ALS KILLIAN SICH WIEDER SEINER hübschen Tischnachbarin zuwendet, lehnt Leonardo sich zu mir und fragt: »Dann bist du nicht mit dem zeitfremden Jungen zusammen? Oder ist das ein Spiel, das Killian und du spielen?« Bevor ich etwas erwidern kann, fügt er mit einem Nicken zu Killian hinzu: »Er ist sehr ansehnlich, nicht wahr?«
Kurz sehe ich zu Killian hinüber. »Sì«, antworte ich, spüre schon wieder Hitze in meine Wangen steigen. Aber es hat keinen Sinn, etwas so Offensichtliches zu leugnen.
»Ich würde dich gern skizzieren«, sagt Leonardo. »Wenn du einverstanden bist.«
»Mich? Im Ernst?« Mit offenem Mund starre ich ihn an, realisiere erst, dass ich nicht auf Italienisch geantwortet habe, als ich seinen amüsierten Blick sehe. »Ähm, certo«, sage ich, bemüht, cool zu bleiben, auch wenn es natürlich längst zu spät dafür ist.
Mit einem Stück Pergament und einem Stummel roter Kreide in der Hand positioniert Leonardo mich so, dass ich Killian direkt ansehe. »Was immer da zwischen euch ist, scheint sehr kompliziert«, stellt er fest, während er die linke Hand flink über das Pergament bewegt. »Genau das will ich einfangen.«
Unwillkürlich sehe ich ihn an. »Moment … was?«, frage ich, sicher, dass ich ihn missverstanden habe. »Ich meine, che?«
Doch Leonardo antwortet nicht. Er zeichnet einfach weiter, während ich Killian dabei zusehe, wie er der wunderschönen Adeligen das gesamte Repertoire seines Charmes präsentiert.
Es gibt so vieles, was ich sagen will – so viele Fragen, auf die ich eine Antwort brauche. Aber wie kann ich Leonardo darum bitten, mir die Details eines Gemäldes zu erklären, an dem er noch gar nicht arbeitet?
Obwohl er mich als Orakel und Braxton als den zeitfremden Jungen bezeichnet hat, bringe ich es trotzdem nicht über mich, ihn einfach geradeheraus zu fragen.
Zum einen, weil ich damit riskieren könnte, eins dieser nervigen Zeitreiseprobleme auszulösen, wie zum Beispiel einen kausalen Zyklus, auch Großvaterparadoxon genannt. Wenn ich Leonardo gegenüber ein Gemälde erwähne, das er erst noch erschaffen wird, wessen Idee war es dann wirklich?
Trotzdem hat Leonardo in der kurzen Zeit, die wir zusammen verbracht haben, bereits bewiesen, dass er bedacht, überaus aufmerksam und ohne jeden Zweifel die klügste Person in jedem Raum ist. Außerdem ist er unglaublich charismatisch. Und ich habe das eindeutige Gefühl, dass er nichts, was er tut, dem Zufall überlässt.
»Hast du Gefallen an deiner Ausbildung?«, erkundigt sich Leonardo scheinbar zusammenhangslos.
Ich drehe mich zu ihm, um so vielleicht besser zu verstehen, was er meint. Bezieht er sich mit seiner Frage auf meinen Italienischunterricht oder weiß er von Gray Wolf?
Ich will ihn gerade direkt danach fragen, doch bevor ich die richtigen Worte zusammensuchen kann, gibt er mir mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass ich mich wieder Killian zuwenden soll.
»Sì«, antworte ich, da ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. »Meine Ausbildung ist … buono.« Oder heißt es buona oder sogar bene? Plötzlich scheint mich auch das bisschen Italienisch zu verlassen, das ich mir so mühsam angeeignet habe.
Während Leonardo weiterzeichnet, sehe ich zu, wie Killian seiner Tischnachbarin Wein einschenkt. Oder sollte ich sagen, noch mehr Wein.
Als er die Karaffe wieder auf den Tisch stellt, fängt er meinen Blick auf. Ich habe keine Ahnung, wie dieser Moment aus Leonardos Perspektive aussieht, könnte aber schwören, den legendären Künstler etwas murmeln zu hören, das verdächtig nach »perfetto« klingt.
Nach ein paar weiteren Kreidestrichen ist Leonardo fertig. »Genieß dein Studium«, sagt er. »Aber denke daran: Armselig ist der Schüler, der seinen Meister nicht übertrifft.« Er sieht mir direkt in die Augen, als er mir die Skizze reicht. »Ich würde zu gern deine Augen sehen, wenn du den zeitfremden Jungen betrachtest«, sagt er. »Vielleicht irgendwann einmal, ja?«
Zögerlich nicke ich, bevor ich einen Blick auf mein Porträt werfe.
»Was denkst du?«, fragt er.
Mit dem Blick verschlinge ich gierig jede Linie, jede Kontur und Kurve, bestaune, wie perfekt er den Schwung meines Kinns eingefangen hat, die Art, wie mir das Haar über die Schulter fällt, die Frage in meinen Augen, während ich Killian betrachte.
»Es ist so … ehrlich.« Das Staunen darüber, von Leonardo da Vinci skizziert worden zu sein, klingt deutlich hörbar in meiner Stimme wider.
Dem Anschein nach zufrieden nickt Leonardo.
»Würden Sie es für mich signieren?«, bitte ich, als ich daran denken muss, dass er die Mona Lisa nie signiert hat – ein Gemälde, das er zu dieser Zeit noch nicht erschaffen hat. Dennoch hoffe ich, dass er diese Skizze unterschreiben wird.
Neugierig sieht er mich an.
»Nur damit ich nicht vergesse, von wem es ist.« Ich grinse.
Zum Glück findet er das genauso amüsant, wie ich gehofft habe, und ich sehe zu, wie er das Bild in der unteren rechten Ecke signiert – von links nach rechts, auf die Art, für die er bekannt geworden ist.
»Ich werde es immer in Ehren halten«, sage ich und will das Bild gerade einstecken, als mir das kleine Muster aus ineinander verschlungenen Ringen auffällt, das er unter seine Signatur gezeichnet hat. Doch bevor ich ihn fragen kann, was es bedeutet, verkündet Cosimo, dass seine Kutschen bereitstehen und darauf warten, ihn nach Venedig zu bringen. Und damit ist das Dinner offiziell beendet.