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DAS ERSTE, WAS ICH SEHE , als ich aus dem Aufzug trete, ist Roxanne und allem Anschein nach hat sie schon auf mich gewartet.

Ich bin mir immer noch nicht sicher, was ihre genaue Jobbezeichnung ist, ich weiß nur, dass sie mir vor jedem Sprung das Ziel und die Liste der Zielobjekte mitteilt.

»Einen schönen Nachmittag, Natasha«, sagt sie, betont dabei das Wort Nachmittag . Mit einem vielsagenden Blick auf die Fahrstuhltür fügt sie hinzu: »Ich hoffe, du hast einen angenehmen Tag?«

Mit grimmiger Miene steht sie vor mir, das hellblonde Haar fällt ihr fast bis auf die Schultern. Ich erinnere mich noch daran, dass ich sie bei unserer ersten Begegnung als etwas kühl empfunden habe, damals dachte ich allerdings noch, dass sie bestimmt auftaut, wenn man sie besser kennenlernt. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Natürlich kann sie nichts dafür, dass die scharfen, aristokratischen Gesichtszüge ihr diesen dauerhaften Ausdruck von hochmütiger Missbilligung verleihen, aber heute passt ihre Miene perfekt und macht mir ihre wahren Gefühle unmissverständlich klar: Sie weiß, wo ich war, und sie heißt es nicht gut.

Unter ihrem Blick schrumpfe ich zusammen, frage mich, ob ich meinen Ausflug erklären soll. Doch mir wird schnell klar, dass es sinnlos wäre, deswegen sehe ich ihr direkt ins Gesicht und frage: »Bin ich für einen Sprung eingeplant?«

Normalerweise hat man etwas mehr Vorwarnung. Allerdings bin ich ja erst zweimal gesprungen, also kann ich eigentlich nicht wissen, ob es tatsächlich immer so ist.

»Ja«, antwortet sie. »Und du solltest dich besser beeilen, damit du nicht noch mehr Verzögerungen verursachst.«

Bevor ich protestieren kann, hat sie schon auf dem Absatz kehrtgemacht und eilt mit quietschenden Sohlen den gefliesten Flur hinunter, erwartet offenbar, dass ich ihr folge. Was ich natürlich auch tue. Roxanne strahlt eine inhärente Autorität aus, der man sich instinktiv beugt.

»Weißt du, wo es hingehen soll?«, erkundige ich mich in der Hoffnung, wenigstens einen Hinweis zu bekommen.

»Das wirst du schon noch früh genug erfahren.«

Mit gerunzelter Stirn starre ich ihren Hinterkopf an, als sie ihre Schritte noch mehr beschleunigt, sodass ich rennen muss, um sie einzuholen. Nachdem sie mich durch einen weiteren Flur geführt hat, bleibt sie vor einem Golfwagen stehen und bedeutet mir, einzusteigen.

Die Fahrt vergeht schweigend. Abgesehen von den verschiedenen Checkpoints, an denen ich meinen Ausweis vorzeigen muss, beschäftigt mich vor allem die nagende Sorge, dass ich jetzt schon in die italienische Renaissance reisen soll. Denn obwohl ich die letzten drei Wochen bis über beide Ohren in Geschichtsbüchern gesteckt habe, fühle ich mich noch nicht bereit dazu.

Das letzte Mal, als Arthur mich nach Versailles geschickt hat, habe ich Hinweise in Form von Tarotkarten und Symbolen auf Christoph Kolumbus’ Karte bekommen.

Dieses Mal habe ich nichts außer der Erwähnung des Gemäldes Salvator Mundi , um mir bei der Suche nach dem Mond zu helfen.

Der Golfwagen bleibt stehen und ich folge Roxanne in den Kontrollraum.

»Du wirst in der Garderobe erwartet«, sagt sie knapp. Und bevor ich eine weitere Frage stellen kann, ist sie schon verschwunden.

Auf meinem Weg in die Garderobe begegne ich Keane, einem der Lehrer von Gray Wolf, und als er mir freundlich lächelnd zuwinkt, entscheide ich, ihn zu fragen.

»Ist das …«, beginne ich. »Ich meine, soll ich …?«

»Sollst du springen?« Er hebt eine Braue. »Ja. Sollst du in die italienische Renaissance springen?« Er schüttelt den Kopf und all meine Sorgen verpuffen.

»Aber wenn nicht Italien, was dann?«

Er sieht sich kurz um, versichert sich, dass niemand uns hören kann. Dann neigt er den Kopf zu mir und teilt mir leise mit: »Arthur hat sich entschieden, das Protokoll über den Haufen zu werfen.«

Ich stehe wie festgefroren da, spüre ein ungutes Gefühl in meinem Magen aufsteigen, als Keane sich wieder aufrichtet und so tut, als wäre dieser Satz Erklärung genug.

Da er mich um mindestens dreißig Zentimeter überragt, muss ich den Kopf in den Nacken legen, um seinem Blick zu begegnen. Und sobald ich das tue, muss ich an Braxton denken. Die beiden sehen sich überhaupt nicht ähnlich, aber mit seiner glänzenden braunen Haut, den dunklen, spitz zulaufenden Augen und seinem perfekt definierten Körper besitzt auch Keane die Art Attraktivität, die nahezu nach einer Hollywoodkarriere schreit. Und genau wie Braxton trägt er diese Tatsache mit einer Art gelangweilter Selbstvergessenheit zur Schau, als könnte er sich kaum daran erinnern, wann er sich das letzte Mal die Mühe gemacht hat, in den Spiegel zu sehen.

»Er will das Protokoll über den Haufen werfen?« Suchend sehe ich in sein Gesicht, habe keine Ahnung, was er mir damit sagen will.

»Mason bricht heute auf«, erklärt er.

Im ersten Moment denke ich, dass Mason den Kampf gewonnen hat. Dass Arthur es endlich leid ist, zu versuchen, zu ihm durchzudringen, und entschieden hat, ihn nach Hause zu schicken.

Doch kaum hat mein Gehirn diesen Gedanken verarbeitet, weiß ich, dass das nicht sein kann.

Zum einen, weil Arthur nie so leicht aufgeben würde.

Zum anderen, weil das mysteriöse Funkeln in Keanes Augen mir verrät, dass aufbrechen in diesem Fall etwas anderes bedeutet.

»Du meinst, er … springt ?«, frage ich, doch selbst nachdem Keane bestätigend nickt, kann ich ihm nicht glauben. »Aber Mason ist immer noch ein Grüner. Er ist nicht richtig ausgebildet, er spricht keine Fremdsprachen und …« Ich bin drauf und dran, die lange Liste von Gründen aufzuzählen, die gegen diesen Sprung sprechen, als Keane mich mit einer erhobenen Hand zum Schweigen bringt.

»Du beherrschst auch keine Fremdsprachen«, erwidert er. »Und das hat dich nicht aufgehalten. Mason ist eine besonders harte Nuss, deswegen hat Arthur entschieden, ihn ins kalte Wasser zu werfen, um zu sehen, ob er auch ohne Schwimmflügel klarkommt.«

»Und was ist, wenn er nicht … schwimmen kann?«, spinne ich seine Metapher weiter. »Wenn er ertrinkt?« Meine Stimme bricht, verrät das wahre Ausmaß meiner Sorge.

Keane setzt gerade zu einer Antwort an, als Hawke, ein weiterer Lehrer, ihm vom anderen Ende des Raums etwas zuruft und damit seine Aufmerksamkeit beansprucht. Als Keane sich wieder an mich wendet, sagt er hastig: »Da kommst du ins Spiel. Du sollst für seine sichere Rückkehr sorgen.«

Ich schüttle den Kopf. »Euch ist klar, dass Mason mir die Schuld daran gibt, dass er hier gelandet ist, oder? Es ist extrem unwahrscheinlich, dass er auf mich hört.«

Keane presst die Lippen zusammen, doch sein Blick wird sanfter. »Dann stellt Arthur euch wohl beide auf die Probe.«

Wieder hallt Hawkes Ruf durch den Raum, diesmal begleitet von einer ungeduldigen Geste, dass Keane zum ihm kommen soll. Doch gerade als Keane sich abwenden will, packe ich ihn am Ärmel und halte ihn fest. »Nur noch … eine Sache. Hat Arthur das schon jemals getan? Das Protokoll auf diese Art missachtet?«

Keane bedenkt mich mit einem langen, nachdenklichen Blick. Ich kann die Zahnräder in seinem Kopf regelrecht rattern sehen, während er abwägt, wie viel er mir verraten soll. Nachdem er endlich zu einem Entschluss gekommen ist, sagt er: »Nicht, seitdem er Braxton auf seinen ersten Sprung geschickt hat. Genau wie Mason war er damals noch weit davon entfernt, zu Gelb aufzusteigen.«

Mir klappt die Kinnlade runter. Ich habe so viele Fragen, doch nur eine schießt sofort an die Oberfläche. »Und wer …«, beginne ich. Meine Stimme bebt so heftig, dass ich mich räuspern und noch mal von vorn anfangen muss. »Wer war damals dabei, um auf Braxton aufzupassen – für seine sichere Rückkehr zu sorgen?« Mit zitternden Knien und rasendem Herzen warte ich auf die Antwort, die ich mit ziemlicher Sicherheit schon kenne.

»Killian«, sagt Keane, bevor er mich stehen lässt und den Raum durchquert, wo Hawke bereits auf ihn wartet.