»ERZÄHL MIR WAS .«
Killian sieht mich amüsiert an. »Okay«, sagt er. »Was willst du wissen?«
Ich zögere, bin mir nicht sicher, ob meine Dreistigkeit der Tatsache geschuldet ist, dass ich mich gerade nach einem herrlichen mehrgängigen Essen von Leonardo da Vinci und Cesare Borgia verabschiedet habe, oder den eineinhalb Kelchen Wein in meinem Bauch. So oder so wage ich mich mutig weiter vor und frage: »Wieso hassen dich alle?«
Killian verzieht das Gesicht, fährt sich mit einer langsamen, gemessenen Bewegung übers Kinn. Er sieht ernsthaft verwirrt aus. »Mir war nicht bewusst, dass sie das tun«, gesteht er.
»Hassen ist vielleicht zu krass«, rudere ich zurück. »Aber dir muss doch auffallen, dass dir alle aus dem Weg gehen.«
Interessiert beugt Killian sich zu mir. »Und wer genau sind alle ?«
Ich greife nach seinem Ärmel und ziehe spielerisch daran. »Es ist wohl kaum ein Geheimnis, dass nach deiner vierjährigen Abwesenheit niemand in Gray Wolf deine Rückkehr gefeiert hat. Und ich bin neugierig, wieso das so ist. Was genau hast du getan?«
»Oh«, sagt er mit übertriebener Erleichterung. »Einen Moment lang dachte ich, du meinst Cesare Borgia. Ich habe euch beide vorhin gesehen, wie ihr die Köpfe zusammengesteckt und getuschelt habt. Das hat mir schon Sorgen gemacht. Er ist definitiv die Sorte Feind, auf die ich lieber verzichten würde. Dir ist klar, dass es in Machiavellis Der Fürst um ihn geht, oder?«
»Habe ich gehört, ja. Aber jetzt nicht vom Thema ablenken. Du hast es selbst gesagt. Niemand in Gray Wolf kann dich wirklich leiden, aber du hast nie verraten, woran das liegt.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, so etwas jemals behauptet zu haben.« Killian lehnt sich zurück.
»In der Taverne. Du hast gesagt, dass dich auf dieser Seite der Insel alle mehr oder weniger verehren, während ich auf der anderen Seite von Gray Wolf deine einzige Freundin bin.«
»Kann sein, dass niemand eine Willkommen-zurück-Party für mich geschmissen hat, aber Arthur hat sich über meine Rückkehr gefreut«, sagt er. »Und wenn du mich fragst, ist er der Einzige, der zählt.«
»Hör auf, um den heißen Brei herumzureden.« Ich runzle die Stirn. »Du weißt ganz genau, was ich meine.«
»Meinetwegen«, gibt er nach. »Aber das heißt nicht, dass ich dir einen Grund nennen kann. Vermutlich solltest du einfach die anderen fragen.«
»Und was, wenn sie es mir nicht verraten wollen?«
»Ah.« Er kippt seinen Stuhl auf die zwei hinteren Beine und sieht mich unter erhobenen Brauen an. »Also hast du schon rumgefragt.« Er nickt. »Gut zu wissen, dass du Erkundigungen über mich anstellst.«
»Mach dir nichts vor.« Ich verdrehe die Augen. »Ich bin ein neugieriger Mensch, das ist alles.«
»Hör zu.« Er lässt seinen Stuhl wieder nach vorn kippen. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartest, Klinge. Aber hast du noch nie das alte Sprichwort gehört ›Was schert mich das Geschwätz anderer Leute‹? Das trifft mein Motto ziemlich genau. Es ist mir scheißegal, was die Leute in deinen goldenen Fluren über mich tuscheln. Das ist alles nur Projektion – verrät mehr über den Meinungshabenden als über die Person, um die es geht. In diesem Fall also mich. Und solange ich mir keine Sorgen mache, solltest du es auch nicht tun.«
»Es ist nur …« Ich halte kurz inne, entscheide dann aber, weiter zu drängen. »In Gray Wolf gibt es so viele Geheimnisse und es ist unmöglich, sie alle aufzudecken. Und noch schwerer ist es, zu wissen, wem man vertrauen kann.«
»Ich an deiner Stelle würde niemandem vertrauen«, sagt er. »Und was die Geheimnisse angeht – vielleicht ist es nicht deine Aufgabe, sie aufzudecken.«
»Aber ich bin es leid«, protestiere ich. »Ich meine, wieso sagt nicht endlich mal jemand, was er wirklich denkt, und ist ehrlich?«
Killian sieht mir direkt in die Augen. »Und was ist mit dir, Klinge? Wie ehrlich warst du denn bisher? Auf mich wirkt es so, als hättest du selbst ein paar Geheimnisse.«
»Ich?«, frage ich entrüstet. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich habe nichts zu verbergen.« Ich zwinge mich zu einem Lachen, doch Killians erhobene Brauen verraten mir, dass er mir kein Wort glaubt.
»Es ist faszinierend zu beobachten, wie leicht dir diese Lüge über deine hübschen Lippen kommt.« Er rutscht vor an die Stuhlkante, streckt die Hand nach meinem Gesicht aus, hält jedoch inne, bevor er mich tatsächlich berührt. »Erinnerst du dich an den Abend, als wir uns kennengelernt haben?«
Er hält meinen Blick gefangen und einfach so hat sich das Hochgefühl, das ich eben noch genossen habe, in etwas verwandelt, das sich eher wie eine Warnung anfühlt.
»Ja«, erwidere ich mit bebender Stimme. »Ich war in einem Erinnerungsverlust gefangen.«
»Und trotzdem erinnerst du dich daran.« Die Art, wie er mich ansieht, lässt mich bereuen, dass ich uns mit meinen Fragen an diesen Punkt gebracht habe.
Ich wollte nur ein paar Wahrheiten – hatte die Hoffnung, dass Killian als mein Freund endlich ehrlich zu mir sein würde. Aber ich hätte es besser wissen sollen. Sein Vorschlag vorhin, als er mich quasi dazu bringen wollte, Braxton zu betrügen, macht deutlich, dass er mehr will, als ich zu geben bereit bin.
Ich schlucke schwer und will gerade den Blick abwenden, als er die Hand senkt und nach dem Talisman an meinem Hals greift.
»Bist du jetzt gerade in einem Erinnerungsverlust gefangen?«, fragt er, während er den kleinen goldenen Käfig betrachtet, den Braxton mir geschenkt hat.
Da ich meiner Stimme nicht traue, schüttle ich nur den Kopf.
»Dann hast du auch keine praktische Ausrede für diesen Blick, mit dem du mich ansiehst, oder?«