»ÜBERLASS MIR EINFACH DIE FÜHRUNG «, sagt Killian, als ich ihm zur Tür folge.
»Wieso? Ich dachte, dieser Palazzo gehört einem Mitglied der AAD ?«, gebe ich zurück, unwillig, ihm die Kontrolle zu überlassen. Das schafft genau die Art Präzedenzfall, die ich mir nicht leisten kann.
Ein uniformierter Wachmann öffnet die Tür und nach einem kurzen Wortwechsel in rasend schnellem Italienisch, dem ich kaum folgen kann, werden wir hereingebeten, wo es zum Glück etwas wärmer ist, wenn auch nur marginal.
Von außen kam mir der Palazzo recht schmucklos vor, doch das Innere ist wirklich sehr schön. Neben der hohen Decke und dem glänzenden Marmorboden hat die Eingangshalle zahlreiche Fresken zu bieten und ist um einen hübschen Innenhof herum gebaut, in dem einige Olivenbäume und blubbernde Springbrunnen stehen.
»Benvenuto!«
Als ich den Blick hebe, sehe ich einen Mann die breite Treppe herunterkommen. Auf die Entfernung wirkt er deutlich kleiner als Killian und auch deutlich breiter. Sein Schritt ist entschlossen, ohne schwer zu sein, und er scheint beim Gehen immer seinem Bauch zu folgen.
Seine Haut ist dunkel, die wilde Mähne aus schwarzen Locken fällt ihm bis über die Schultern und seine Gesichtszüge sind so plump, als hätte sie ein Kind mit einer sehr stumpfen Wachsmalkreide gezeichnet. Aber seine Augen schimmern in einem warmen, samtigen Braun und als er lächelt, ist es, als würde die Sonne aufgehen: Der gesamte Raum scheint sich aufzuhellen.
Killian stellt uns einander vor, spricht dabei allerdings ein so schnelles und fließendes Italienisch, dass ich nicht mehr als den Namen unseres Gastgebers mitbekomme – Cosimo, was ich ja bereits wusste. Doch nachdem er uns in unser Zimmer gebracht hat, das tatsächlich eher eine Suite mit großem Schlafzimmer und einem noch größeren Wohnzimmer samt Gartenzugang ist, nimmt Cosimo das Gespräch auf Englisch wieder auf.
»Ich habe schon vor Tagen mit euch gerechnet«, sagt er. »Euer Timing könnte kaum schlechter sein.«
»Wie meinst du das?«, frage ich, bemüht, nicht allzu alarmiert zu klingen.
»Heute ist der sechste Februar 1497 «, erwidert er.
Killian schließt die Augen und pfeift leise durch die Zähne, während Cosimo zwischen uns hin und her sieht.
Ich bin wohl so fokussiert darauf, den Mond zu finden, dass es einen Moment dauert, bis ich diese Neuigkeit verarbeitet habe. »Also … sind wir im fünfzehnten Jahrhundert, nicht im sechzehnten«, sage ich, verziehe innerlich das Gesicht, als die beiden mich ansehen, als hätte ich gerade etwas unglaublich Offensichtliches festgestellt, was natürlich auch so ist. Trotzdem war ich mir die ganze Zeit sicher, dass wir in die frühen Jahre des sechzehnten Jahrhunderts reisen würden, vor allem weil ich den Salvator Mundi als Hinweis nutzen soll, der angeblich erst um 1510 fertiggestellt wurde. Aber natürlich hätte ich es besser wissen müssen. Man darf nie voreilige Schlüsse ziehen, wenn es um Arthur geht oder um Gray Wolf oder ums Springen oder …
»Ich war schon kurz davor, euch aufzugeben«, sagt Cosimo. »Ich schicke die Kutsche jetzt schon seit Wochen jeden Tag an die vereinbarte Stelle.«
Killian zuckt mit den Schultern. »Du kennst Arthur«, meint er und Cosimo nickt, ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich das alles richtig verstehe.
»Könnt ihr mir das genauer erklären?« Ich sehe zwischen den beiden hin und her, doch es ist Cosimo, der mir antwortet.
»Arthur hält uns gern auf Trab – damit wir es uns nicht zu gemütlich machen. Wie auch immer, wenn ihr auf der Suche nach einem Kunstwerk seid, müsst ihr euch beeilen.«
»Wegen des Fegefeuers der Eitelkeiten.« Wieder sehe ich von einem zum anderen, bemerke Cosimos vernichtenden Blick, während Killian resigniert den Kopf schüttelt.
»Wir sind nur noch einen Tag von diesem traurigen Teil der Geschichte entfernt.« Cosimos Stimme klingt wütend, scharf. »Der Großteil meiner Angestellten ist bereits geflohen. Zumindest die wenigen, die nicht schon früher gegangen sind, um sich diesem fanatischen Priester anzuschließen.« Er zieht eine Grimasse. »Der Rest ist nach Venedig aufgebrochen, wohin auch ich mich zurückziehen werde, bis das Chaos hier vorbei ist.«
»Also …«, sage ich. Mein Bauch zieht sich zusammen, als mir die volle Tragweite dieser Neuigkeit bewusst wird. »Also sollen wir ohne dich hierbleiben. Nur …« Mit dem Daumen deute ich auf Killian. »Nur wir beide – ganz allein – in diesem riesigen Palazzo?«
Cosimo sieht mich mit so viel Verachtung an, dass sein vernichtender Blick von vorhin im Vergleich beinahe freundlich wirkt. »Ich nehme an, du bist neu.«
Ich lache nervös. »Was hat mich verraten?«
»Dein offensichtlicher Mangel an Training.« Mit kritischem Blick mustert er mich von Kopf bis Fuß.
»Sie hat einige Stufen übersprungen«, mischt Killian sich ein. »Aber keine Sorge, ihr Training war ausreichend.«
»Hoffentlich hast du recht«, sagt Cosimo. »Denn ihr Italienisch ist erbärmlich.«
»Hi. Hallo. Ciao.« Ich wedle mit einer Hand vor seinem Gesicht. »Ich bin direkt hier.«
»Das sehe ich.« Cosimo runzelt die Stirn. »Und du würdest gut daran tun, dich daran zu erinnern, in welcher Zeit du dich befindest , und dein …« Er legt den Kopf schief, als müsste er nach dem passenden Wort suchen. »Dein Selbstbewusstsein zu dämpfen.« Er spricht das Wort aus, als würde es einen schalen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassen. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um deinen Millennial-Feminismus auszuleben.«
»Entschuldigung«, sage ich mit wutverzerrter Stimme. »Ich dachte, es wäre in Ordnung, ich selbst zu sein, wenn außer einem weiteren Mitglied der AAD sonst niemand anwesend ist .«
Cosimo will gerade zu einer Antwort ansetzen, als Killian ihm eine Hand auf die Schulter legt. »Bruder«, sagt er. »Ich habe langsam den Eindruck, dass du dich zu sehr an die Sitten dieser Zeit gewöhnt hast. Und glaub mir, das kann ich gut nachvollziehen, nachdem ich selbst vier Jahre im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts festgesteckt habe. Aber Natasha hat mich nicht nur gerettet, sondern mir auch beigebracht, wie ich mich in der modernen Welt zu benehmen habe.«
Cosimo mustert mich abschätzig. Als könnte er mich jetzt, nachdem er Killians Anerkennung gehört hat, in einem neuen Licht betrachten. »Vielleicht hast du recht«, gibt er schließlich nach. »Und vielleicht bin ich etwas paranoid geworden. Aber das hier ist nicht das Florenz, das es einmal war. Die Stadt ist erschüttert, wird von Furcht regiert. Es wird Krieg gegen Kunst, Schönheit und Luxus geführt – all die Dinge, die mich damals hierhergezogen haben. Natürlich wusste ich, dass es so kommen würde, die Entwicklung mit ansehen zu müssen, ist allerdings so verstörend, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Das hier sind ernste Zeiten mit ernsten Konsequenzen für alle, die es wagen, aus der Reihe zu tanzen. Anständige Leute werden beschuldigt, bestraft und finden auf grausame Weise ihr Ende und das alles nur wegen ein paar erfundener Abscheulichkeiten. Also bitte, sei wachsam, zieh den Kopf ein und vergiss niemals, dass du als Frau in dieser Zeit keinerlei Rechte hast.«
Ein Schauder jagt über meinen Körper, doch ich weigere mich, mir anmerken zu lassen, wie sehr seine Worte mich treffen.
»Wenn du klug bist«, fährt Cosimo fort, »tauschst du dein Glitzerkleid gegen etwas Zurückhaltenderes.«
Ich sehe hinab auf mein Kleid, frage mich, wieso um alles in der Welt Charlotte – nein, Arthur, schließlich hat er selbst gesagt, dass er das erste, letzte und einzige Wort beim Springen hat –, wieso Arthur uns in diesen edlen Gewändern in eine Zeit schickt, in der so viele einem fanatischen Priester folgen, der gegen all das predigt, was Arthur so sehr schätzt.
»Häuser werden geplündert«, sagt Cosimo. »Natürlich habe ich jede Menge Kopien angefertigt und sie freiwillig ausgehändigt. Diese Meute besteht nur aus Kunstbanausen, die erkennen den Unterschied sowieso nicht.«
»Moment …«, sage ich. »Du hast die Fälschungen selbst angefertigt?«
Cosimo nickt.
»Also gehörst du nicht zu den Blauen.«
Er wirft den Kopf in den Nacken und lacht, ein so unerwarteter Anblick, dass er mich völlig überrumpelt. »Ich war Blau, bevor ich Rot geworden bin. Weißt du, was das bedeutet?«
Killian sieht mich an, scheinbar genauso interessiert an meiner Antwort wie Cosimo.
»Ihr trefft die großen Künstler«, erinnere ich mich daran, was Arthur mir mal erzählt hat. »Ihr gebt Kunstwerke in Auftrag, gebt euch als Wohltäter aus und ihr fertigt Kopien von allen bekannten Werken an.«
Cosimo hebt eine Braue. »Weißt du, wie viele meiner Werke in den Uffizien und im Louvre hängen?«
Staunend sehe ich ihn an.
»Lass es mich so ausdrücken: Ich habe den Überblick verloren.« Wieder lacht er, doch diesmal klingt es merkwürdig hohl. »Hör zu«, sagt er. »Mein harter Ton vorhin tut mir leid. Wir leben in gefährlichen Zeiten, aber ich weiß, du wärst nicht hier, würde Arthur dir nicht vertrauen. Was bedeutet, dass auch ich dir vertrauen muss. Aber dir ist klar, was morgen passieren wird?«
»Ja«, erwidere ich.
»Das Savonarola-Fieber hat so weit um sich gegriffen, dass viele der Reichen dieser Stadt sich von ihren Juwelen, Möbeln, Spiegeln, Kosmetika und – das ist am tragischsten – von bergeweise kostbaren und unersetzlichen Manuskripten, Büchern und Meisterwerken der Kunst trennen. Und das alles wird morgen ins Feuer geworfen.«
Traurig schüttle ich den Kopf. Ich kann es mir kaum vorstellen und ganz sicher will ich es nicht mit ansehen. »Ich habe gelesen, dass Sandro Botticelli dem Wahn so sehr verfallen ist, dass er einige seiner eigenen Gemälde verbrannt hat – vor allem seine früheren weltlicheren Werke.«
»Der Frühling und Die Geburt der Venus haben nur überlebt, weil sie sich an einem sicheren Ort befanden.« Cosimo seufzt. »Und jetzt befinden sie sich natürlich in Gray Wolf, wie wir alle wissen.«
Wie jammerschade das ist. Ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie langsam sich die Menschheit ändert – wie die Geschichte sich immer wiederholt, angetrieben von den Massen, die nicht einsehen wollen, wie ähnlich ihr Verhalten dem irrationalen Handeln ihrer Vorfahren ist.
»Im späten fünfzehnten Jahrhundert gab es das Fegefeuer der Eitelkeiten«, sage ich. »Und im neuen Millennium schlagen wir uns immer noch mit Leuten rum, die bestimmte Bücher verbieten wollen.«
»Wieder einmal ist die Vergangenheit nur der Prolog.« Cosimo betrachtet mich wie eine Mitverschwörerin, was eine willkommene Abwechslung zu seinem Spott von vorhin ist. »Aber jetzt …« Cosimo reibt sich die Hände. »Eure Reisetruhe steht in eurem Zimmer; ich habe nur ein paar Gegenstände ausgepackt, die Arthur für mich mitgeschickt hat. Ihr habt noch etwas Zeit, bis unsere Gäste ankommen. Ich habe ein letztes extravagantes Festmahl geplant, bevor die Dunkelheit über Florenz hereinbricht. Und glaubt mir, das solltet ihr euch auf keinen Fall entgehen lassen.«
Nachdem Cosimo gegangen ist, wendet Killian sich an mich und sagt mit leiser Stimme: »Verdammter Savonarola. Das ist ja wohl mal ein richtig beschissenes Timing.« Er schüttelt den Kopf und schnaubt leise. »Ich würde vorschlagen, dass wir uns noch ’ne Mütze Schlaf holen, denn heute Nacht ziehen wir auf jeden Fall los. Und du musst ausgeruht sein, wenn wir an der Nachtwache mit ihrer verdammten Ausgangssperre vorbeikommen wollen.«
Er dreht sich um und geht zum Diwan hinüber, auf den er sich fallen lässt, ohne vorher die Stiefel auszuziehen.
»Killian?«, frage ich leise. »Kennst du …« Die Worte bleiben wie Erdnussbutter auf meiner Zunge kleben. Ich befeuchte mir die Lippen, versuche mich zu sortieren und beginne noch mal von vorn. »Kennst du zufällig den wahren Grund, wieso Arthur uns – mich hierhergeschickt hat?«
Ich halte gespannt den Atem an, beobachte sein Gesicht ganz genau, als er ein Auge öffnet und antwortet: »Wir sind hier, um den Mond zu finden, Klinge.« Dann dreht er sich in aller Seelenruhe auf die Seite und schläft einfach so auf der Stelle tief und fest ein.