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WIE SICH HERAUSSTELLT, IST ES NICHT wirklich eine Nachricht.

Eher ein Rätsel. Und auch nach dem zweiten Lesen bin ich mir nicht sicher, wie ich es interpretieren soll, deswegen lese ich es noch einmal:

Oh, Nachfolger der Narren

Du stehst vor dem Orakel

Ein Gürtel aus Schlangen um deine Mitte

Rote Rosen über dir und zu deinen Füßen

Nur Torheit bindet dich an diesen Ort

Und nach dem dritten Anlauf ergeben die obskuren Sprachbilder plötzlich Sinn. Die Antwort ist so offensichtlich – unglaublich, dass ich nicht sofort darauf gekommen bin.

Natürlich. Es ist eine Anspielung auf den Tarot-Garten.

Mit dem Parfum und dieser Nachricht weist Song mir den Weg zu dem Ort, an dem sie das Buch versteckt hat.

Zumindest hoffe ich das. Und wenn ich tatsächlich recht habe, weiß ich genau, wo ich anfangen muss.

Ein Tarotkartendeck besteht aus achtundsiebzig Karten – zweiundzwanzig davon bilden die große Arkana, sechsundfünfzig die kleine Arkana. Und diese ersten zweiundzwanzig Karten – vom Narren bis zur Welt – folgen einer bestimmten Ordnung, die zugleich bildhaft die Lebensreise darstellt.

Genau wie Niki de Saint Phalles Skulpturen in der Toskana stellen auch die Kunstwerke im Tarot-Garten von Gray Wolf die Karten der großen Arkana dar. Deswegen schlussfolgere ich, dass sich die erste Zeile von Songs Nachricht »Oh, Nachfolger der Narren« auf die Karte des Magiers bezieht (eine Karte, die ich früher schon mit Arthur in Verbindung gebracht habe), da diese Karte die Nummer eins trägt und somit direkt auf die Karte des Narren mit der Nummer null folgt.

Die zweite Zeile »Du stehst vor dem Orakel« bestätigt diese Schlussfolgerung. Das Orakel, auch bekannt als die Hohepriesterin, trägt die Nummer zwei und kommt dementsprechend direkt nach dem Magier mit der Nummer eins.

Die beiden Zeilen »Ein Gürtel aus Schlangen um deine Mitte« und »Rote Rosen über dir und zu deinen Füßen« sind weitere Hinweise, dass Song mich auf die Statue des Magiers hinweisen will, da das standardmäßige Rider-Waite-Tarotdeck den Magier mit einer Schlange um die Taille und umgeben von Rosen zeigt.

Die letzte Zeile »Nur Torheit bindet dich an diesen Ort« verstehe ich allerdings nach wie vor nicht.

Spielt Song damit auf die Tatsache an, dass die Skulpturen hier Kopien der italienischen Originale sind?

Oder vielleicht ist es ein verschleierter Seitenhieb auf Arthur und diese Zeitreisefestung, die er errichtet hat?

Oder ist es persönlicher? Eine Referenz auf mich und die Tatsache, dass ich aufgehört habe, zu kämpfen, aufgehört habe, einen Ausweg zu suchen?

Ehrlich gesagt könnte der letzte Satz alles Mögliche bedeuten. Und da ich Song leider nicht fragen kann, muss ich mit dem arbeiten, was mir zur Verfügung steht.

Mit der Parfumflasche und der Nachricht in der Hand gehe ich hinüber zu meinem großen Fenster und blicke hinaus in einen Tag, der jetzt schon verspricht, grau, düster und kalt zu werden. Nichts Neues also.

Ich lasse meinen Blick nach unten driften, mehrere Stockwerke in die Tiefe, bis zum Tarot-Garten. Als ich die silberne Kuppel entdecke, die den Kopf des Magiers bildet, überläuft mich ein plötzlicher Schauder, erinnert mich an etwas, das ich bis zu diesem Moment vergessen hatte.

In traditionellen Tarotdarstellungen trägt der Magier einen roten Umhang – ganz ähnlich wie die Gestalt, die in der Fragmentierung durchs Labyrinth gerannt ist.

Ist das ein weiterer Zusammenhang – oder ein weiterer Zufall?

Du musst immer über das Offensichtliche hinaussehen , hat mein Dad gesagt. Such nach der tieferen Bedeutung der Dinge.

Mein Blick wandert wieder hinauf zum Himmel, wo fette dunkle Sturmwolken sich zusammenbauschen, bis sie zur doppelten Größe angeschwollen sind. Jeden Moment wird der Himmel seine Schleusen öffnen und eine Flut aus Regen auf uns niederlassen.

Eine Stimme in meinem Kopf drängt mich, rauszugehen, solange ich noch kann – bevor der Regen meinen Plan zunichtemacht.

Aber ich weiß auch, wie viel Wert hier auf anständiges Benehmen gelegt wird, und im Moment kann ich es mir nicht leisten, negativ aufzufallen.

Nachdem ich das Gedicht und das Parfum beiseitegelegt habe, ziehe ich die geliehenen Klamotten aus, steige unter die Dusche und drehe das Wasser voll auf.

Während die Duschkabine sich langsam mit Dampf füllt, driften meine Gedanken zurück zu dem Tag, an dem ich das ledergebundene Buch in Songs Zimmer gesehen habe. Ich weiß noch genau, wie sehr es mich an das Buch aus der Fragmentierung erinnert hat. Doch als ich Song gefragt habe, ob ich es mir näher ansehen darf, hat sie mich abgewiesen.

Ein anderes Mal, hat sie gesagt. Gefolgt von einem Satz, den ich seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekomme: Und nur damit du es weißt: Magie war immer schon die Währung der Unterdrückten.

Ich kann nicht mal mehr zählen, wie oft ich diese Worte in Gedanken analysiert habe. Ich habe sogar recherchiert, ob sie jemanden zitiert hat. Doch soweit ich herausfinden konnte, ist das nicht der Fall. Und ich bezweifle, dass sie diesen Satz aus einem der inspirierenden Zitate hat, die Arthur uns gern auf unsere Slabs schickt.

Nein, Song wollte mir mit diesen Worten etwas sagen – etwas, das mit dem Buch zu tun hat. Und auch wenn ich mir immer noch nicht sicher bin, was sie damit gemeint hat, habe ich – hoffentlich – zumindest das Rätsel in ihrer Nachricht gelöst:

Arthur ist der Magier. Der Rest von uns sind die Unterdrückten. Und nur Torheit hält uns an diesem Ort. Doch wir können uns verteidigen – mithilfe von Magie – und uns vielleicht sogar befreien.

Es gab eine Zeit, da hätte ich einfach nur gelacht, wenn mir jemand vorgeschlagen hätte, Magie zu verwenden. Doch das scheint in einem anderen Leben gewesen zu sein.

Seit ich herausgefunden habe, dass Zeitreisen tatsächlich möglich sind – seit ich mehrere Jahrhunderte in die Vergangenheit katapultiert wurde –, ist nichts mehr unmöglich.

War es nicht Einstein, der gesagt hat: »Das für uns Undurchdringliche existiert dennoch«?

Natürlich will ich Einstein nicht widersprechen, frage mich aber dennoch, ob ich nicht vielleicht voreilige Schlüsse ziehe.

Vielleicht ist die ganze Situation weit weniger dramatisch, als ich denke.

Vielleicht ist Song gar nicht verschwunden.

Vielleicht hat sie sich entschlossen, nach Anjou zu suchen, da sich sonst niemand die Mühe gemacht hat.

Als ich die Seife von meinem Körper wasche und das Shampoo aus meinen Haaren wringe, weiß ich mit Sicherheit, dass die Antworten auf Songs Verschwinden sich in diesem Buch befinden.