MIT EINGEZOGENEM KOPF DRÄNGE ICH mich weiter, hoffe darauf, dass ich einfach nur wie jemand von der Straße wirke, auf der Suche nach Trost, Zuflucht, Schutz. Und abgesehen von ein paar Fanatikern, die mir irgendwas von wegen ewiger Verdammnis ins Gesicht schreien, schaffe ich es weitgehend unbehelligt in die Kathedrale. Erleichtert stelle ich fest, dass ich darin allein bin.
Direkt hinter der Tür bleibe ich stehen, brauche einen Moment, um meine Nerven zu beruhigen. Dann hebe ich den Blick zu der gemalten Uhr über dem Eingangsportal und erinnere mich daran, gelesen zu haben, dass sie nach italienischer Zeit läuft, der ora italica, bei der die Zeiger sich rückwärts drehen und die vierundzwanzigste Stunde mit dem Sonnenuntergang endet. Fünfhundert Jahre später wird sich diese Uhr immer noch an derselben Stelle befinden, immer noch die Zeit anzeigen.
Auf der anderen Seite des Raums wölbt sich das bemalte Kuppeldach auf, auf dem das Letzte Gericht dargestellt ist. Und als ich ein Mosaik überquere, das so kunstvoll gearbeitet ist, dass es beinahe einem Teppich gleicht, frage ich mich, ob der Mond vielleicht darin versteckt ist.
Auf der Landkarte gab es drei Symbole aus dem Tarot – den Eremiten, die Hohepriesterin und den Mond.
Das letzte Mal hat mir die Karte des Eremiten mit ihrer Verbindung zum römischen Gott Saturn dabei geholfen, die Sonne zu finden. Diesmal steht die Karte für etwas anderes. Als neunte Karte im Deck hat der Eremit eine numerologische Verbindung zum Mond, dessen Nummer achtzehn sich zu neun reduziert, wenn man die Eins und die Acht addiert.
In astrologischer Hinsicht steht der Eremit in Verbindung mit der Jungfrau und da sich in dieser Kathedrale beinahe alles um die jungfräuliche Geburt dreht, scheint sie mir ein guter Ausgangspunkt für meine Suche zu sein. Außerdem zählt Heilung zu den Bedeutungen der Karte und auch das ist passend für diesen Ort.
Die Hohepriesterin mit der Nummer zwei steht sowohl mit der elften Karte, der Gerechtigkeit, in Verbindung, da eins plus eins zwei ergibt, als auch mit dem Gericht, das die Nummer zwanzig trägt, die sich ebenfalls auf zwei reduziert.
Ich sehe hinauf zum Kuppeldach und betrachte noch einmal das Deckengemälde des Letzten Gerichts, hoffe, es beweist, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Das astrologische Zeichen der Hohepriesterin ist der Mond, ihr Element ist das Wasser und sie steht für Geheimnisse, Weisheit und Dinge spiritueller Natur, was ebenfalls zu diesem Ort passt.
Und dann gibt es natürlich noch den Mond selbst. Als achtzehnte Karte steht er mit dem Eremiten in Verbindung und wie die Hohepriesterin ist er dem Element des Wassers zugeordnet. In astrologischer Hinsicht ist er mit dem Sternzeichen der Fische verbunden, die zufällig auch als geheimes Zeichen der Christen dienten, was wiederum auf eine Kirche oder eben Kathedrale hindeuten könnte.
Die Symbole auf der Landkarte waren eine Krone, ein Stundenglas und ein Bogen. Doch eins dieser Symbole stand auf dem Kopf, ein weiteres lag auf der Seite und auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, wieso diese Symbole so gezeichnet wurden, muss es etwas zu bedeuten haben, schließlich handelt es sich bei der Karte um eine Art Schatzkarte.
Aber deutet die Darstellung auf die traditionell umgekehrte Bedeutung der Tarotkarten hin, wie ich angenommen habe?
Und wenn es so ist, was genau hat es dann zu bedeuten, dass das Stundenglas auf dem Kopf steht, sodass es aussieht, als wäre die Zeit fast abgelaufen?
Ist es ein Hinweis auf diese Zeit – das Ende der Renaissance?
Und wenn ja, was hat es dann mit der Krone auf sich?
Im Tarocchi-Deck ist die Hohepriesterin als Frau dargestellt, die auf einer goldenen Bank sitzt und eine Krone über einer Art Nonnenschleier trägt. In einer Hand hält sie ein Zepter, mit der anderen balanciert sie ein Buch auf ihren Knien. Auf der Landkarte liegt die Krone auf der Seite und davon ausgehend, dass sie absichtlich so platziert wurde, stellt sich die Frage, warum – was kann das bedeuten?
Ich schüttle den Kopf, schlendere durch den großen Raum, froh, ihn ganz für mich allein zu haben, während auf der anderen Seite der Tür das Chaos über die Stadt hereinbricht.
Okay, mal sehen … Die Krone ist ein Kreis, symbolisiert damit Unsterblichkeit, Ewigkeit … Eine Krönung steht für die Vereinigung mit dem Göttlichen, was mir wiederum bestätigt, dass ich am richtigen Ort bin. Aber wieso die Krone auf der Seite liegend dargestellt ist, erschließt sich mir einfach nicht.
Das Stundenglas symbolisiert den Lauf der Zeit und die Unumgänglichkeit des Todes. Gleichzeitig erinnert die Silhouette der Sanduhr aber auch an eine Acht, die auf der Seite liegend wiederum ein Symbol für Unendlichkeit ist. Außerdem kann das Stundenglas die Zeit von vorn laufen lassen, eine Art Wiedergeburt ermöglichen, indem man es einfach umdreht.
Und was ist mit dem Kristall im Salvator Mundi ?
Ich habe Arthur gesagt, dass er den Mond repräsentiert, und das glaube ich immer noch. Aber er erinnert auch an eine Kristallkugel, wie sie Hellseher und Weissager verwenden und mit der man einen Blick in die Zukunft oder die Vergangenheit werfen kann.
Wusste Leonardo da Vinci, wo der Mond versteckt ist?
Und falls ja, will er mit seinem Gemälde dann die Nachricht übermitteln, dass der Mond an einem Ort versteckt wurde, der bald für immer verloren ist, wenn ich ihn nicht schnell finde?
Ich schließe die Augen und rufe mir das Gemälde ins Gedächtnis, konzentriere mich auf die drei weißen Punkte auf dem Kristall, die von Kunsthistorikern als Darstellung der in solchen Kristallen üblichen Einschlüsse ausgelegt werden. Nur ein weiteres Beispiel für Leonardos Liebe zum Detail.
Andere behaupten, die Punkte stehen für eine Sternenkonstellation.
Doch je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon, dass diese drei Punkte auf etwas vollkommen anderes hinweisen.
Schließlich war Leonardo auch dafür bekannt, eine Leidenschaft für Erfindungen und Rätsel zu haben. Ist es also möglich, dass diese drei Punkte eine Art Botschaft sind?
Es gibt definitiv eine Verbindung. Das kann ich spüren. Ich weiß nur noch nicht, wie diese Verbindung genau aussieht, aber ich bin fest entschlossen, es herauszufinden.
Ich habe gerade die Kanzel erreicht, als die Tür krachend auffliegt und eine lärmende Meute hereinstürmt. Und als ich mich umdrehe, finde ich mich Savonarola höchstpersönlich gegenüber.
Einem Mann, der überzeugt davon ist, das einzige menschliche Sprachrohr Gottes zu sein, und doch erkennt er nicht, dass genau die Menschen, die ihn jetzt umgeben, bald so desillusioniert von ihm sein werden, dass sie jubelnd dabei zusehen, wie er verbrannt wird.
Ich versuche, den Kopf einzuziehen und mich abzuwenden, doch es ist zu spät.
»Du da!«, ruft Savonarola und zeigt auf mich. »Hast du deinen Eitelkeiten abgeschworen? Oder hast du die ewige Verdammnis gewählt?«
Die gesamte Meute wendet sich mir zu, hunderte fiebrige Blicke sind auf mich gerichtet und unwillkürlich greife ich nach meinem Dolch. Aber wem mache ich hier bitte was vor? Ich bin hoffnungslos in der Unterzahl.
Da mir klar ist, dass mein wackliges Italienisch mich nur noch mehr in Gefahr bringen würde, neige ich in gespielter Andacht den Kopf und bete zu allen Göttern, die zuhören, dass dieser Fanatiker schnell das Interesse an mir verliert.
»Komm!«, ruft er, seine Stimme dröhnend wie Donner. »Schließ dich uns an, mein Kind, und lass uns für unsere Sünden büßen.«
Savonarola besteigt die Kanzel und stürzt sich sofort in eine düstere Drohpredigt. Die Menge drängt vor und ich nutze die Gelegenheit, um zurückzuweichen, als plötzlich eine Hand auf meinen Mund gepresst wird, jemand von hinten einen Arm um meine Taille schlingt und mich mit sich zieht. Mit schleifenden Fersen werde ich aus der Kathedrale und hinaus auf die Straße gezerrt.