ICH STEHE HINTER DER TÜR , warte, bis ich leises, regelmäßiges Schnarchen aus der Richtung des Diwans höre. Dann schlüpfe ich in die Jungenklamotten, mit denen ich mich schon vorhin verkleidet habe, schnappe mir noch ein paar Dinge und eine Fackel und schleiche mich hinaus in die Nacht.
Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, nehme aber an, dass es bald dämmern wird. Früh genug also, dass die Straßen noch leer sind und die Gefahr, erwischt zu werden, gering ist.
Zumindest hoffe ich das, da es Killian zufolge Nachtwachen gibt, die nur allzu gern Savonarolas neue Ausgangssperre durchsetzen.
Natürlich hätte ich warten können – vermutlich sollen –, bis Killian aufwacht und sich mir anschließen kann, doch nach dem, was zwischen uns passiert ist, wie kurz davor ich war, ihn zu küssen, fühlt sich Killian eher wie eine schuldbewusste Ablenkung an.
Zugegeben, ja, manchmal bin ich impulsiv. Aber ich bin nicht die Art Mädchen, die von einem Freund direkt zum nächsten übergeht. Und bevor ich die Sache nicht mit Braxton geklärt habe, kann ich nicht auf diese Weise an Killian denken.
Außerdem habe ich einen Job zu erledigen und mich von Beziehungsdramen ablenken zu lassen, bringt mich nur in Gefahr.
Die Straßen sind dunkel, doch ich finde mich leicht zurecht. Als die Kathedrale in Sichtweite kommt, laufe ich schnell darauf zu, mache dabei einen Bogen um die Berge aus Schätzen, die später verbrannt werden sollen, wünschte, ich könnte sie alle retten, vor allem die Gemälde und Bücher, doch deswegen bin ich nicht hier.
In der Kathedrale angekommen halte ich sofort auf die Treppe zu und steige alle vierhundertdreiundsechzig Stufen hinauf. Der flackernde Schein meiner Fackel ist die einzige Lichtquelle und ich versuche, nicht daran zu denken, wie leicht ich in meinen Tod stürzen oder einen Anfall von Platzangst bekommen könnte.
Nachdem ich es endlich bis ganz nach oben geschafft habe, sehe ich hinunter auf die Stadt, doch da es zu dunkel ist, um viel zu erkennen, suche ich mir eine Nische, in der ich es mir bequem machen kann.
Ich habe eine Theorie. Und nachdem ich Leonardo kennengelernt habe, bin ich überzeugter denn je, dass er mit Intention malt, dass jeder Farbklecks bewusst gesetzt ist. Wie die Ansammlung von Worten, die ein Buch ergeben, ist jeder Pinselstrich Teil der Geschichte, die Leonardo erzählen will.
Und in diesem Fall sind die drei kleinen Punkte auf der Kristallkugel im Salvator Mundi keine willkürlichen Flecken, die er hinzugefügt hat, um die natürlichen Einschlüsse eines solchen Kristalls nachzuahmen.
Nein, Leonardo will damit auf etwas hinweisen. Uns etwas sagen.
Und wenn meine Theorie sich bestätigt, sollten die drei Punkte mich direkt zum Mond führen.
Als sich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont ausbreiten, ist mein Herz erfüllt von Dankbarkeit, ein solches Wunder erleben zu dürfen, während ich zugleich versuche, nicht an die Kosten dieses Sprungs zu denken – die Kosten jedes Sprungs.
Trotzdem lassen mir die nagenden Gedanken keine Ruhe.
Was hat Arthur wirklich vor, wenn der Mechanismus von Antikythera wiederhergestellt ist?
Und sollte ich ihm überhaupt dabei helfen?
Als die Sonne langsam höher steigt, die Stadt in einen warmen, schimmernden Goldton taucht, schließe ich die Augen und rufe mir den Salvator Mundi vor Augen, konzentriere mich dabei auf diese drei weißen Punkte. Als ich sie schließlich so deutlich sehe, als stünde das tatsächliche Bild vor mir, öffne ich die Augen und sehe wieder auf die Stadt hinab, stelle erfreut fest, dass es genauso offensichtlich ist, wie ich gehofft habe.
Der weiße Punkt ganz links in Leonardos Gemälde steht für die Basilica di San Lorenzo.
Der rechte Punkt symbolisiert den Palazzo Medici.
Und der Punkt, den Leonardo unten platziert hat, stellt den Duomo dar, auf dem ich mich gerade befinde.
Doch wenn ich die Tarotkarten und die Symbole auf der Landkarte – die auf der Seite liegende Krone, das auf dem Kopf stehende Stundenglas, den Bogen – in Betracht ziehe, bin ich immer noch nicht überzeugt davon, dass ich den Mond hier finden werde.
Ich schließe die Augen, rufe mir noch einmal das Gemälde in Erinnerung und … ja!
Plötzlich scheint es so offensichtlich, dass ich kaum glauben kann, es bisher nicht gesehen zu haben.
Es wird so viel in die Tatsache hineininterpretiert, dass Leonardo Jesus’ Robe dargestellt hat, ohne sie zu verzerren, wie man es bei dem Blick durch eine Kristallkugel erwarten würde.
Wenn Leonardo so viel Wert darauf gelegt hat, den Kristall richtig wiederzugeben, indem er die Einschlüsse mitgemalt hat, wieso hat er die Robe dann nicht als invertiertes Bild dargestellt?
Manche behaupten, dass Leonardo einfach nett zum Betrachter sein wollte – ihn nicht ablenken oder verwirren, die visuelle Stimmigkeit des Bilds nicht aus dem Gleichgewicht bringen wollte.
Andere meinen, er hat es getan, um die Perfektion von Jesus Christus zu symbolisieren – nicht einmal seine Robe kann entstellt werden.
Doch jetzt weiß ich, dass keine dieser Theorien zutrifft.
Leonardo hat diese drei Punkte platziert, um drei spezifische Wahrzeichen zu repräsentieren.
Und er hat den Kristall klar gelassen, damit diese eine auffallend weiße Linie, die auf den ersten Blick aussieht wie eine Falte in Jesus’ Robe – dieser eine Pinselstrich, der den mittleren Punkt kreuzt und kurz über Jesus’ Mittelfinger endet –, wie ein Pfeil direkt dorthin deutet, wo der Mond versteckt ist.
Und als ich wieder über die Stadt blicke, während die Sonne immer höher steigt, schießt ein Schwall Adrenalin durch meine Adern. Wenn man diese drei Punkte verbindet, ergeben sie einen Pfeil, der direkt auf das Baptisterium San Giovanni deutet – das achteckige Gebäude, das auf der anderen Straßenseite der Kathedrale steht.
Da dies vermutlich meine letzte Chance ist, Florenz aus diesem Blickwinkel zu sehen, gönne ich mir noch einen Moment, um den Anblick der herrlichen Landschaft in mich aufzunehmen, entschlossen, mir das Bild ins Gedächtnis zu prägen, damit ich es noch in mir trage, lange nachdem ich nach Gray Wolf zurückgekehrt bin.
Während meiner Recherchen für diesen Sprung habe ich auch vom Stendhal-Syndrom gelesen – einer Krankheit, die es nur in Florenz gibt und der Menschen zum Opfer fallen, nachdem sie die atemberaubende Kunst der Renaissance an den verschiedenen Ausstellungsorten der Stadt besichtigt haben. Die Symptome umfassen Schwindel, Herzrasen, Orientierungslosigkeit und mehr. Es wird sogar behauptet, dass ein Mann einen Herzinfarkt hatte, während er Botticellis Meisterwerk Die Geburt der Venus betrachtet hat.
Für mich ist das nur ein Beweis mehr dafür, dass große Kunst die Macht hat, uns tief in der Seele zu berühren.
Und vielleicht ist es genau das, wovor Savonarola solche Angst hat. Er will, dass allein Gott unsere Seelen berührt – seine Version von Gott natürlich. Dabei übersieht er jedoch, dass große Kunst nur dann entsteht, wenn der Künstler eine Verbindung zum Göttlichen schafft.
Als ich hinauf zu der goldenen Kugel mit dem Kreuz sehe, die auf dem Kuppeldach thront, lässt mich irgendetwas an diesem Anblick innehalten.
Obwohl ich mir sicher bin, dass der Salvator Mundi mich zum Versteck des Mondes führt, erinnert mich die goldene Kugel, wie sie so im frühen Morgenlicht glitzert, an etwas anderes, das ich vor Kurzem erfahren habe. Nämlich, dass erst vor fünf Jahren, also 1492 , ein Blitz in das rote Kuppeldach eingeschlagen und die Laterne beschädigt hat.
In knapp einem Jahrhundert wird die Kuppel noch einmal getroffen werden. Doch diesmal wird der Blitz die goldene Kugel aus ihrer Verankerung reißen, sodass sie über das Dach rollt und auf die Straße hinabstürzt.
Zum Glück werden die Straßen aufgrund des Sturms leer sein und niemand kommt zu Schaden. Ein Jahr später wird die Kugel durch eine neue ersetzt und die Stelle, wo die ursprüngliche Kugel auf den Boden aufgeschlagen ist, wird mit einer Marmorplakette markiert.
Als ich noch einen Blick zu dem goldenen Ball hinaufwerfe, überzieht Gänsehaut meine Arme – und in dem Moment wird mir klar, dass Arthur falschlag, als er den drei Symbolen auf der Landkarte je eine Tarotkarte zugeordnet hat.
Beim Mond und dem Eremiten stimme ich ihm zu, doch die Krone hat er falsch interpretiert.
Hätte er mich gefragt, hätte ich niemals die Hohepriesterin als Repräsentantin der Krone gewählt. Erst recht nicht, weil die Krone auf Kolumbus’ Karte so dargestellt ist, als wäre sie umgefallen.
Nein, ich hätte nach einer der gefürchtetsten Karten des gesamten Decks gegriffen.
Die Karte, die in Sachen schlechte Nachrichten direkt hinter dem Tod und dem Teufel kommt, denn der Turm wird fast immer als dunkles Schicksalsomen gedeutet.
Obwohl sowohl moderne als auch traditionelle Decks die Hohepriesterin als Frau mit Krone darstellen und obwohl auch alle anderen Elemente zu passen scheinen, hätte ich Arthur sofort sagen können, dass der Turm als dritte Karte alle Punkte verbindet, hätte ich gewusst, dass er mich zum Zeitpunkt des Fegefeuers der Eitelkeiten nach Florenz schickt.
Wie die moderne und traditionelle Version der Hohepriesterin trägt auch der Turm eine Krone. Allerdings wird die Krone in diesem Fall dargestellt, als würde sie seitlich vom Turm geweht, nachdem sie von einer fürchterlichen Naturgewalt getroffen wurde – oder einem Gottesakt.
Ich ziehe die Landkarte aus der Tasche und da ist sie – die Krone auf der Karte liegt genauso auf der Seite wie die auf dem Turm. Ein Beweis mehr, dass der Turm mir den entscheidenden Hinweis geben wird.
Die anderen Elemente dieser Karte … Denk nach, denk nach … Der Turm ist in astrologischer Hinsicht mit dem Mars verknüpft, was passt, da das Baptisterium meinen Recherchen zufolge auf den Grundfesten eines alten römischen Mars-Tempels errichtet wurde.
Okay, und … Das zugeordnete Element ist das Feuer, was zu den Geschehnissen passt, die heute stattfinden werden, dem Fegefeuer der Eitelkeiten.
Und auch wenn die Karte als dunkles Omen gilt, was nicht unbedingt an ein Baptisterium denken lässt, enthält sie auch das Versprechen der Erleuchtung, die uns auf der anderen Seite erwartet.
Außerdem, ist es nicht gerade der Sinn einer Taufe, die Seele vor der Dunkelheit zu bewahren?
Und zu guter Letzt und in persönlicherer Hinsicht, ist der Turm genau wie das Rad des Schicksals eine Schicksalskarte.
Obwohl ich nicht weiß, wie genau ich diesen letzten Aspekt deuten soll, speichere ich ihn bewusst ab.
Nachdem die Sonne ganz aufgegangen ist, gehe ich langsam die Stufen hinunter, verlasse die Kathedrale und trete hinaus auf die Straßen einer Stadt, die gerade erwacht. Was bedeutet, dass ich mich beeilen muss, wenn ich irgendeine Hoffnung auf Erfolg haben will.