LANGE BEVOR KILLIAN MICH ERREICHT , ist Elodie schon verschwunden.
»Ich habe eine Theorie«, sagt er, während er ihr nachsieht. »Dieses Mädchen ist heimlich in mich verliebt und die Tatsache, dass ich ihre Gefühle nicht erwidere, ist so schmerzhaft für sie, dass sie es nicht erträgt, in meiner Nähe zu sein.«
»Eine weitere erstaunliche Darbietung deiner tiefgründigen Menschenkenntnis.« Ich lache auf.
Killian verbeugt sich und als er sich wieder aufrichtet, fixiert er mich mit seinen schwimmbeckenblauen Augen.
»Das ist also dein Kostüm?« Ich deute auf sein weites Leinenhemd, die verwaschenen Jeans mit Loch am linken Knie und die schwarzen Samthalbschuhe mit Totenkopfstickerei. »Zwielichtiger Playboy an der französischen Riviera?«
Killian reißt die Augen auf. »So siehst du mich also? Als irgendeinen verrufenen, faulen, nichtsnutzigen Dilettanten?« Dramatisch greift er sich an die Brust. »Das tut weh, Klinge. Ehrlich. Ich habe einfach keinen Anlass für ein Kostüm gesehen, wenn meine Lieblingszeit genau jetzt ist, genau hier neben dir.«
»Du musst wirklich damit aufhören«, verlange ich, als Hitze in meine Wangen steigt. »Du weißt, dass ich einen Freund habe, und gibst trotzdem keine Ruhe.«
»Was – darf ich dir nicht mal sagen, wie gern ich in deiner Nähe bin? Dass du die Einzige an dieser ganzen verdammten Akademie bist, mit der ich mich gern unterhalte?«
Ich verdrehe die Augen. »Oh, bitte«, sage ich. »Heb dir das für Maisie auf.«
Killian lacht, bevor er sich kurz umsieht. »Ist dein Schatz auch hier?«, fragt er.
Ich werfe einen Blick zur Bar, an der sich Braxton immer noch mit Oliver und Finn unterhält – nur dass sie jetzt alle in unsere Richtung sehen.
Großartig.
Killian folgt meinem Blick und wendet sich dann wieder mir zu. »Tja, dann ist ein Tanz wohl vom Tisch. Was wirklich sehr schade ist, gerade läuft nämlich einer meiner Lieblingssongs.«
Ich spitze die Ohren, versuche, die Melodie zuzuordnen, die im Hintergrund läuft. »Der Halcyon-Club-Remix von Beethovens dritter Symphonie ist einer deiner Lieblingssongs?«
Killian nickt. »Ich bin nämlich gar nicht so ein Kunstbanause, wie du denkst. Aber es macht Spaß, dich zu überraschen. Der Ausdruck auf deinem Gesicht, als …«
Ich hebe eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Kannst du nicht einfach …«
»Was?« Er kneift die Augen zusammen. »Willst du nicht hören, wie das Grübchen auf deiner rechten Wange …«
»Ist das wirklich der Grund, wieso du hier bist?«, falle ich ihm ins Wort. »Um meine verschiedenen Gesichtsausdrücke zu studieren?«
»Es ist auf jeden Fall einer der Gründe.« Er wackelt mit den Brauen. »Aber du hast recht. Wir sollten diese Sache zwischen uns nicht allzu sehr zur Schau stellen.«
Dieser Typ hört einfach nie auf.
»Du weißt schon, diese Sache, bei der du so tust, als würde dir gar nicht auffallen, dass ich tausendmal unterhaltsamer bin als dein Emo-Braxton. Und, ich will ja nicht eingebildet klingen, aber es gibt durchaus Leute, die behaupten würden, dass ich auch besser aussehe als er. Wobei diese Beule an der Nase ihm durchaus einen gewissen Bad-Boy-Charme verleiht und …«
»Okay. Das reicht.« Ich mache auf dem Absatz kehrt und will weggehen, als Killian mir nachruft.
»Klinge … bitte «, sagt er und obwohl ich es eigentlich besser wissen sollte, bringt mich sein Tonfall dazu, mich doch noch einmal umzudrehen.
»Was, Killian?«, frage ich. »Was willst du? Spuck’s einfach aus und zwar schnell, die Uhr tickt.«
Ich sehe zu, wie sich sein Gesicht von dem arroganten Scherzbold, als den ich ihn kenne, zu der aufrichtig ernsten, neuen Version wandelt, von der ich noch nicht ganz überzeugt bin. »Ich wollte mich nur verabschieden.« Seine Stimme ist leise, sein Blick so erhitzt, dass ich ihm unmöglich begegnen kann.
»Gehst du weg?« Ich bemühe mich um einen ruhigen Tonfall, als würde es mich nicht wirklich interessieren.
Mit einer Hand fährt Killian sich durch die goldenen Locken und lässt seinen Blick kurz durch den Raum schweifen. Als er mich wieder ansieht, antwortet er: »Nein. Aber du. Und, ja, ich weiß, dass du meinen Schutz nicht brauchst, aber ich mache mir eben trotzdem Sorgen und …« Er bricht ab und ich starre hinunter auf meine Schuhe, bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, was als Nächstes kommt. »Ich will einfach nur wissen, dass du glücklich bist. Oder zumindest dass du okay bist … psychisch.«
»Dr. Lucy hat mir grünes Licht gegeben«, erwidere ich mit erhobenem Kinn, in der Hoffnung, dadurch selbstbewusster zu wirken, als ich mich gerade fühle.
»Das ist super.« Er reibt die Lippen übereinander, fährt sich wieder durch die Haare und bestätigt damit meine Vermutung, dass diese zwei Gesten hintereinander seine Nervosität verraten.
»Aber …« , sage ich, da mir klar ist, dass da noch mehr kommt.
»Man darf nicht vergessen, dass Arthur Dr. Lucy bezahlt.«
»Soll bedeuten?«
»Hör zu … Ich bin mir sicher, dass sie weiß, was sie tut, aber ich interessiere mich weniger für das, was sie sagt, und mehr dafür, wie du dich fühlst.«
Wieder dieser brennende Blick.
Wieder starre ich auf meine Schuhe.
»Also – geht’s dir gut, Klinge? Bist du bereit, der Renaissance in den Hintern zu treten?«
»Eigentlich …« Ich hebe den Blick. »Hatte ich die Hoffnung, dass es nicht so weit kommt.«
Darüber denkt er einen Moment nach. »Gut«, meint er schließlich. »Eine deutlich bessere, gesündere Herangehensweise.«
Ich atme tief durch, werfe einen Blick durch den Raum – und sehe Braxton auf uns zukommen.
»Hör zu …« Ich wende mich wieder an Killian. »Ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber …« Unauffällig nicke ich in Braxtons Richtung. »Ich glaube, es wäre besser, wenn du jetzt gehst.«
Killians Blick huscht kurz über meine Schulter, dann greift er plötzlich nach meiner Hand und drückt etwas Kleines, Kühles hinein. »Kein Talisman«, flüstert er. »So einen hast du ja schon. Sieh es einfach als Erinnerung. Eine Art Glücksbringer.«
Auch ich werfe einen Blick über die Schulter, erwarte, Braxton schon hinter mir aufragen zu sehen, stelle jedoch fest, dass Hawke ihm in den Weg getreten ist. Und während die beiden noch reden, öffne ich schnell die Finger und wage einen kurzen Blick.
Es ist eine kleine Klinge aus schwarzem Stein und der Waffe nachempfunden, die ich benutzt habe, um mich im Verlies von Versailles zu verteidigen. Als ich Killians Blick begegne, sind seine blauen Augen so unermesslich tief, dass ich mich zwingen muss, mich abzuwenden. Ich will die unausgesprochenen Worte nicht sehen, die er versucht mir mitzuteilen.
»Das ist Onyx«, sagt er, wobei eine namenlose Emotion in seiner Stimme mitschwingt. »Ein Stein, der für Schutz und Stärke steht. Er hilft einem, auf seine Instinkte zu hören und über sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Angeblich soll er auch Erinnerungen speichern.«
Mit der Fingerspitze fahre ich die feinen Linien nach, die die drei Metallstücke darstellen, aus denen ich die Waffe geformt habe. Die Detailverliebtheit, mit der dieser Stein bearbeitet wurde, ist wirklich beeindruckend.
»Hast … hast du den selbst gemacht?«, frage ich mit angespannter Stimme.
Killian nickt. »Du hast mich wohl nicht für den kreativen Typ gehalten, was?«
»Auch nicht für den Typ, der auf magische Steine steht.« Ich zucke mit den Schultern.
»Ich würde wetten, du hast eine ganze Menge falsche Vorstellungen, was mich angeht.« Sein Blick bohrt sich tiefer in meinen. »Vielleicht habe ich irgendwann die Chance, sie alle zu widerlegen. Oder zumindest die schlimmsten.«
Ich werfe einen verstohlenen Blick über die Schulter. Braxton spricht immer noch mit Hawke, aber es sieht aus, als würden sie sich einem Ende nähern.
Kilian scheint meine Unruhe zu spüren, denn er sagt hastig: »Pack ihn in deine Tasche oder in deinen Schuh. Oder lass ihn einfach hier, wenn du dich nicht wohl damit fühlst. Ich weiß nur, dass ich bei jedem Sprung eine Erinnerung an das eine Mal dabeihaben will, bei dem alles schiefgegangen ist.«
Das eine Mal. Und damit meinst du das eine Mal – als Braxton dich angeblich zurückgelassen hat.
»Wieso sollte man eine Erinnerung an einen schlechten Sprung mit sich rumtragen?«, will ich wissen, obwohl ich weiß, dass ich es nicht tun sollte. Ich sollte ihn dazu drängen, endlich zu gehen, aber ich bin neugierig.
Killian lehnt sich zu mir. So nah, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren kann. »Weil ich nicht vergessen darf«, raunt er mir zu.
Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Genau dasselbe hat Braxton gesagt, als ich ihn gefragt habe, wieso er die Stiefel behält.
»Alles okay, Klinge?« Killian weicht ein Stück zurück. »Bist ’n bissl blass um die Nase.« Da ist der aufgesetzte Dialekt wieder. Aber ich weiß, dass er damit nur die Stimmung auflockern will.
»Ich glaube, ich bin einfach nur überrascht von den ganzen Talismanen, Glücksbringern und dem Aberglauben, der mit dem Springen einhergeht«, sage ich, wobei meine Stimme verräterisch schwankt.
»Sich ins Ungewisse vorzuwagen, war immer schon einschüchternd«, erklärt er. »Und viel von diesem Aberglauben wurde über Generationen weitergereicht. Zum Beispiel dass man nie auf einem namenlosen Schiff fahren sollte – das hast du bestimmt schon mal gehört, oder? Und dass es eine sichere Rückkehr verspricht, wenn man eine Münze in den Trevi-Brunnen in Rom wirft. Und falls du dich jemals in Irland wiederfindest, solltest du auf jeden Fall den Blarney Stone küssen, um dir eine Portion Glück abzuholen.«
»Danke«, sage ich. »Für den Glücksbringer und …« Mein Blick huscht wieder zu Braxton, der nur noch wenige Meter von uns entfernt ist. »Du solltest gehen.«
Killian macht sich nicht die Mühe, selbst zu Braxton zu sehen und damit zu bestätigen, was wir beide wissen. Dass er uns in ein paar Schritten erreicht haben wird.
»Nur um das klarzustellen«, fügt er noch hinzu. »Ich würde dich zum Abschied umarmen, aber das letzte Mal war Braxtons Faust in meinem Gesicht doch eher unangenehm, deswegen will ich das lieber nicht noch mal herausfordern.«
Fragend sehe ich ihn an. Wovon zur Hölle redet er da?
Doch Killian schüttelt nur den Kopf. »Gute Reise, Klinge.« Er verschwindet bloße Sekunden, bevor Braxton neben mich tritt, in der Menge.