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MEIN HERZ MACHT EINEN SPRUNG , als ich ihn erkenne.

Meine Glieder drängen danach, zu ihm zu rennen.

Doch mein Kopf hat die Kontrolle und er erinnert mich schnell daran, dass Braxton nicht der ist, für den ich ihn gehalten habe.

Ich lasse meinen Blick über sein schlichtes Musselinhemd wandern, die locker sitzende braune Hose, die in Stiefeln steckt. Im Gegensatz zu den Outfits, die Killian und ich bei unserer Ankunft getragen haben, ist Braxton schlicht gekleidet, weniger wie ein Adeliger, eher wie ein Bürgerlicher. Ein Look, der in dieser Zeit die deutlich sicherere Wahl ist. Ein Look, der meinem zum Verwechseln ähnlich sieht.

Trotzdem hat er sich von meiner Verkleidung nicht täuschen lassen. Er wusste schon, dass ich es bin, bevor ich mich zu ihm umgedreht habe.

Weil er mit mir gerechnet hat? Weil er wusste, wo er mich finden würde?

Da er gelogen hat, was Killian angeht, mag ich mir kaum ausmalen, was er noch alles für Geheimnisse verbirgt.

Die Stille dehnt sich aus und ich bin so hin und her gerissen zwischen meinem Kopf und meinem Herzen, dass ich einfach nicht die richtigen Worte finde, also spricht Braxton zuerst.

»Darf ich fragen, was du damit vorhast, nachdem du ihn jetzt besitzt?« Er nickt zu der kleinen silbernen Kugel in meiner Hand.

Ich schlucke schwer, lasse ihn nicht aus den Augen. Aus Angst, dass er versuchen könnte, mir den Mond aus der Hand zu reißen, weiche ich einen – wie ich hoffe – unmerklichen Schritt zurück. Doch die Art, wie Braxton die Zähne zusammenbeißt, die Art, wie er die Mundwinkel runterzieht, verrät mir, dass es ihm nicht entgangen ist.

»Was tust du hier?«, frage ich.

Doch Braxton ignoriert meine Frage. Mit einem weiteren Nicken zu der Silberkugel sagt er: »Im Ernst, Tasha. Was jetzt? Was hast du damit vor?«

Ich zucke mit den Schultern, versuche, unbekümmert zu wirken, doch er durchschaut meine Fassade sofort. Leider habe ich den Fehler gemacht, zuzulassen, dass er mich zu gut kennt. Also entscheide ich mich, mit der Wahrheit zu beginnen. »Ich bringe ihn nach Gray Wolf«, sage ich. »Das ist der einzige Grund, wieso ich hier bin. Aber ich nehme an, das weißt du schon. Du hast es die ganze Zeit gewusst, oder?«

Kaum sind die Worte über meine Lippen, weiß ich, dass ich recht habe.

Er hat nicht nur gelogen, was Killian angeht – alles war eine Lüge.

Braxton legt den Kopf schief, lässt seinen Blick von meinem Gesicht bis hinunter zu meinen Füßen wandern. Und es liegt etwas so Fremdes, so Unleserliches in seiner Miene, dass ich unwillkürlich noch einen Schritt zurückweiche.

»Bist du sicher, dass du das tun solltest?«, fragt er. »Weißt du, was Arthur vorhat?«

»Weißt du es?« Mit einem weiteren Schritt zurück lasse ich die Frage zwischen uns hängen.

Keiner von uns ist bereit, sie zu beantworten.

Keiner von uns ist bereit, alles preiszugeben.

»Du solltest ihm nicht vertrauen«, sagt er.

»Sprechen wir immer noch von Arthur?« Ich versuche angestrengt, seinen Blick zu deuten, doch seine Augen sind dunkel und rätselhaft wie der Grund des Ozeans.

»Natürlich.« Er zuckt so beiläufig mit den Schultern wie jemand, der überzeugt ist, die volle Kontrolle über eine Situation zu haben. »Aber ich spreche auch von Killian. Tasha, Darling, bitte hör mir zu. Du hast ein ganz falsches Bild von allem. Ich bin nicht dein Feind und Killian ist nicht dein Freund. Er ist nicht der, für den du ihn hältst.«

Darling. Denkt er wirklich, dieser Kosename hat noch irgendeine Wirkung auf mich?

Ich verdrehe die Augen und schüttle den Kopf. »Witzig, er hat genau dasselbe über dich gesagt«, zische ich.

Auf Braxtons Stirn bildet sich eine tiefe Falte, als er sich mit einer Hand übers Kinn reibt. »Daran habe ich keinen Zweifel«, sagt er schließlich. Die Worte klingen so hohl wie seine Stimme.

»Du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.« Ich umklammere meinen Dolch fester, versuche, den Mut aufzubringen, die Waffe gegen ihn einzusetzen, sollte es so weit kommen. »Was tust du hier?«

Mit einem Blick auf meine Klinge hebt Braxton die Hände, um zu demonstrieren, dass er unbewaffnet ist.

Doch davon lasse ich mich nicht täuschen. Irgendwo in seinen Taschen hat er sicher ein paar Waffen verborgen.

Und mir ist auch klar, dass er viel besser mit diesen Waffen umgehen kann als ich.

»Ich bin hier, weil ich dich vermisst habe.« Langsam lässt er die Hände wieder sinken. »Ich war halb wahnsinnig vor Sorge, als ich erfahren habe, dass Arthur dich mit Killian losgeschickt hat. Und ich dachte, du vermisst mich vielleicht auch. Aber wie ich sehe, lag ich da wohl falsch. Du wirkst nicht gerade glücklich, mich zu sehen.«

Braxton steht vor mir, sieht stark, fähig und lächerlich schön aus mit diesen ozeanblauen Augen, die er auf mich gerichtet hat. Der Anblick allein reicht aus, um mein Herz in meiner Brust sprichwörtlich schmelzen zu lassen.

Gott, er fehlt mir.

Oder besser gesagt, die Vorstellung von ihm fehlt mir, der Traum von ihm. Denn nachdem ich nun von seinen vielen Lügen weiß, ist alles, was er jemals zu mir gesagt hat, verdächtig.

Einschließlich seiner Gefühle für mich.

»Heute findet das Fegefeuer der Eitelkeiten statt«, sagt er, seine Worte ein gedämpftes Echo in diesen alten, heiligen Mauern.

»Ich habe da draußen auf einem der Haufen einen Botticelli gesehen.« Mit meiner Klinge deute ich zur Tür. »Du solltest versuchen, das Gemälde zu retten, bevor es zu spät ist.«

Braxton ignoriert meinen Scherz und kommt einen Schritt auf mich zu. »Komm mit mir, Tasha«, fleht er. »Lass den Mond hier und komm zurück nach Gray Wolf.«

»Mit leeren Händen?« Ich schnaube. Was zur Hölle bildet er sich ein? Will er mich wirklich sabotieren? »Das kannst du nicht ernst meinen.«

Braxton seufzt tief und resigniert.

»Glaubst du wirklich, es ist so simpel? Dass Arthur es einfach hinnehmen wird?« Ich schüttle den Kopf. »Entweder schickt er mich direkt zurück, oder er schickt jemand anderen.«

»Unwahrscheinlich«, widerspricht Braxton. »Nur du kannst den Mond zurückbringen – und das weiß Arthur genau.«

»Was macht es für einen Unterschied, ob ich es bin oder jemand anderes?« Ich runzle die Stirn. »Arthur bekommt, was er will. Und jetzt will er den Mond. Wenn ich ihn nicht zu ihm bringe, wird es jemand anderes tun.«

»Mein Gott.« Braxton sieht mich erstaunt an. »Du weißt es wirklich nicht, oder?«

Einen quälend langen Moment hält er meinen Blick, zwingt mich, gegen den Impuls anzukämpfen, alles zu vergessen, was ich weiß, und mich in seine Arme zu stürzen auf der Suche nach seiner Wärme, seiner Berührung, seinem Trost, seiner Liebe. Doch ich darf Braxton nicht vertrauen und zwischen uns wird es niemals wieder so sein, wie es einmal war.

Oder besser gesagt, wie ich dachte, dass es war.

Ich durchbreche die Stille, indem ich sage: »Ich weiß nur eins, wenn ich Arthur den Mond nicht bringe …« Ich halte die Silberkugel hoch. »Wenn ich mich entscheide, zu rebellieren, und sein Spiel nicht mehr mitspiele, wird er mich einfach fallen lassen, mich in der Zeit verlieren. Genauso wie er es mit Anjou und Song gemacht hat und wer weiß mit wie vielen anderen, die eine zu große Belastung geworden sind und seine Mühe nicht mehr wert waren.«

Ich beobachte, wie der Schatten einer unergründlichen Emotion über Braxtons Gesicht huscht. »Ich bin mir nicht sicher, ob das mit Anjou und Song passiert ist«, erwidert er.

»Oh, jetzt behauptest du also, etwas zu wissen, nachdem du die ganz Zeit so getan hast, als wäre es dir egal?« Frustriert stoße ich die Luft aus.

»Es war mir nie egal, Tasha. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie nicht mehr Einfluss auf ihr Verschwinden hatten, als du denkst.«

»Was willst du damit sagen?« Ich starre ihn an. »Im Ernst. Spuck es endlich aus und sag mir einfach die Wahrheit. Ich habe genug von deinen ausweichenden, manipulativen, verschleierten Aussagen. Genug von all deinen Lügen. Komm endlich zum Punkt, verdammt.«

»Mein Gott – so siehst du mich also?« Diese Neuigkeit scheint ihn ehrlich zu treffen, doch ich zucke nur mit den Schultern, schließlich hat er mich auch gerade bitter enttäuscht.

»Okay«, sagt er. »Du willst die Wahrheit. Hier ist sie – manchmal kommt es vor, dass jemand genug vom Leben in Gray Wolf hat, und diese Leute finden ihren eigenen Weg nach draußen.«

»Indem sie absichtlich in der Zeit verloren gehen?« Ich verdrehe die Augen, doch tief in mir frage ich mich, ob das vielleicht die ersten wahren Worte aus seinem Mund sind.

»Sind sie wirklich verloren, wenn es ihre Entscheidung ist?« Er hält inne, als würde er eine Antwort erwarten. Als ich schweige, fährt er fort: »Du weißt ja sicher, dass Cosimo sich freiwillig entschieden hat, in dieser Zeit zu leben. Glaubst du also nicht, es ist möglich, dass Anjou und Song dieselbe Entscheidung getroffen haben?«

»Cosimo lebt im Luxus. Er hat Arthurs volle Unterstützung. Anjou und Song sind einfach … weg.« Ich runzle die Stirn.

»Aber du kannst dir nicht sicher sein, dass sie verloren sind«, entgegnet er und ich frage mich, wieso er so stur ist.

Weiß er etwas, das er mir nicht verraten will?

»Wenn du dir so sicher bist, dass sie es nicht sind, dann solltest du mir vielleicht einfach die Wahrheit sagen – und zumindest versuchen, dich zu beweisen.« Ich speie ihm die Worte förmlich entgegen.

Braxton reißt den Kopf zurück, als hätte ich ihn geschlagen. »Mir war nicht bewusst, dass ich mich beweisen muss«, sagt er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern, sein Blick tieftraurig.

Ich schüttle den Kopf, zeige ihm noch einmal den Mond. »Den bringe ich zu Arthur.« Ich lasse die silberne Kugel in meine Tasche gleiten, um sie vor ihm in Sicherheit zu bringen. »Wenn ich aufhöre, sein Spiel mitzuspielen, hilft Arthur meiner Mom nicht mehr und das kann ich nicht zulassen. Ich habe keine andere Wahl, als zu tun, was nötig ist, um sicherzustellen, dass man sich um sie kümmert.«

»Aber um welchen Preis?«, fragt Braxton.

Ich sehe ihn an, unsicher, was er damit meint.

»Was für Opfer musst du dafür bringen – du und womöglich die ganze Welt?«

Ich schlucke schwer, behalte meine Gedanken aber für mich.

»Tasha, bitte«, fleht er. »Du musst deine Pläne für diesen Mond überdenken. Denn in einer Sache liegst du falsch, Darling – du bist die Einzige in Gray Wolf, die Arthur den Mond bringen kann. Abgesehen von …«

»Lass sie in Ruhe!«

Beim Klang seiner Stimme wirbeln Braxton und ich herum, sehen Killian mit brennendem Blick und geballten Fäusten auf uns zustürmen.