DIE NÄCHSTEN ZWEI TAGE VERFLIEGEN in einem Wirbel aus Unterricht, Lernsessions in der Bibliothek, einer letzten Sitzung mit Dr. Lucy und schier unendlichen Anproben all der Kleider, die ich mit nach Italien nehmen werde. Und da Braxton beinahe genauso viel zu tun hat wie ich, haben wir kaum Gelegenheit, miteinander zu reden.
Als ich also in einem Kleid im Stil der zwanziger Jahre das Halcyon betrete – Gray Wolfs Variante eines Clubs –, wo Elodies Party stattfinden soll, bin ich erstaunt, Braxton dort vorzufinden.
»Was machst du denn hier?«, frage ich. Mein Herz schlägt schneller, als ich zusehe, wie er den Raum durchquert, um mir entgegenzukommen.
»Du hast mir gefehlt«, sagt er. »Deswegen habe ich dafür gesorgt, dass wir etwas Zeit für uns haben, bevor die anderen kommen.«
Verwirrt sehe ich ihn an. »Aber Elodie hat mir geschrieben. Sie hat mich gebeten, früher zu kommen, um …«
»Ich wollte dich überraschen«, gesteht er. Als er grinst, kann ich das ungute Gefühl in meinem Bauch nicht ignorieren. Natürlich war es nett von Elodie, Braxton dabei zu helfen, das hier zu organisieren, aber die Vorstellung, wie die beiden zusammen Pläne schmieden, gefällt mir nicht. Insbesondere wenn man ihre gemeinsame Vergangenheit bedenkt. Ganz zu schweigen von meiner eigenen komplizierten Beziehung zu Elodie.
»Du gibst ein tolles Flapper-Girl ab.« Er mustert mich anerkennend.
»Und du einen wirklich tollen Gatsby.« Ich deute auf seinen weißen Flanellanzug. »Vielleicht können wir irgendwann mal zusammen die wilden Zwanziger besuchen?« Der Gedanke entlockt mir ein Lächeln.
»Im Moment«, sagt Braxton, »interessiert mich diese Zeit viel mehr und dieser …« Er macht eine ausladende Geste »… dieser merkwürdige Ort.«
Der Raum wirkt, als wäre er einem Fiebertraum entsprungen. Dekoriert mit seltsamen und ausgefallenen Objekten, die Springer von ihren verschiedenen Zeitreisen mitgebracht haben. Es gibt hier eine Totenmaske, die ein Abdruck von Dante Alighieris Gesicht sein soll, einen mitgenommenen Wikingerschild und natürlich das gruselige diamantbesetzte Skelett im Glaskasten, das laut Elodie zu Braxtons außergewöhnlichen Funden gehört.
Ich deute mit dem Daumen darauf. »Gerüchten zufolge war das da eine deiner Spenden.«
Braxton lacht. »Wieso solltest du so etwas glauben?«
»Vielleicht wegen deiner Vorliebe für das Makabre, zumindest wenn es um Kunst geht.«
»Nur wenn es um Kunst geht.« Er hakt mich unter und führt mich auf die Tanzfläche, die sich auf seinen Wink hin in fluffige weiße Hologrammwolken verwandelt, während der Himmel golden schimmert wie die Sonne.
»Ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal die Wärme der Sonne auf der Haut gespürt habe«, sage ich, doch im selben Moment fällt es mir wieder ein. An dem Morgen, als Braxton mich aus dem Gefängnis geholt hat. Ich stand auf dem Bürgersteig, warm, frei und vollkommen ahnungslos, was bald mit mir passieren würde.
Wenn man bedenkt, dass ich aus Kalifornien komme, ist es eigentlich merkwürdig, wie wenig mir die Sonne fehlt. Noch seltsamer ist es, wie leicht ich alles andere vergessen habe.
Die Musik schwillt an und holt mich aus meinen Gedanken, als Braxton einen Arm um meine Taille schlingt. »Erkennst du das Lied?« Er lässt mich nicht aus den Augen, als wir durch den Hologrammhimmel wirbeln.
»Es ist ein alter Song«, sage ich, erkenne die wunderschöne Streichquartettversion von »Brighter than Sunshine« wieder. »Ich bin nur überrascht, dass du ihn kennst, schließlich ist er aus diesem Jahrtausend.«
Braxton lacht. »Ich höre nicht immer nur Mozart, weißt du?«
Während wir weitertanzen, höre ich in meinem Kopf den Text der modernen Version des Songs und als die Stelle kommt, an der es um Geschichte und Schicksal geht, wird mir klar, wieso Braxton dieses Lied ausgesucht hat. Es scheint so perfekt zu uns zu passen, dass es nach diesem Moment nie wieder so klingen wird wie zuvor.
Mit den Lippen dicht an meinem Ohr sagt Braxton: »Als ich dich das erste Mal gesehen habe, war es, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt. Plötzlich wurde die Dunkelheit, die mich umgibt – eine Dunkelheit, die mir so vertraut ist, dass ich sie kaum noch wahrnehme –, von einem so warmen, hellen Licht erhellt, dass ich sofort wusste, du bist die, nach der ich gesucht habe.«
Mein Herz schwillt an, als ich sein wunderschönes Gesicht betrachte. Die harte Linie seines Kinns, die definierten Wangenknochen, diesen unwiderstehlichen Knick in der Nase, die braune Locke, die ihm in diese tiefgründigen ozeanblauen Augen fällt, die sich in meine brennen.
Er legt eine Hand an meine Wange, seine Berührung so zart, dass ich zu kaum mehr in der Lage bin, als zu atmen.
»Tasha, ich …«
Nein.
Auf keinen Fall.
Dafür bin ich noch nicht bereit … Ich bin nicht …
Panik überrollt mich. Ich muss ihn aufhalten – ihn davon abhalten, diese drei lebensverändernden Worte auszusprechen.
Bevor er den Satz zu Ende bringen kann, hebe ich die Fersen und bringe ihn mit einem Kuss zum Schweigen.
Ich küsse ihn, bis er die Arme fester um mich schlingt, mich noch enger an sich zieht.
Ich küsse ihn, bis er seine Worte vergisst und ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wieso ich jemals an diesem wundervollen, sexy, magischen Jungen gezweifelt habe.
Und während dieses Kusses gebe ich uns beiden ein stummes Versprechen.
Sobald wir in Italien sind, außerhalb von Arthurs Reichweite, werde ich ihm alles erzählen, und er wird dasselbe tun, bis wir alles bereinigt haben, bis wir uns von unseren Lügen befreit haben und es keine Geheimnisse mehr zwischen uns gibt.
Vielleicht lasse ich ihn dann diesen Satz zu Ende bringen.
Vielleicht bin ich dann bereit, ihn zu erwidern.