ALS ICH DIE WENDELTREPPE ERREICHE , weiß ich sofort, wo Braxton mich treffen will.
Der Mondgarten ist einer seiner Lieblingsorte in Gray Wolf und steht auch auf meiner Liste ganz oben.
Als ich durch die Tür trete, wehen mir zarte Klänge klassischer Musik entgegen und ich sehe Braxton schon auf mich warten.
»Buona sera«, sagt er.
Wieder einmal bin ich überwältigt davon, wie unglaublich schön er ist, doch Braxton schenkt seinem Aussehen so wenig Beachtung, dass ich fast glauben könnte, es wäre ihm tatsächlich egal, wäre da nicht das Porträt von Narziss, das in seinem Zimmer hängt.
Ich weiß nicht viel über seine Vergangenheit, doch sein Kunstgeschmack und seine Entschlossenheit, sich ständig zu verbessern, sind vermutlich die Folge einiger Taten, die er bereut und am liebsten vergessen würde.
Er nimmt meine Hand, drückt mir einen sanften Kuss auf die Wange und führt mich dann zu einem Tisch mit strahlend weißem Tischtuch, geschliffenen Kristallgläsern und funkelndem Silberbesteck – alles beleuchtet vom flackernden Schein des Kerzenständers in der Tischmitte. Und in diesem Moment kann ich kaum fassen, wie weit ich mich von dem Mädchen entfernt habe, das sein Mittagessen früher neben dem Mülleimer in der Cafeteria gegessen hat.
Anders als bei meinem letzten Besuch hier spannt sich ein Glasdach über unseren Köpfen, schützt uns vor dem späten Wintersturm, der draußen weiterhin wütet. Die Sterne, die das letzte Mal so zahlreich gefunkelt haben, sind jetzt zwar hinter dunklen Wolken verborgen, aber der Duft nach Meersalz und Jasmin hängt immer noch schwer in der Luft.
»Falls das ein Entschuldigungsversuch sein soll, weil du unsere Surfstunde heute abgesagt hast«, sage ich, während Braxton Rotwein aus einer Karaffe in meinen Kelch schenkt, »dann bist du vermutlich erfolgreich. Du hast dich wirklich selbst übertroffen.«
»Das freut mich zu hören.« Er grinst. »Ich hatte schon befürchtet, dass ich nicht gegen deinen restlichen Tag ankomme.«
Ich sehe ihn an. »W… wie meinst du das?«, stammle ich, frage mich sofort, ob er irgendwas gehört hat, und wenn ja, was und von wem.
Spielt er auf die Zeit an, die ich mit Killian verbracht habe?
Braxton lehnt sich zurück und hebt sein Weinglas in meine Richtung. »Ich habe gehört, dass du heute gesprungen bist«, sagt er, bevor er den ersten Schluck nimmt.
Auch ich nippe an meinem Wein, versuche, den Eindruck zu erwecken, dass auf dieser Seite des Tischs alles vollkommen normal ist. Nachdem ich mein Glas wieder abgestellt habe, sage ich: »Wir sind in die englische Regency-Epoche gesprungen. Alles etwas chaotisch – und ziemlich kurz.«
Braxton nickt und meine Schultern wollen sich schon wieder entspannen, als mir klar wird, dass ich mit dieser Beschreibung offenlasse, was ich den restlichen Tag über getan habe. Und das entgeht Braxton nicht.
»Und bevor du gesprungen bist? Hat Jago dir eine Surfstunde gegeben?« Der flackernde Kerzenschein macht es schwer, Braxtons Blick zu entschlüsseln, festzustellen, ob diese Frage tiefer geht, als es den Anschein macht. Doch je länger sich das Schweigen in die Länge zieht, desto sicherer bin ich mir, dass mehr dahintersteckt.
Braxton weiß Bescheid.
Er weiß, dass ich den Großteil des Vormittags mit Killian verbracht habe. Ich weiß nicht, woher – ich weiß nicht, wer es ihm erzählt hat, aber er weiß …
Angespannt hole ich Luft, zwinge mich, ihm in die Augen zu sehen, während die Stille sich immer weiter auflädt. Ich muss das Schweigen brechen, also sage ich: »Braxton, ich …«
Bevor ich jedoch weitersprechen kann, tritt wie aus dem Nichts ein fremder Mann an unseren Tisch. Ich bin so überrascht von seinem plötzlichen Auftauchen, dass ich einen Moment brauche, um zu realisieren, dass es ein Kellner ist, der unsere Vorspeise serviert.
Nachdem er wieder hinter einem Springbrunnen verschwunden ist, beuge ich mich zu Braxton. »Hat er sich die ganze Zeit da versteckt?«
Überrascht sieht Braxton mich an. »Verstecken würde ich es nicht nennen. Da hinten ist eine kleine Küche. Die wollte ich dir eigentlich zeigen, als wir das letzte Mal hier waren, aber da wurde ich wohl abgelenkt.« Seine Augen funkeln und ich weiß genau, auf welche Ablenkung er anspielt – unseren Beinahe-Kuss, der einen Tag hinausgezögert wurde, auf den sich das Warten aber absolut gelohnt hat. »An den wenigen Tagen, an denen sich die Sonne mal zeigt, isst Arthur gern hier oben.«
»Dann war das hier Arthurs Idee?« Misstrauen zieht meinen Magen zusammen. Und auch wenn ich nicht wirklich weiß, wem oder was dieses Misstrauen gilt, habe ich inzwischen gelernt, dieses Gefühl nicht zu ignorieren.
»Nicht direkt«, antwortet Braxton. Mit einem Lachen fügt er dann hinzu: »Oder vielleicht will ich ihm nur nicht das Lob für diese Idee überlassen. Ich glaube, Arthur hatte ein schlechtes Gewissen, weil er unseren Plänen in die Quere gekommen ist. Deswegen hat er angeboten, ein privates Dinner an einem Ort meiner Wahl zu organisieren, und ich habe diesen Ort ausgesucht.« Er grinst. »Aber wie auch immer, zurück zu dir. Klingt so, als hattest du einen ereignisreichen Tag.«
Zurück zu mir. Super.
Ich schiebe die Salatblätter auf meinem Teller hin und her, während ich überlege, was ich sagen soll. Jede Erwähnung von Killian wird ihn wütend machen, dennoch bin ich ihm zumindest den Anschein von Wahrheit schuldig.
Ich schiebe mir eine Gabel Salat in den Mund, um meine Antwort noch einen Moment hinauszuzögern, und sage dann: »Ich glaube, ich bin bei Mason etwas vorangekommen.«
»Das ist toll!« Das Leuchten in Braxtons Augen verrät mir, dass er sich ehrlich für mich freut.
»Na ja …« Ich rudere zurück, befürchte, schon zu viel gesagt zu haben. »Es ist zumindest ein Anfang.«
»Trotzdem toll.« Braxton nickt. Dann legt er seine Gabel weg, lehnt sich zurück und nimmt noch einen Schluck von seinem Wein. »Sonst noch was?«
Im Ernst? Er braucht noch mehr? War mein Minidurchbruch nicht genug?
»Davor bin ich … spazieren gegangen.«
»In Gray Wolf?« Er legt den Kopf schief. »Ich dachte, es wäre viel zu kalt, um raus in die Gärten zu gehen.«
»Ja, ähm, das war es auch, aber …« Ich schlucke schwer, lasse die Worte auf meiner Zunge verklingen. Ich hasse es, zu lügen. Vor allem Braxton anzulügen.
»Tasha, ist alles in Ordnung?«, erkundigt sich Braxton und auch wenn die Frage ganz zwanglos klingt, gibt mir sein anhaltender forschender Blick das Gefühl, dass nichts an diesem Date zwanglos ist. Vermutlich weil uns beiden klar ist, wie zurückhaltend und ausweichend ich mich verhalte. Und so verhält man sich nur, wenn man etwas zu verbergen hat.
Ich bin dieses Spiel leid, also atme ich tief durch und wage einen Anlauf, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Ich … ich habe über Song nachgedacht und dieses merkwürdige ledergebundene Buch, das ich mal in ihrem Zimmer gesehen habe. Weißt du irgendwas darüber?«
Braxton schüttelt den Kopf, wartet ab. Ich will ihm alles erzählen – von dem Parfum, der Nachricht, meinen Vermutungen, was Freya angeht –, doch als ich sehe, wie schnell er sein Weinglas abstellt, um mit der freien Hand seinen Siegelring wieder und wieder um den Finger kreisen zu lassen, warnt diese leise Stimme in meinem Kopf mich davor, weiterzusprechen.
Stattdessen sage ich nur: »Ich stelle mir wohl nur immer wieder vor, wie ich mich an Songs Stelle fühlen würde. Wenn ich diejenige wäre, die verschwunden ist, würde ich mir wünschen, dass wenigstens irgendjemand versucht, mich zu finden.«
In Braxtons Augen flackert es kurz, allerdings ist es unmöglich zu sagen, ob das Flackern von ihm ausging oder nur ein Spiel des Kerzenlichts war. »Dir wird das nie passieren«, sagt er. »Aber nur um mal den rein hypothetischen Fall anzunehmen – solltest du jemals verloren gehen, würde ich den Rest meines Lebens darauf verwenden, dich zurückzubringen.«
Bevor ich mich davon abhalten kann, frage ich: »Würdest du das wirklich?«
Braxton zuckt zurück, als hätte ich ihm gerade meinen Wein ins Gesicht gekippt. »Tasha …« Seine Stimme ist angespannt, sein Blick so stürmisch wie noch nie. »Das kann nicht dein Ernst sein … oder?«
Ich reibe meine Lippen übereinander, senke den Blick in meinen Schoß. Hier ist er – der Hafen des Jetzt oder Nie. Und da ich uns hierhergebracht habe, kann ich auch gleich Anker werfen.
»Ich frage mich nur …« Nervös zupfe ich an der Naht meiner Serviette. »Wie würdest du das überhaupt angehen? Ich meine, wenn es nicht zufällig bei einem gemeinsamen Sprung passiert, wüsstest du ja nicht mal, wo du anfangen solltest, mich zu suchen. Und selbst wenn …«
Ich halte den Atem an. Braxton lehnt sich zurück, als müsste er Abstand zwischen uns bringen. »Und selbst wenn?« Seine Miene ist angespannt, seine Schultern wirken steif. Als er nach seinem goldenen Siegelring greifen will, begegnet er meinem Blick und zieht stattdessen an seinem Ärmel.
Ich schüttle den Kopf, greife nach dem Talisman an meinem Hals und drücke den Daumen in die kleine Delle. Das ist doch lächerlich. Killian hat mich ganz durcheinandergebracht. Er hat es geschafft, mich weit genug zu verunsichern, um einen Keil zwischen Braxton und mich zu treiben, was natürlich genau seine Absicht war.
Es ist nicht so, als hätten Braxton und ich diesen Tanz nicht schon mal getanzt. Trotzdem zerre ich ihn ein weiteres Mal auf die Tanzfläche in der Hoffnung, dass ich ihm diesmal glauben kann, wenn er wieder abstreitet, Killian in der Vergangenheit zurückgelassen zu haben – dass ich mir wirklich sicher sein kann, er sagt die Wahrheit.
»Vielleicht bin ich einfach nur paranoid«, murmle ich. »Nachdem ich jetzt Leute kenne, denen das tatsächlich passiert ist, macht mich das unglaublich nervös.«
Ich werfe Braxton einen vorsichtigen Blick zu, versuche, seine Reaktion abzuschätzen. Er zieht die Brauen zusammen und presst die Lippen so fest aufeinander, dass sie beinahe verschwinden.
»Leute?« , fragt er, greift jetzt doch nach seinem goldenen Ring. »Meinst du nicht jemanden ? Singular?« Das Zucken an seinem Kinn ist nicht zu übersehen. »Außer natürlich, du sprichst nicht nur von Song, sondern auch von Killian.«