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DER BALLSAAL BIETET EINEN UNGLAUBLICHEN ANBLICK .

Ein riesiger, pulsierender Raum, gefüllt mit tausenden Kerzen und noch mehr Blumen, und es dauert nicht lange, bis Mason sich, verzaubert von all der Opulenz und Pracht, in die Menge stürzt. Einen Moment sehe ich ihm noch nach, dann ist er zwischen all den Menschen verschwunden.

Ich will ihm gerade folgen, als Oliver mich zurückhält. »Lass ihn gehen«, sagt er.

»Ist das dein Ernst?« Ich wirble zu ihm herum, versuche, nach außen hin kultiviert und vornehm zu wirken, während in meinem Inneren sämtliche Alarmglocken schrillen. »Er hat keine Ahnung, was er tut, und …« Ich deute auf die Partygesellschaft, stelle mir mit panisch trommelndem Herzen vor, was Mason passieren könnte – er könnte sich verlaufen, könnte erwischt werden, könnte zurückgelassen werden oder sonst irgendeiner der Gefahren zum Opfer fallen, die mit einer Zeitreise einhergehen. »Er hat keinen Talisman und ich bezweifle stark, dass irgendjemand ihn vor dem Erinnerungsverlust gewarnt hat.« Ich versuche, mich loszureißen, doch Oliver ist überraschend stark.

»Und wessen Schuld ist das?«, fragt Oliver. »Glaub mir, wir haben es versucht. Aber du hast dich in der Bibliothek vergraben. Du hast seine Ein-Mann-Revolution nie mitbekommen. Vielleicht hat Arthur recht. Vielleicht ist das hier wirklich die einzige Möglichkeit, zu ihm durchzudringen. Denn ganz ehrlich, Natasha, bisher hat nichts anderes funktioniert.«

Er lässt mich los, doch ich bleibe wie angewurzelt neben ihm stehen. »Ich dachte, ihr zwei wärt seine Freunde«, zische ich, starre Finn und Oliver abwechselnd böse an.

»Sind wir auch«, sagt Finn. »Deswegen haben wir ja versucht, ihn zu warnen. Sogar Elodie hat getan, was sie konnte. Aber er hat sich geweigert mitzuspielen und …«

»Und jetzt hat er die Chance einzusetzen, was auch immer er von alldem behalten hat, um seinen eigenen Weg zu finden«, beendet Oliver den Satz.

Ich lasse den Blick über die Menge schweifen, in der Hoffnung, einen Blick auf meinen Freund zu erhaschen, doch der Saal ist ein einziger Wirbel aus leuchtenden Gesichtern, funkelnden Juwelen und schillernden Kleidern.

»Friss oder stirb«, sagt Finn und mein Herz setzt einen Schlag aus.

Ein Teil von mir weiß, dass sie recht haben. Und ginge es um irgendjemand anderen, würde ich auf sie hören.

Aber hier geht es um Mason. Meinen besten Freund in der ganzen Welt. Und es ist allein meine Schuld, dass er überhaupt hier ist.

»Und jetzt …« Ich sehe, wie Oliver dreimal schnell hintereinander blinzelt, bevor er den Blick wieder auf mich fokussiert. »… bleiben uns noch zweiundfünfzig Minuten, also …«

Finn löst sich als Erster von der Gruppe, drängt sich durch die Menschenmasse, bis ich ihn aus den Augen verliere.

Oliver bleibt noch bei mir zurück, allerdings nur lange genug, um zu sagen: »Niemand wird Mason hier zurücklassen, also konzentrier dich einfach auf den Job und mach dir keine Sorgen.«

Bevor ich ihm ein Versprechen abnehmen kann, eine Garantie, einen aufrichtigen Schwur, dass er das wirklich nicht zulassen wird, hat sich Oliver schon umgedreht und geht davon.

Also nutze ich den Moment, um mir eine abgeschiedene Ecke zu suchen und in meiner rechten Tasche nachzusehen, was Roxanne dort für mich versteckt hat.

Langsam bewege ich mich durch den Saal, hoffe darauf, nicht von der Menge verschluckt oder, schlimmer noch, auf die Tanzfläche gezogen zu werden. Dann entdecke ich einen Durchgang, der in einen langen Flur mit einer halb geöffneten Tür führt. Ich eile darauf zu, schlüpfe hindurch und ziehe die Tür hinter mir zu.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre ich in der Bibliothek gelandet. Oder zumindest dem Raum, der in dieser Epoche als Bibliothek bezeichnet wurde. Es ist ein großes Zimmer mit hoher, gewölbter Decke und dunkelgrünen Wänden, an denen in goldenen Rahmen Porträts elegant gekleideter Menschen mit ernsten Gesichtern hängen. Natürlich gibt es auch ein beeindruckendes Bücherregal voll ledergebundener Ausgaben.

Auf dem Weg zum Fenster, das den Garten überblickt, wird mir klar, wie schnell ich mich an opulente Orte wie diesen gewöhnt habe. Dass meine Zeit in Gray Wolf die Erinnerung beinahe vollständig ausgelöscht hat, wie es war, in einem Haus zu leben, in dem die Hälfte der Steckdosen nicht funktioniert hat und ein ganzer Eimer Wasser nötig war, um eine der Toiletten zu spülen. Doch wenn ich rechtzeitig nach Gray Wolf zurückkehren will, darf ich jetzt keine Zeit mit solchen Gedanken verschwenden, sondern muss mich auf meine Aufgabe konzentrieren.

Als ich eine Hand in die Tasche meines Kleids schiebe, stelle ich überrascht fest, dass sich diesmal keine Kopie der Karte von Christoph Kolumbus darin verbirgt. Auch keine Tarotkarte. Es ist ein kleiner, quadratischer Zettel, in dessen Ecke ein winziger goldener Stern gezeichnet ist.

Das ist alles. Ein einzelner goldener Stern ohne irgendeinen Hinweis darauf, wo ich ihn finden soll.

Allerdings kann ich wohl davon ausgehen, dass er etwas mit dem Mechanismus von Antikythera zu tun hat, da der Stern mit acht Zacken dargestellt ist. Und soweit ich mich erinnere, zeigt die Karte des Sterns sowohl in modernen Tarotdecks als auch dem, das Arthur benutzt, diese Art Stern.

Außerdem ist der Stern ein weiteres der fehlenden Teile, die ich für Arthur finden soll, damit er das uralte Relikt wiederherstellen und die Welt neu erschaffen kann, wie er behauptet.

Das Problem ist nur, dass ich so beschäftigt damit war, mich auf die italienische Renaissance vorzubereiten, dass ich so gut wie nichts über die Regency-Epoche weiß.

Ich blinzle dreimal, um herauszufinden, wie viele Minuten mir noch bleiben, und bekomme die Zahl sechsundvierzig angezeigt. Hektisch sehe ich mich um, frage mich, was zur Hölle Arthur von mir erwartet. Ich habe keine Chance, dieses Rätsel zu lösen – keine Chance, mit dem Stern zurückzukehren.

Will er, dass ich versage? Denn diese Aufgabe ist unlösbar.

Doch diese Gedanken helfen mir jetzt auch nicht weiter. Also schließe ich die Augen und versuche, mich zu konzentrieren.

Okay, mal sehen … Was weiß ich sonst noch über den Stern? Im Visconti-Sforza-Deck …

Ich habe Mühe, in dem mit Spinnweben verhangenen Dachboden – auch bekannt als mein Gehirn – die Erinnerungen an die längst vergangenen Tage zu finden, als mein Dad mir alles über die zweiundzwanzig Karten der großen Arkana beigebracht hat.

Vor meinem inneren Auge blättere ich durch das Deck, bis …

Da ist er. Der Stern ist die Nummer siebzehn auf der Reise. Was bedeutet, dass die Karte eine numerologische Verbindung zur achten Karte hat, der Kraft, da eins plus sieben acht ergibt. In der Numerologie reduziert man mehrstellige Zahlen, bis man eine einstellige Zahl erhält.

Okay, gut. Das ist doch ein Anfang. Jetzt muss ich mich nur noch an ein paar weitere Details erinnern. Vor allem daran, wie die Karten genau aussehen, und …

Im alten Deck hält eine Frau den Stern in den Händen. Eine Frau, die … Eine Frau mit blondem Haar, in einem blauen Kleid und …

Und einem roten Umhang! Genau wie die Gestalt, die in dem Labyrinth, das früher unter meinem Fenster in Gray Wolf existiert hat, verschwunden und dann wieder aufgetaucht ist.

Aber das kann nicht sein, oder? Ich meine, gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen der Tarotkarte und dieser Vision?

Und wenn es so ist, schickt Arthur mich mit dieser Notiz dann wirklich auf die Suche nach dem Stern?

Oder vielleicht hat das hier gar nichts mit Arthur zu tun. Vielleicht geht es um etwas anderes … etwas, das mit Magie zu tun hat, dem sonderbaren ledergebundenen Buch und …

Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich nicht höre, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wird, leise Schritte den Raum durchqueren und genau auf mich zuhalten.