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MAN MUSS KILLIAN ZUGUTEHALTEN , dass er nicht mal zurückzuckt.

Keinerlei Anstalten macht, sich zu verteidigen.

Er bleibt einfach regungslos stehen, bereit, die Strafe zu akzeptieren, für die ich mich entschieden habe.

Vermutlich, weil er weiß, dass er recht hat – wenn es nicht darum geht, mich zu verteidigen, bin ich einfach nicht dazu fähig, jemanden ernsthaft zu verletzen.

Doch mir bleiben mehr als genug andere Optionen.

»Ich will, dass du aufhörst zu reden und dich hinsetzt.« Mit dem Fuß ziehe ich einen Stuhl heran und sehe zu, wie er meinem Befehl folgt.

Ich greife nach dem Musselinhemd, das er vorhin auf den Boden geworfen hat, reiße den Stoff in lange Streifen und fessle Killian damit die Hände auf den Rücken. Mit den restlichen Streifen binde ich seine Knöchel an den Stuhlbeinen fest.

»Dir ist klar, dass mich das nicht lange aufhalten wird, oder?« Er folgt mir mit dem Blick, als ich im Zimmer auf und ab gehe, versuche, mir meine nächsten Schritte zu überlegen. »Dir ist klar, dass du nur damit durchkommst, weil ich mich entschieden habe, zu kooperieren.«

»Halt die Klappe«, sage ich. »Oder soll ich dich auch noch knebeln?« Unwillkürlich muss ich daran denken, wie ich den Herzog mit seinem eigenen spitzenbesetzten Seidenhalstuch zum Schweigen gebracht habe.

»Klinge«, sagt er. »Bitte. Sei vernünftig. Ich tue absolut alles, um es wiedergutzumachen. Sag mir nur, was du willst, und ich werde es tun.«

»Aber das kannst du nicht«, erwidere ich. »Es ist passiert. Wegen dir ist mein Dad tot. Außer ich reise wirklich in die Vergangenheit und erledige dich, bevor du ihn umbringen kannst.«

Seufzend schließt Killian die Augen. Als er sie wieder öffnet, meint er: »Hör zu, das Portal geht erst morgen wieder auf. Was bedeutet, dass du momentan nirgendwohin kannst. Und es wäre mir lieber, wenn du dich am Tag des Fegefeuers der Eitelkeiten nicht allein in der Stadt rumtreibst. Ich bin mir sicher, dass wir eine Lösung finden. Wir werden doch bestimmt …«

Ich verdrehe die Augen und blende ihn einfach aus. Mag sein, dass unser Portal sich erst morgen wieder öffnet, aber es muss ein zweites Portal geben, durch das Braxton gekommen ist. Und da Cosimo wusste, wohin er seine Kutsche schicken muss, um uns abzuholen, gehe ich jede Wette ein, dass sie immer denselben Ort benutzen. Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist. Ich habe schon viel zu viel Zeit verschwendet.

»Klinge, bitte«, fleht Killian. »Deine Sicherheit ist meine Verantwortung … und … ich liebe dich.«

Fasziniert sehe ich zu, wie leicht ihm die Lüge über die Lippen kommt. Noch schockierender ist allerdings die Tatsache, dass er tatsächlich glaubt, er würde es ernst meinen.

Oder vielleicht wäre es treffender zu sagen, dass er glaubt, mich überzeugen zu können, indem er versucht, sich selbst einzureden, dass es die Wahrheit ist.

Aber was kann ein Junge wie Killian, der in Arthurs Auftrag Zeitwächter ermordet, über die Liebe wissen?

Und was kann ich darüber wissen, nachdem ich Braxton so behandelt habe – den Jungen, dem ich mein Herz geschenkt habe?

Trotzdem sehe ich Killian an und erwidere: »Wenn das wahr ist, wenn du mich wirklich liebst, dann wirst du mir nicht folgen, und du wirst Arthur nicht verraten, dass ich irgendetwas von dem weiß, was du mir heute erzählt hast.«

»Also gehst du zurück nach Gray Wolf?« Die Erleichterung in seiner Stimme ist hörbar.

»Wo sollte ich sonst hingehen?«, frage ich. »Hier kann ich ja schlecht bleiben.«

»Freya hat mir erzählt, dass du auf der Suche nach dem Buch bist, deswegen dachte ich …«

Moment – Killian weiß von dem Buch?

Hat er ihr auch erzählt, dass ich nach Italien springe? Hat Freya mir deswegen buon viaggio gewünscht, als sie mir das Frühstück gebracht hat?

»Du dachtest was?« Ich wirble zu ihm herum. Mit schnellen Schritten gehe ich zu ihm hinüber, richte die Spitze meines Dolchs auf sein Gesicht. »Sag es mir, Killian. Wenn du mich liebst, dann …«

Er verzieht das Gesicht. »Kein Grund, meine Gefühle auszunutzen. Ich sage es dir, weil es mir ernst damit ist, meinen Fehler gutzumachen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Das Buch ist zwischen meinen Sachen in der Truhe versteckt. Freya wollte es dir eigentlich geben, als sie dir dein Frühstück gebracht hat, aber sie meinte, du wärst komisch drauf gewesen, deswegen …«

Ungeduldig bedeutete ich ihm, zum Punkt zu kommen. »Was genau tut das Buch?«

»Es ist ein Buch über Magie«, erklärt er. »Die Hexen benutzen es, um durch die Zeit zu reisen.«

Ich sehe ihn an, unsicher, ob er die Wahrheit sagt.

»Wo denkst du, ist Song hin verschwunden? Und Anjou? Sie sind Teil einer Untergrundbewegung in Gray Wolf. Arthur tut sein Möglichstes, um diese Bewegung aufzuhalten, aber manches entgeht ihm trotzdem. Glaubst du wirklich, er würde einfach zulassen, dass jemand in der Zeit verlorengeht?«

»Er hat niemanden losgeschickt, um dich zu finden.«

»Weil Braxton Arthur davon überzeugt hat, dass ich tot bin. Erst als du mir über den Weg gelaufen bist, hat er die Wahrheit erfahren. Aber Klinge, diese Art der Zeitreise ist gefährlich und unberechenbar. Du solltest mich wenigstens mitnehmen.«

»Keine Chance«, sage ich. »Aber netter Versuch.«

Ich steuere unsere Suite an, als Killian ruft: »Du musst das Portal finden. Ich kann es dir zeigen.«

Ich bin dir weit voraus , denke ich, lasse Killian an den Stuhl gefesselt zurück und renne auf einen neuen Plan zu.