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MEIN MUND KLAPPT AUF . Meine Glieder zittern.

Halte nach ihrem Zeichen Ausschau , hat Arthur gesagt.

Würde ich mich in einem Film befinden, wäre jetzt das Kratzen einer Schallplattennadel zu hören, die Handlung bliebe stehen und die Hauptfigur würde in eine unangenehme Szene aus der Vergangenheit katapultiert.

Doch das hier ist kein Film. Und während Arthur mich weiterhin mustert wie einen Käfer unter dem Mikroskop, breitet sich ein Bild auf der Leinwand in meinem Kopf aus.

Der Mann liegt vor mir, blutet aus der Messerwunde in seinem Bauch, während ich das merkwürdige runde Symbol anstarre, das auf seinen Arm tätowiert ist. Eine komplexe Anordnung ineinander verschlungener Kreise – ein Muster, das mir so vertraut vorkam, das ich in dem Moment jedoch nicht zuordnen konnte …

Erst später habe ich mich daran erinnert, dass mein Dad ein ähnliches Tattoo hatte – und dasselbe Zeichen ist auch auf der Rückseite der Taschenuhr eingraviert.

Der Schreck überfällt mich so plötzlich, dass ich mich an den Armlehnen meines Stuhls festklammern muss, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Das kann nicht sein.

Der bloße Gedanke ist absolut lächerlich.

Ganz abgesehen davon, dass es überhaupt keinen Sinn ergibt.

Doch obwohl mein Gehirn ein Argument nach dem anderen auflistet, gelingt es ihm nicht, mein Herz zu überzeugen.

All die längst vergessenen Lehren meines Vaters, die nach und nach zu mir zurückkehren, seit ich das erste Mal einen Fuß ins Arkana gesetzt habe …

Unsere gemeinsame Gabe der Fragmentierung …

Aber nein.

Das ist unmöglich.

Absolut unmöglich.

Denn wenn mein Dad ein Nachfahre der großen Mystiker war, wenn er wirklich ein … ein Zeitwächter war … würde das nicht auch mich zu einer Zeitwächterin machen?

Aber wie kann ich eine Zeitwächterin sein, wenn ich für Arthur arbeite und die Zeitwächter Arthur – und meiner eigenen Erfahrung – zufolge unsere Erzfeinde sind?

Unwillkürlich lege ich mir eine Hand an den Hals, halte das Schluchzen zurück, bevor es hervorbrechen kann.

Atme, du Schwachkopf. Beruhig dich, verdammt noch mal.

Du trägst kein Zeichen.

Und ja, dein Dad hatte ein Tattoo, aber es gibt jede Menge Väter, die Tattoos haben.

Du machst dich absolut lächerlich und langsam bist du echt gefährlich nah dran, zu einer dieser paranoiden Irren zu werden, die überall Verschwörungen sehen.

Du musst aufhören.

Du musst …

»Natasha.« Arthurs Stimme reißt mich aus meiner Trance. »Alles in Ordnung?« Seine Lippen bilden eine dünne Linie, doch sein Blick ist voller Sorge.

Ich zwinge mich zu einem Nicken. Zwinge meine Hand zurück in meinen Schoß. »Alles gut. Mir ist nur … ein bisschen übel, das ist alles.«

»Schau auf dem Rückweg im Frühlingssaal vorbei«, schlägt Arthur vor. »Hol dir was Richtiges zum Mittagessen. Mehr als einen Schluck Kaffee und ein Drittel Croissant.«

Ich verstehe den Wink mit dem Zaunpfahl, stehe auf und will schon zur Tür gehen, als ich plötzlich erstarre.

Ein Drittel Croissant? Woher zur Hölle weiß er das?

Ich will ihn gerade zur Rede stellen, will wissen, wieso er mich beim Frühstück ausspioniert, als mein Blick an dem Streifen Decke direkt über seinem Kopf hängenbleibt.

Dort, inmitten des Deckengemäldes, verbirgt sich eins der bekanntesten Bilder der Welt, abgesehen von der Mona Lisa natürlich – Die Erschaffung Adams.

Michelangelos Meisterwerk, das die biblische Szene darstellt, in der Gott dem ersten Menschen das Leben verleiht.

Das Original ist an der Decke der Sixtinischen Kapelle zu finden.

In dieser Version gehört die lebensverleihende Hand nicht Gott, sondern ganz eindeutig Arthur. Das verrät der Ring, den der Künstler mitgemalt hat.

»Ich bin nicht am richtigen Ort und ich bin kein Maler.«

Ich sehe Arthur an, unsicher, was er mir damit sagen will.

»Das ist die Übersetzung eines Teils des Gedichts, das Michelangelo über die Herausforderungen seiner Arbeit an der Sixtinischen Kapelle geschrieben hat. Vier Jahre qualvoller Arbeit, deren Resultat das meisterhafteste Kunstwerk aller Zeiten ist. Dennoch hat er diese Worte geschrieben, weil er sich der Aufgabe nicht gewachsen gefühlt hat.«

Also hat sich sogar Michelangelo manchmal wie ein Hochstapler gefühlt. »Und diese Version?« Ich deute auf das Fresko.

»Ein privates Auftragswerk vom Künstler persönlich.«

Nach außen hin nicke ich einfach nur. Innerlich bin ich bis zum Zerreißen angespannt.

»Bereite dich darauf vor, gegen Ende der Woche zu springen«, sagt Arthur. »Wenn nicht schon früher.«

»Aber dann bleiben mir nur noch ein paar Tage«, erwidere ich. »Ich bin mir nicht sicher, ob …«

»Den Salvator Mundi habe ich schon in dein Zimmer bringen lassen«, fährt Arthur fort, ohne auf meinen Protest einzugehen. »Damit du das Gemälde in Ruhe untersuchen kannst. Wobei ich dich natürlich bitten möchte, direkte Berührungen auf ein Minimum zu beschränken.«

Ich blinzle. Einmal. Zweimal. Habe Mühe, zu begreifen, was er da gerade gesagt hat. »Sie haben ein Original von Leonardo da Vinci in mein Zimmer bringen lassen? « Obwohl ich mich inzwischen daran gewöhnt habe, von unbezahlbaren Kunstwerken umgeben zu sein, erscheint mir die Vorstellung, mein Zimmer mit einem original da Vinci zu teilen, trotzdem absolut fantastisch.

Arthur nickt nur, als wäre das keine große Sache. »Und mach dir keine Gedanken wegen des Sterns«, sagt er. »Du wirst bald eine zweite Chance bekommen.« Dann beendet er unser Treffen mit einem knappen Winken.

Erst als ich den Flur zurücklaufe, wird mir klar, wie leicht es ihm gefallen ist, mich zu überlisten, mich zu übertrumpfen, indem er ein legendäres Kunstwerk benutzt hat, um mich von dem abzulenken, was ich wirklich fragen wollte.

Was ist das für ein Zeichen?

Wie sieht es aus?

Ganz zu schweigen von: Wieso verdammt noch mal überwachen Sie mein Frühstück?

Andererseits … vielleicht ist es besser so. Denn die Gedanken, die jetzt durch meinen Kopf wirbeln, lassen mich alles hinterfragen, was ich über meinen Dad, mich selbst und sogar über Braxton zu wissen glaubte.