64

MEIN EX-FREUND IST EIN ZEITWÄCHTER.

Die Worte hallen in meinem Kopf wider. Die ganze Zeit über habe ich vermutet, dass Braxton lügt, aber das – das ist so viel schlimmer, als ich es mir jemals hätte ausmalen können.

Wie konnte ich mich so sehr täuschen?

Und wie kann es sein, dass ich mir immer noch Sorgen um ihn mache, hoffe, dass jemand Mitleid hat und ihm hilft?

Selbst nach allem, was er getan hat, schaffe ich es nicht, mein Herz zum Schweigen zu bringen.

Zumindest will ich nicht, dass er stirbt.

Als wir den Palazzo erreichen, stürmt Killian hinein, setzt mich auf einen Stuhl und drückt mir einen Becher Wasser in die Hände. »Trink das«, sagt er.

Obwohl das Wasser nach all dem Schreien eine willkommene Erfrischung ist, nehme ich diese Wohltat kaum wahr. Meine Gedanken sind in der Vergangenheit, suchen Hinweise und fügen sie zusammen, wodurch ich mich nur noch schlechter fühle. Denn die Wahrheit war die ganze Zeit direkt vor meinen Augen. Ich hätte nur richtig hinsehen müssen.

Und was ist mit dem braunhaarigen Jungen, den ich in meiner Vision in Versailles gesehen habe, direkt nachdem ich die Sonne gefunden hatte – dem Jungen, der aussah wie eine jüngere Version von Braxton?

Ist es möglich, dass dieser Junge tatsächlich er war?

War es Braxton, der die Sonne vor all den Jahren versteckt hat?

Ist es möglich, dass Braxton nicht aus meiner Zeit stammt?

»Hey.« Killian zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich neben mich, bevor er mir den Becher aus der Hand nimmt und ihn auf den Tisch stellt. »Alles okay?« Er mustert mein Gesicht.

Ich zucke mit den Schultern. Ich bin mir nicht sicher, wie ich meinen Zustand beschreiben würde. Aber okay trifft es ganz sicher nicht.

»Ich wünschte, du hättest es mir gesagt.« Vorwurfsvoll sehe ich ihn an, während ich nervös an den Fäden meines Hemds zupfe, wo ich den Stoff abgerissen habe, um Braxton zu verbinden oder um meine Schuldgefühle zu verringern oder … ich bin mir selbst nicht mehr sicher, wieso ich es getan habe. Ich weiß nur, dass es nicht genug war.

Ich habe ihn blutend zurückgelassen. Ich …

»Klinge …« Killians Stimme schneidet in meine Gedanken. »Ich habe versucht, es dir zu sagen.« Er spricht leise, sanft, als wollte er jeden Streit, den ich vom Zaun brechen könnte, von vornherein entschärfen.

»Wie auch immer.« Schniefend reibe ich mir übers Gesicht. »Jetzt weiß ich es und …« Ich schließe die Augen, habe Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die ich nicht vergießen werde. Nicht vor ihm, nicht deswegen.

»Hey …« Killian nimmt meine Hand zwischen seine Hände. Er steht auf und zieht mich auf die Füße, bis wir so nah voreinander stehen, dass kaum noch ein Hauch Luft zwischen uns ist.

Ich lasse meinen Blick über sein Gesicht wandern, bemerke die Unsicherheit in seiner Miene, wie angespannt seine Schultern sind. Und ich weiß, dass ich ihn so gut trainiert habe, dass er niemals den ersten Schritt machen wird. Wenn etwas zwischen uns passieren soll, muss es von mir ausgehen.

Und auch wenn ich mir nicht wirklich sicher bin, ob ich das will, eine Umarmung könnte ich jetzt gut gebrauchen – etwas, um dieser Nacht etwas von ihrer Härte zu nehmen. Also atme ich tief durch und bitte ihn genau darum.

Sofort schlingt Killian die Arme um mich, zieht mich an sich, während ich mein Gesicht an seiner Brust vergrabe. Er ist genauso warm und stark, wie ich ihn in Erinnerung habe, und ich kann nicht abstreiten, dass es sich gut anfühlt, so gehalten zu werden.

Während er einen Arm um meine Taille schlingt, streicht er mit der anderen Hand über meinen Rücken. »Es tut mir leid«, sagt er, seine Stimme sanft und beruhigend. »Es tut mir leid, dass ich es dir nicht früher gesagt habe.«

Ich dränge mich enger an ihn, so eng wie nur möglich, bis unsere Körper sich aneinanderschmiegen.

Und jetzt?

Ich schließe die Augen, erinnere mich selbst daran, dass ich niemandem Rechenschaft schuldig bin. Es gibt keinen Grund für Schuldgefühle oder Scham, egal, was als Nächstes passiert. Ich habe es satt, immer nur auf Nummer sicher zu gehen, immer vorsichtig zu sein. Ich habe Braxton mein Herz geschenkt und wo hat mich das hingebracht? Vielleicht ist es an der Zeit, einen Sprung ins Ungewisse zu wagen und herauszufinden, wo ich lande.

»Killian«, flüstere ich, löse mich weit genug von ihm, um ihm in die Augen sehen zu können.

»Ja, Klinge?« Seine Stimme ist heiser, mit der Spur von etwas, das mich an Hoffnung erinnert.

»Ich habe mich gefragt, ob du mich immer noch küssen willst«, sage ich.

Ich sehe zu, wie er die Augen schließt. Als er sie wieder öffnet, leuchten sie heller und blauer, als ich sie jemals zuvor gesehen habe.

»Ich kann mich kaum an eine Zeit erinnern, in der ich dich nicht küssen wollte«, gesteht er.

»Das ist gut.« Ich nicke, klammere mich an seine Arme. »Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass mir gerade die Gründe ausgegangen sind, wieso du es nicht tun solltest.« Ein Schwarm Schmetterlinge flattert in meinem Bauch auf, während ich warte – auf das warte, was auch immer als Nächstes passiert.

Killian lässt sich Zeit. Er hebt die Hände an meine Wangen, hält mein Gesicht so zärtlich, so andächtig, dass jeder Gedanke an Widerspruch, den ich vielleicht noch hatte, sofort verpufft. Und als er seinen Mund auf meinen senkt, erinnern mich der gekonnte Druck seiner Lippen, die kunstvollen Bewegungen seiner Zunge an unseren Kuss in der Nacht, als wir uns das erste Mal begegnet sind.

Es ist ein Kuss, der eine Auszeichnung verdient, von einem Jungen, die der das Küssen ganz offensichtlich zu einer Kunstform erhoben hat.

»Klinge …« Er löst sich von mir, legt den Kopf schief, sodass ihm die blonden Locken in die Stirn fallen. »Ist das okay für dich?«

Ich nicke – zu mehr bin ich nicht in der Lage. Er hat mir den Atem geraubt, die Fähigkeit, Worte zu formen.

»Darf ich?«, fragt er und deutet auf die jungenhafte Kappe, die ich immer noch trage.

Mit meiner Zustimmung löst Killian die Haarnadeln, lässt die Kappe zu Boden fallen und fährt mit den Fingern durch meine Haare, bis sie mir in sanften Wellen bis zur Taille fallen.

»Mein Gott«, sagt er. »Sieh dich nur an. Sag mir, dass ich nicht träume.« Die Art, wie er spricht – das leichte Schwanken seiner Stimme, die Ehrfurcht in seinem Ton –, lässt Hitze in meine Wangen steigen und bringt mich fast dazu, den Blick abzuwenden. Bis er einen Finger unter mein Kinn legt und flüstert: »Du sagst mir, wenn du deine Meinung änderst – was das hier angeht, was mich angeht?«

Wieder nicke ich, ziehe ihn an mich, wenn auch nur um zu beweisen, dass ich recht hatte.

Killian ist umwerfend attraktiv. Sexy. Und auch wenn es ein absolutes Vergnügen ist, ihn zu küssen, auch wenn sein Kuss alles ist, was ein Kuss sein kann …

Killian ist nicht Braxton.

Er ist nicht der Junge, dem ich mein Herz geschenkt habe.