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OBWOHL ES DREI TÜREN GIBT , durch die ich das Baptisterium San Giovanni betreten könnte, steuere ich sofort das bronzene Portal im Osten an, das Michelangelo als »das Tor zum Paradies« bezeichnet hat. Und ich stelle erfreut fest, dass die Flügeltür genauso beeindruckend ist, wie immer behauptet wird.

Falls ich jemals die Gelegenheit bekomme, Florenz in der Gegenwart zu besuchen, werde ich mir diese Türen im Duomo-Museum ansehen müssen. Jetzt kann ich mir nicht mehr als einen kurzen Moment erlauben, um die Reliefs zu betrachten, die das Leben von Johannes dem Täufer darstellen, dem Schutzpatron dieser Stadt.

Im Inneren finde ich ein spektakuläres Mosaik im byzantinischen Stil, das sich über die Kuppeldecke erstreckt und neben vielem mehr die Geschichte vom letzten Gericht und Szenen aus dem Leben des heiligen Johannes erzählt. Doch nichts davon deutet auf das Versteck des Zielobjekts hin, wegen dem ich hier bin, obwohl ich überzeugt bin, am richtigen Ort zu sein.

Langsam bewege ich mich durch den Raum, gehe im Kopf noch einmal sämtliche Hinweise durch.

Eine umgedrehte Sanduhr, die auslaufende Zeit repräsentiert.

Eine auf der Seite liegende Krone, die meiner Überzeugung nach auf den Turm hindeutet, der wiederum ein Ende irgendeiner Art prophezeit.

Hat das vielleicht damit zu tun, dass diese Ära als Ende der Renaissance angesehen wird?

Oder geht es um etwas anderes – etwas, das ich immer noch nicht ganz zu fassen kriege?

Neben den vielen Verbindungen zu Wasser, Jungfrauen, Fischen, Heilung und Spiritualität, die mich hierhergeführt haben, darf ich natürlich das Gemälde nicht vergessen, mit dem alles begonnen hat – den Salvator Mundi.

Leonardo da Vinci hat mir den Weg gewiesen und …

Wie angewurzelt bleibe ich stehen, wiederhole den Satz in Gedanken noch einmal.

Leonardo hat mir den Weg gewiesen und …

Leonardo hat den Weg gewiesen.

Meine Gedanken wandern zurück zu meinem Gespräch mit Mason, zu all den möglichen Optionen, wie die überkreuzten Finger in dem Gemälde interpretiert werden könnten und dass so viele von Leonardos Werken Hände in Bewegung darstellen.

Gänsehaut lässt meine Arme prickeln, ein sicheres Zeichen dafür, dass ich etwas Wichtigem auf der Spur bin – allerdings bin ich mir nicht sicher, was das ist.

Okay, okay, denk nach, füge die Teile zusammen …

Im Salvator Mundi hat Jesus die Finger sowohl erhoben als auch überkreuzt und …

Und was?

Draußen wird es immer heller. Es wird nicht mehr lange dauern, bis jemand hier reinkommt und mich entdeckt. Und ich bin mir nicht sicher, was schlimmer wäre – von einem von Savonarolas Anhängern gefunden zu werden oder von einem Zeitwächter. So oder so will ich es lieber nicht rausfinden.

Frustriert stoße ich die Luft aus und starre hinauf zum Kuppeldach. Als mein Blick am Mosaik von Johannes dem Täufer hängenbleibt, denke ich an das Porträt, das Leonardo von ihm gemalt hat.

Oder wie ich es in dieser Zeit ausdrücken sollte, das Porträt, das er eines Tages malen wird, irgendwann im frühen sechzehnten Jahrhundert.

Johannes der Täufer ist der Schutzheilige von Florenz.

Das Baptisterium ist nach ihm benannt.

Die Geschichte seines Lebens ist auf dem Ostportal und dem Deckenmosaik dargestellt.

In Leonardos Gemälde strahlt der Heilige regelrecht. Sein Haar ist eine Mähne aus wallenden Locken, seine Miene ist heiter, während er mit der rechten Hand zum Himmel deutet und die linke, die größtenteils im Schatten liegt, ans Herz hebt.

Ich reiße die Augen auf und mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass ich immer noch allein bin, gehe ich zum Taufbecken, in dem die gesamte Familie der Medici und Dante Alighieri persönlich ins Wasser getaucht wurden.

Mein Puls rast, meine Schritte hallen leise von den Wänden wider, doch als ich schließlich vor dem Becken stehe, muss ich enttäuscht feststellen, dass es sich einfach nicht richtig anfühlt.

Ja, es ist Wasser darin, was eine Verbindung zum Mond sein könnte. Außerdem dient es einem christlichen Ritual, was wiederum mit den Fischen korreliert.

Aber wie passt der Turm dazu, abgesehen von seiner Verbindung zum Mars und der Tatsache, dass diese Taufkirche auf einem ehemaligen römischen Mars-Tempel errichtet wurde?

Ich trete vom Taufbecken zurück und sehe mich noch einmal um. Mit erhobener Fackel konzentriere ich mich auf die goldschimmernden Fliesen an der Decke. Von links beginnend wandere ich die verschiedenen Geschichten ab, bis mein Blick die Darstellung der Hölle erreicht und die grauenvolle gehörnte Kreatur, der Schlangen aus den Ohren kommen und ein Paar menschlicher Beine aus dem Mund hängen.

Satan macht sich ein Festmahl aus den Verdammten, während die anderen verbrennen.

Die Darstellung ist brutal – richtig furchterregend. Und ich kann mir nur allzu gut vorstellen, wie eilig es die Eltern im fünfzehnten Jahrhundert mit der Taufe hatten, als Kinder oft nicht mehr als ein paar Jahre gelebt haben. Unter den Gläubigen muss der Ansturm auf die Taufkirche enorm gewesen sein.

Die Darstellung des Teufels erinnert mich auch an Francisco Goyas Gemälde Saturn verschlingt seinen Sohn , das mir mal in einem venezianischen Konstrukt untergekommen ist, das ich mit Elodie absolviert habe.

Damals hätte ich mir nicht mal im Traum ausgemalt, dass ich eines Tages hier stehen würde, beauftragt mit der Suche nach einem unbezahlbaren Artefakt, das seit Jahrhunderten verschollen ist.

Damals waren es die Hinweise in den Gemälden, die mich zum wahren Preis geführt haben – dem Preis, den nur ich sehen konnte.

Und jetzt … Genau genommen ist die Situation jetzt sehr ähnlich, da Arthurs Wahl der Hohepriesterin mich an diesen Ort des heiligen Wassers geführt hat. Allerdings sind es die Flammen der Verdammnis, die auch auf der Karte des Turms zu sehen sind, und Leonardos Hang zu deutenden Fingern, die mir den Weg zum Mond weisen werden.

Mit einem Bild dieser Finger vor meinem inneren Auge – sowohl denen im Salvator Mundi als auch im Porträt von Johannes dem Täufer – konzentriere ich mich wieder auf die Szene der Verdammnis, die sich über mir abspielt, bevor ich den Blick nach unten wandern lasse.

Bis zum Altar, auf dem ein heiliges Relikt ausgestellt ist.

Ich erinnere mich, davon gelesen zu haben. Zu dem Zeitpunkt kam es mir so unglaubwürdig vor, dass ich schnell zu anderen Dingen übergegangen bin, die ich für wichtiger hielt. Doch nun, da ich vor dem kunstvollen Glaskasten mit dem reichverzierten goldenen Deckel stehe, weiß ich tief in meinem Herzen, dass der Mond irgendwo darin versteckt ist.

Ich beuge mich vor, sehe durch das Glas und betrachte den Finger darin genau. Oder besser gesagt die knochigen Überreste eines Zeigefingers, der angeblich vom heiligen Johannes stammen soll.

Ein Relikt, das über hunderte von Jahren unzählige Pilger nach Florenz gelockt hat.

Normalerweise wird dieses Relikt nur einmal im Jahr ausgestellt, am 24 . Juni, auch bekannt als Johannistag. Doch anscheinend wollte Savonarola ihn zu Ehren des Fegefeuers der Eitelkeiten auch heute der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Die Zeit wird knapp.

Die metaphorische Krone wird bald fallen und das Ende der Renaissance einläuten und …

Mir stockt der Atem, Gänsehaut rast über meinen Körper und ich kann nicht glauben, dass ich es erst jetzt erkenne. Leonardo da Vinci hat nichts dem Zufall überlassen. Alles am Salvator Mundi ist ein Hinweis, inklusive der Robe – diese anachronistische blau-goldene Robe, in der er Jesus dargestellt hat –, die vermutlich der offensichtlichste Hinweis darauf ist, dass die Zeit knapp wird.

In etwas mehr als zehn Jahren wird Leonardo den Salvator Mundi malen und Jesus dabei absichtlich eine Robe im Stil der Renaissance anziehen – statt der Art Robe, die Christus zu seiner Zeit getragen haben könnte –, um damit auf die Dringlichkeit dieser Aufgabe hinzuweisen.

Dieser Moment ist meine einzige Chance, den Mond zu finden, bevor Savonarola ihn wieder versteckt.

Ohne weitere Zeit zu verschwenden, schnappe ich mir den Reliquienschrein und untersuche ihn von allen Seiten. Doch so genau ich auch hinsehe, ich entdecke nichts, das auch nur entfernt an den Mond erinnert.

Jenseits der Mauern höre ich Schritte, Rufe – die Geräusche einer erwachenden Stadt.

Es wird nicht mehr lange dauern, bis mich jemand hier drinnen entdeckt.

Soll ich einfach das ganze Ding mitnehmen und fliehen?

Es mir unter den Arm klemmen und durch einen der Seitenausgänge entkommen?

Vielleicht. Es besteht immerhin eine kleine Chance, dass ich damit durchkomme.

Aber genauso gut könnte ich erwischt werden.

Panisch richte ich meinen Blick wieder auf den Schrein. Ich schüttle ihn sogar, um zu sehen, ob sich irgendetwas löst, doch nichts tut sich.

Nichts, bis …

Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder diese deutenden Finger – sehe den seligen Ausdruck auf Johannes’ Gesicht, seinen Finger, der zum Himmel deutet.

Sein Finger.

Derselbe Finger, der in diesem Glaskasten liegt.

Und da begreife ich.

Mit rasendem Herzen und zitternden Händen schraube ich den Deckel ab, folge dem Fingerzeig des heiligen Johannes und sehe unter den Deckel, wo ich die kleine silberne Kugel finde.

Mit einer einfachen Drehung löst sich die Kugel und ich stoße den Atem aus, als ich das kleine, schimmernde Objekt betrachte, das jetzt auf meiner Handfläche liegt.

Der Mond.

Ich hab’s geschafft! Ich hab’s wirklich geschafft.

Und jetzt …

Bevor ich den Gedanken zu Ende bringen kann, stürzt die Welt um mich herum ein.