Cove. Diesmal hatte ich gehofft, die riesige Halle – eine unbegreifliche Verbindung aus Hightech und Natur voll weißem Sand und türkisem Wasser samt richtigen Wellen – mit meinem Freund zu besuchen. Doch da dieser Plan nun geplatzt ist, muss ich mir wohl überlegen, wie ich den Tag allein verbringe.

Einen Besuch in der Bibliothek wird das nicht beinhalten, so viel ist sicher. Nachdem ich mit der Sonne – einem der fehlenden Teile des Mechanismus von Antikythera, den Arthur wiederherstellen will – aus Versailles zurückgekehrt bin, nur um herauszufinden, dass ich bald auf der Suche nach dem Mond in die italienische Renaissance reisen werde, habe ich die letzten drei Wochen mit der Recherche verbracht. Und mein Gehirn braucht wirklich mal eine Pause von all dem Auswendiglernen und der Faktensuche, zu der ich mich zwinge.

»Vielleicht schaue ich kurz im Wellnessbereich vorbei. Und danach bei den Ställen«, sage ich, obwohl ich an keinem von beidem wirklich interessiert bin.

Ich will mich gerade auf die Suche nach meinen Schuhen machen, als Braxton seinen Talisman aus einer Schublade holt. Während ich zusehe, wie er den kleinen goldenen Kompass in seine Tasche steckt, schrillen in meinem Kopf plötzlich Alarmglocken los.

»Musst du …« Die Frage bleibt auf meiner Zunge kleben. »Musst du heute … springen?«, frage ich.

Seit Song verschwunden ist, erfüllt mich der Gedanke an einen Sprung durch die Zeit mit Panik. Natürlich weiß ich, dass Zeitreisen mit jeder Menge Gefahren einhergehen, und in der Vergangenheit festzustecken ist nur eine davon. Mir selbst wäre das schon zwei Mal beinahe passiert, doch zum Glück habe ich es beide Male sicher zurückgeschafft. Offensichtlich hatte Song nicht so viel Glück.

Braxton zuckt mit den Schultern und reibt sich über den Hinterkopf. »Bei Arthur weiß man das nie. Ich gehe lieber auf Nummer sicher.«

Meine Lippen sind fest zusammengepresst und obwohl ich versuche, mich gelassen zu geben, ist Braxton sofort an meiner Seite.

»Hey, was ist los?« Er schlingt einen Arm um meine Taille und zieht mich an sich. »Geht es um Song?«

Ich lehne meine Stirn an seine Brust, bin dankbar für seine Unterstützung, komme mir aber gleichzeitig lächerlich vor, weil ich sie so sehr brauche. Springen ist nun mal das, was wir hier tun, und ich kann nicht jedes Mal eine Panikattacke bekommen, wenn er durch die Zeit reist. Trotzdem erwidere ich: »Es ist, als wäre es allen egal.« Ich lege den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können. »Oder zumindest versucht niemand, sie zu finden.«

»Das weißt du nicht.« Mit einer Hand streicht Braxton über mein Haar. »Wir wissen nur, was Arthur uns wissen lässt, und es ist ihm wichtig, uns nicht zu sehr zu beunruhigen.«

»Aber findest du nicht, dass das Schweigen viel schlimmer ist?« Ich suche nach einem Hinweis in seinem Blick, ob er wirklich glaubt, was er gerade gesagt hat. »Ich meine, eben macht man noch Pläne mit jemandem und im nächsten Moment ist derjenige verschwunden und man hört und sieht nie wieder was von ihm. Was, wenn das mit dir passiert?« Ich reiße die Augen auf. »Ich kann mir nicht mal vorstellen, was ich dann tun würde.«

»Mir wird das aber nicht passieren«, sagt Braxton. »Es gibt keinen Grund zur Sorge.«

Ich atme tief durch, hoffe, dass er recht hat, während ich mich damit zu beruhigen versuche, dass Arthur Braxton niemals aufgeben würde. Er ist schon zu lange hier, ist zu wichtig. Selbst wenn das Schlimmste passiert, würde er jemanden auf die Suche nach ihm schicken.

Wie Jago mir an meinem ersten Tag hier gesagt hat: In Gray Wolf darf man nie seinen eigenen Wert aus den Augen verlieren. Je mehr sie in dich investieren, desto weniger wollen sie dich verlieren , hat er gesagt.

Tja, und Arthur hat nicht nur eine ganze Menge in Braxton investiert, sondern sieht auch mich als eine seiner wertvollsten Schülerinnen. Primär weil er denkt, dass ich die Einzige hier bin, die finden kann, was er sucht. Was bedeutet, dass sowohl Braxton als auch ich in Sicherheit sind.

Aber was ist mit den anderen – dem Rest meiner Freunde?

Sind sie in Arthurs Augen wirklich so leicht zu ersetzen?

Ich brauche dringend einen Themenwechsel, deswegen frage ich: »Meinst du, es ist zu früh, um noch mal zu versuchen, mit Mason zu sprechen?«

Braxtons Miene wird weicher, doch das Zucken an seinem Kinn entgeht mir nicht. »Es ist nie zu früh, um mit einem Freund Frieden zu schließen«, sagt er. »Ob Mason allerdings irgendwas davon wissen will …« Er hebt die Schultern, lässt den unfertigen Satz in der Luft zwischen uns hängen. »Gib ihm Zeit. Er wird sich beruhigen.«

»Ich hoffe, du hast recht.« Ich seufze.

»Und jetzt …« Braxton drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. »… muss ich mich fertig machen. Darf ich dich zur Tür bringen?«

Das ist das Äquivalent zu einem Also, ich sollte dann mal … am Telefon. Aber ich nehme es ihm nicht übel. »Alles gut«, sage ich. »Ich finde den Weg.«

Braxton verschwindet zurück ins Bad und ich gehe ins Schlafzimmer, wo ich meine Schuhe am Fuß des Betts finde.

Nachdem ich sie angezogen habe, will ich gerade das Zimmer verlassen, als mir ein kleiner Stapel ledergebundener Bücher auf dem Tisch neben der Tür ins Auge fällt – dem Anschein nach alles Erstausgaben.

Ich betrachte das Cover des obersten Buchs, Jane Eyre . Versonnen lächle ich, nehme dieses Buch als weiteren Beweis dafür, was für ein traditioneller Romantiker Braxton ist.

Mit einem Finger streiche ich über den Buchdeckel, klappe ihn dann auf und stelle fest, dass Charlotte Brontë selbst es signiert hat, mitsamt persönlicher Nachricht an Braxton.

Für Braxton,

dein Wille soll dein Schicksal bestimmen.

C.B.

Meine Sicht verschwimmt.

Meine Hand zittert.

Bevor ich weiß, wie mir geschieht, rutscht mir das Buch aus den Fingern, doch ich kann es gerade noch auffangen und auf den Stapel zurücklegen.

Dann stürme ich aus der Tür, angetrieben von der Erinnerung an ein anderes ledergebundenes Buch, das ich einmal gesehen habe. Die Erinnerung ist so lebhaft – unfassbar, dass ich bis eben nicht daran gedacht habe.

Diese Mauern beherbergen so viele Geheimnisse und es ist höchste Zeit, dass ich ein paar Antworten auf meine lange Liste von Fragen bekomme.

Ganz oben mit dabei: Was zur Hölle geht hier wirklich vor sich und wie genau hängt das mit meinem Dad zusammen?