»WO BRINGST DU MICH HIN? «, frage ich und deute auf den Korridor, durch den Killian mich führt. »Das ist nämlich definitiv nicht der Weg zum Frühlingssaal.«
»Das liegt daran, dass wir nicht in den Frühlingssaal gehen«, sagt er.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Einen Schritt weiter hält auch Killian an und dreht sich zu mir um.
»Meinst du wirklich, es wäre eine gute Idee, an einem so öffentlichen Ort zusammen Kaffee zu trinken?«, fragt er.
Das ist ein gutes Argument, trotzdem zögere ich.
»Kannst du wenigstens versuchen, mir zu vertrauen?« Aus blauen Augen sieht er mich flehentlich an. »Immerhin habe ich dir das Leben gerettet.«
Kopfschüttelnd verziehe ich das Gesicht. »Nicht das schon wieder.«
Killian lacht auf.
»Und wo wir schon beim Thema sein, hör auf, mich ›Klinge‹ zu nennen.« Ich verschränke die Arme vor der Brust, um deutlich zu machen, dass ich es ernst meine.
Killian nickt nur und geht weiter. Nach ein paar Schritten beeile ich mich, ihn einzuholen.
»Also, nur damit ich das richtig verstehe.« Wieder dreht er sich zu mir um und da er mich um knappe zwanzig Zentimeter überragt, muss er das Kinn einziehen, um meinem Blick zu begegnen. »Ich darf dich nicht ›Klinge‹ nennen und wir wissen beide, dass ›Darling‹ ebenfalls vom Tisch ist. Das habe ich ja auf die harte Tour gelernt. Allerdings habe ich gehört, dass ein paar Leute dich Tasha nennen.«
»Nur Braxton«, entgegne ich genervt. »Braxton ist der Einzige, der mich Tasha nennt. Deswegen ist der Name für dich auch tabu.«
»Na gut.« Er nickt. »Dann vielleicht Nat?«
»Nein.« Das Wort fliegt regelrecht aus meinem Mund, was mir natürlich sofort einen fragenden Blick einbringt. Doch in diesem Fall werde ich nicht nachgeben. Nat erinnert mich an die schlimmste Version meiner selbst, an das Mädchen, das ich war, bevor ich hierhergekommen bin. Die teilnahmslose, selbstzerstörerische Verliererin, die in so ziemlich jedem Bereich des Lebens versagt hat.
»Dann musst du mir helfen«, meint er. »Denn mir gehen die Optionen aus.«
»Du kannst mich Natasha nennen«, erwidere ich. »Ich heiße Natasha Antoinette Clarke. Ganze drei Namen, von denen du dir gern einen aussuchen darfst.«
Killian schüttelt den Kopf. »Sorry, aber so sehe ich dich einfach nicht. Vielleicht solltest du dir einen neuen Namen ausdenken, wie so ziemlich alle anderen hier. Oder glaubst du etwa, dein Herzblatt hieß immer schon Braxton?«
Wieder sieht Killian auf mich herab, doch ich zucke nur mit den Schultern, will ihm nicht zeigen, wie sehr er mich damit überrascht hat.
Wenn Braxton nicht sein echter Name ist, wie heißt er dann? Und warum hat er seinen Namen geändert – und wieso hat er mir das nie erzählt?
»Glaubst du, Elodie Blue ist tatsächlich der Name, der auf ihrer Geburtsurkunde steht?«, fährt Killian fort und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
Wieder zucke ich mit den Schultern. Da ich das bei Elodie schon selbst geschlussfolgert habe, frage ich: »Und wer warst du, bevor du zu Killian de Luce geworden bist?« Ich mustere ihn mit schmalen Augen. Auch wenn zwischen uns nach den grauenhaften Erlebnissen, die wir gemeinsam überstanden haben, eine gewisse Verbindung besteht, weiß ich so gut wie nichts über ihn.
Killian grinst. »Netter Versuch. Aber hier geht es um dich . Und ich muss sagen, für mich wirst du immer ›Klinge‹ sein. Tut mir leid, meine liebe Freundin. Aber der Name passt einfach zu dir.«
Frustriert stoße ich die Luft aus, obwohl ich gedanklich noch daran festhänge, dass er mich als Freundin bezeichnet hat. Mir ist schon klar, dass dieses Wort unsere Beziehung am treffendsten beschreibt, aber es ist doch irgendwie traurig, dass wir gezwungen sind, diese Tatsache vor allen anderen zu verbergen.
Allerdings scheint das nur mir etwas auszumachen. Killian könnte sich nicht weniger dafür interessieren, was andere über ihn denken.
»Und jetzt verrat mir …« Abrupt bleibt er stehen. »Was ist dein Lieblingsort auf dieser Felsinsel? Und nur, um das gleich vorwegzunehmen, es gibt keine richtige Antwort, nur falsche.«
Ich entscheide mitzuspielen und setze eine übertrieben nachdenkliche Miene auf – die Augen zusammengekniffen, Finger ans Kinn gedrückt, während ich einen unbekannten Horizont anstarre. »Lass mich überlegen … Vermutlich steht es unentschieden zwischen dem Mondgarten und dem Glasraum«, antworte ich, doch kaum sind die Worte aus meinem Mund, bereue ich sie schon.
Im Mondgarten hätten Braxton und ich uns beinahe das erste Mal geküsst. Außerdem hat er mir dort gestanden, was hier in Gray Wolf wirklich vor sich geht.
Im Glasraum ist es dann tatsächlich zu unserem ersten Kuss gekommen – einem Kuss, der so unvergleichlich war, dass allein die Erinnerung daran mir die Röte in die Wangen treibt.
Ich hätte seiner Frage ausweichen sollen, hätte so tun sollen, als könnte ich mich unmöglich zwischen all den fantastischen Optionen entscheiden. Der Mondgarten und der Glasraum gehören nur Braxton und mir. Was bedeutet, dass ich keinen dieser Orte mit Killian besuchen will.
»Du hast dich selbst übertroffen, Klinge«, sagt Killian. »Ich habe nur mit einer falschen Antwort gerechnet, aber du hast gleich zwei geliefert. Und wie’s aussieht, sind das tatsächlich deine Lieblingsorte. Der Gedanke daran reicht schon aus, um deinen Wangen etwas Farbe zu verleihen.« Er deutet auf mein Gesicht, was natürlich nur noch mehr Hitze aufsteigen lässt.
»Und was wäre die richtige Antwort gewesen?«, frage ich, halb amüsiert, halb genervt – der übliche Gemütszustand, wann immer ich mit diesem Jungen zu tun habe.
Killian grinst und auch wenn ich problemlos zugeben kann, dass er das Lächeln eines absoluten Herzensbrechers hat, zeigt es auf mich keinerlei Wirkung. »Heute«, sagt er, bleibt vor einem Aufzug stehen und drückt den Rufknopf, »kannst du einen neuen Ort in deine Favoritenliste aufnehmen.«
»Damit setzt du ganz schön hohe Erwartungen«, meine ich. »Sicher, dass du nicht zu viel versprichst?«
»Das darfst du entscheiden.« Er zuckt mit den Schultern. »Aber erstmal müssen wir dort hinkommen. Und da ham wir noch ’ne ziemliche Juckelei vor uns, dat kann ich dir sagen.« Er hat seinen Akzent wieder ausgepackt und ich will ihn gerade darauf ansprechen, als die Fahrstuhltür aufgleitet und Killian mich in die Kabine schiebt.
Kurz darauf rasen wir so schnell in die Tiefe, dass ich unwillkürlich an meinen Besuch im Tresor denken muss, obwohl ich mir sicher bin, dass das nicht unser Ziel ist. Als der Aufzug schließlich stehen bleibt und die Tür aufgleitet, treten wir hinaus in einen so schlichten, so trostlosen und so kargen Raum, dass ich mich einen Moment lang frage, ob wir Gray Wolf irgendwie verlassen haben.
Natürlich weiß ich, dass wir uns noch auf der Insel befinden, da man sie nur via Zeitreise oder einer furchteinflößenden Bootsfahrt durch gefährliche Gewässer verlassen kann. Trotzdem haben wir mit dieser kurzen Aufzugfahrt unsere luxuriöse, schneekugelartige Welt weit hinter uns gelassen und sind an diesem Ort gelandet, der sich wohl am besten mit den Worten industriell und düster beschreiben lässt.
Die Decke hängt klaustrophobisch tief. Der Boden besteht aus demselben Zement wie die Wände. Das Ganze wirkt wie eine merkwürdige Tiefgarage.
»Okay, das ist …« Ich sehe mich um, suche nach dem perfekten Wort. Hier gibt es kein einziges Kunstwerk, keine reich verzierten Kristallkronleuchter, keine teuren Wandbehänge. Nur meilenweit kalten grauen Zement, erleuchtet von grellen Neonröhren.
»Unerwartet?«, schlägt Killian vor.
Ich schüttle den Kopf. »Ich hatte eher sowas wie trostlos im Sinn. Aber ja, unerwartet trifft es auch. So oder so scheint mir das ein sehr merkwürdiger Ort zu sein, um Kaffee zu trinken.«
Aber kein merkwürdiger Ort, um eine Leiche zu verstecken.
Der Gedanke trifft mich wie aus dem Nichts. Und trotz meines warmen Parkas läuft mir ein eisiger Schauder über den Rücken.
Alles ist gut. Dir geht’s gut , versuche ich mir einzureden. Du wirst nur getriggert. Du bist an einem beengenden, fremden Ort mit einem Jungen, den du nicht wirklich kennst. Das ist ein Kontrollverlust. Mehr nicht. Atme einfach weiter bis zu Wohlbefinden und Frieden, so wie Dr. Lucy es dir gezeigt hat.
Doch während ich mich bemühe, meinen Atem zu beruhigen, wirbeln weiterhin so alarmierende Gedanken durch meinen Kopf, dass ich zutiefst bereue, mich auf diese Sache eingelassen zu haben.
Zum einen, weil Braxton Killian nicht nur hasst, sondern mich auch unzählige Male gewarnt hat, mich von ihm fernzuhalten.
Zum anderen, weil es sich nicht leugnen lässt, dass alle anderen auf dieser Insel ihr Möglichstes tun, um ihm aus dem Weg zu gehen.
Alle außer mir anscheinend.
Ich werfe Killian einen kurzen Seitenblick zu. Diese Gedanken sind doch sicher irrational.
Killian ist schließlich mein Freund.
Er hat mir aus einer gefährlichen Situation geholfen.
Allerdings hat er auch einen Mann ermordet – einen Zeitwächter in Versailles. Er hat ihm eine Klinge in den Bauch gerammt und ihn einfach zum Sterben zurückgelassen. Und seiner eigenen Aussage zufolge war das nicht das erste Mal.
Es spielt keine Rolle, dass ich immer noch nicht weiß, was ein Zeitwächter ist. Denn was ich dafür mit Sicherheit weiß, ist, dass Killian nicht den Hauch von Reue gezeigt hat.
Und ist es nicht auffällig, dass wir durch die halbe Akademie gelaufen sind, ohne einer einzigen Person zu begegnen?
Was bedeutet, dass niemand Killian verdächtigen würde, sollte mir tatsächlich etwas zustoßen.
Schlimmer noch, niemand wüsste überhaupt, wo ich bin!
Meine Gedanken rasen. Das überwältigende Gefühl von Panik schlägt tief in mir Wurzeln. Doch das darf ich mir nicht anmerken lassen. Ich darf Killian nicht zeigen, wie nervös ich bin.
Bebend hole ich Atem, während ich mich verstohlen umsehe, nach einem Ausgang suche, einem Fluchtweg …
»Oh, schau mal«, sagt Killian, der scheinbar nichts von meiner Panik mitbekommt. »Da drüben steht unsere Mitfahrgelegenheit.«
Ich sehe in die Richtung, in die er deutet, und entdecke einen der allgegenwärtigen Gray-Wolf-Golfwagen, der diagonal vor einer Wand geparkt ist.
Es ist dieselbe Art Wagen, mit der Arthur mich abgeholt hat, um mir den Tresor zu zeigen.
Das gleiche Gefährt, das mich vor meinen beiden Sprüngen zum Kontrollraum gebracht hat.
Was heißen soll, dass diese Wagen normalerweise verwendet werden, wenn man die weiter entfernten Bereiche der Akademie erreichen will.
Was zu der Frage führt: Wie weit ist dieser Ort weg, den Killian mir zeigen will?
»Bist du so ein Ding schon mal gefahren?«, fragt er, als er schon auf den Golfwagen zugeht.
»Ähm … nein, ich …« Mein Herz schlägt zu schnell, mein Atem geht hektisch.
»Es gibt für alles ein erstes Mal!« Killian schwingt sich auf den Beifahrersitz und bedeutet mir, hinter dem Lenkrad Platz zu nehmen. »Mach mal hinne«, ruft er. »Ich brauch jetzt echt dringend ’ne ordentliche Tasse Kaffee.«
Ich schlucke schwer, sehe mich noch ein letztes Mal nervös um. Es gibt keinen Fluchtweg und selbst wenn, wäre ich nicht schnell genug, um ihm zu entkommen.
Zu Killian sage ich: »Aber ich … ich weiß doch gar nicht, wo’s hingeht.«
Killian wirft den Kopf in den Nacken und lacht laut auf. Als er sich schließlich wieder gerade hinsetzt, lasse ich meinen Blick über seine goldblonden Locken wandern, diese dunkelblauen Augen, die denselben warmen Farbton haben wie eines von David Hockneys Schwimmbecken. Er hat eine kräftige Nase, definierte Wangenknochen, ein scharfkantiges Kinn – wie eine fleischgewordene Statue von Michelangelo. Und auch wenn ich es nur widerwillig zugebe, raubt mir sein Anblick wirklich den Atem.
Er lacht leise. »Weeste was, du siehst ’n kleen bisschen blass um de Nas aus, Klinge. Deswegen dachte ich, du würdest vielleicht gern selbst fahren. Du weißt schon, damit du das Gefühl hast, mehr Kontrolle zu haben.«
Nervös hole ich Atem. Also hat er meinen Stimmungswandel doch bemerkt. Und wenn es hart auf hart kommt, kann ich immer noch mit seiner Seite des Wagens gegen eine Wand fahren und weglaufen …
Ehe ich mich versehe, sitze ich schon auf dem Fahrersitz und frage Killian, wo ich langfahren soll.