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Die Lebensblume.

 

IN DEM MOMENT, ALS BRAXTON DAS WORT ausspricht, bricht eine Erinnerung über mich herein, wie mein Dad mir das Tattoo in seiner Armbeuge gezeigt hat. Mehrere im gleichen Abstand platzierte ineinander verschlungene Kreise – ein Symbol, das, wie er mir erklärt hat, weit über zweitausend Jahre alt ist.

Ein Symbol, das auf der ganzen Welt gefunden werden kann – von buddhistischen Tempeln in Indien bis hin zu Steinreliefs in Schottland.

Ein Symbol, das so viele Zeichen enthält, dass sich angeblich auch das Geheimnis des Universums darin verbirgt – die Mechanismen von Zeit und Raum –, ein Beleg allen Lebens.

Ich erinnere mich daran, wie ich es betrachtet habe und dass ich je nachdem, worauf ich mich konzentriert habe, ein Blumenfeld, einen sechszackigen Stern, den Lebensbaum und vieles mehr gesehen habe.

Doch jetzt weiß ich, was es wirklich ist – die Lebensblume ist das Zeichen der Zeitwächter.

»Da war ein Mann«, sage ich. »Als ich in die Regency-Epoche gesprungen bin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er ein Zeitwächter war, aber er wusste offensichtlich nicht, dass ich auch zu ihnen gehöre.«

Braxton holt scharf Luft, wartet dann darauf, dass ich fortfahre.

»Er hatte eine Taschenuhr«, sage ich. »Eine …«

Bevor ich den Satz zu Ende bringen kann, schließt Braxton die Augen und sagt leise: »Eine goldene Taschenuhr, auf deren Rückseite die Lebensblume eingraviert ist.«

Als er die Augen wieder öffnet und meinem Blick begegnet, fügen sich die Puzzleteile plötzlich zusammen. Der Junge, den ich in der Vision gesehen habe, als ich die Uhr in der Hand hatte – der lachende, glückliche Junge mit den leuchtend blauen Augen –, das war Braxton.

Eine deutlich jüngere Version von Braxton, aber trotzdem er.

Und da erinnere ich mich auch wieder an die überraschte Reaktion des Mannes, als ich Braxtons Namen erwähnt habe. Den Schock in seiner Miene – das unüberhörbare Zittern in seiner Stimme, als er gefragt hat: Was hast du gesagt?

»Du hast also meinen Vater kennengelernt.« Braxtons Stimme ist rau, die Worte klingen so erstickt, dass er einen Moment braucht, um sich wieder zu sammeln. »Als Kind habe ich oft mit dieser Uhr gespielt.« Genau wie sein Blick driften auch seine Gedanken in eine Zeit lange vor dieser. »Er hat mir versprochen, dass sie eines Tages mir gehören würde. Aber dieser Tag ist nie gekommen.«

Meine Brust wird eng, ein scharfes Brennen versengt meine Kehle, während mein Kopf sich mit dieser unglaublichen, bedauerlichen Neuigkeit dreht.

Ich habe Braxtons Dad getroffen und …

Und ich habe ihn verletzt zurückgelassen, habe sein Handgelenk aufgeschlitzt, habe ihm meine Klinge tief ins Knie gerammt, ihm dann seine Uhr gestohlen und ihn einfach liegen gelassen.

»Du … du stammst nicht aus dieser Zeit«, keuche ich. Angesichts all der Dinge, die ich hätte sagen können – hätte sagen sollen –, kommt es mir merkwürdig vor, dass ausgerechnet diese Worte aus meinem Mund kommen. Vermutlich fühlt es sich sicherer an, den Fokus auf ihm zu lassen, bis ich eine Möglichkeit finde, die Entschuldigung in Worte zu fassen, die ich ihm schuldig bin.

»Nein.« Braxton schüttelt den Kopf. »Tue ich nicht. Jetzt weißt du es.«

Mir kommt etwas in den Sinn, was Killian mal gesagt hat, und ich frage: »Ist Braxton dein richtiger Name?«

Er lächelt sanft, definitiv nicht die Reaktion, die ich erwartet habe. Ich bin froh zu sehen, dass er noch dazu in der Lage ist.

»Jetzt schon«, antwortet er. »Angefangen habe ich allerdings als James. Braxton war mein Nachname, Huntley war der Mädchenname meiner Mutter. Ich habe diese beiden Namen im Gedenken an meine Eltern gewählt und um sicherzugehen, dass ich niemals vergesse, wo, wann und bei wem mein Ursprung liegt.«

Das ergibt Sinn. Doch dann erinnere ich mich an die Vision, die ich in Versailles gesehen habe – den Jungen, der Braxton so ähnlich sah –, aber die Zeitlinien passen nicht zusammen und genau das sage ich ihm auch.

»Das muss ein entfernter Verwandter gewesen sein«, meint er. »Ich stamme von einer langen Linie von Zeitwächtern ab und die blauen Augen und dicken braunen Locken sind ein Markenzeichen unserer Familie.«

Bebend stoße ich die Luft aus, fühle mich schrecklich, weil ich so oft an ihm gezweifelt habe – weil wir uns so oft belogen haben, obwohl wir die ganze Zeit auf derselben Seite standen. Wir sind beide Zeitwächter, die in Gray Wolf leben und von denen erwartet wird, einen Job zu erledigen, der all dem widerspricht, wofür unsere Vorfahren gekämpft haben.

»Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, dir die Wahrheit zu sagen«, sagt er. »Ich musste mich wohl erst überzeugen, dass es sicher ist – musste herausfinden, wie loyal du Arthur gegenüber bist.«

»Offenbar nicht so loyal, wie ich dachte.« Ich sehe Braxton direkt in die Augen und füge hinzu: »Ich habe die Taschenuhr mitgebracht und sie Arthur nicht gegeben.«

»Du hast sie noch?« Braxtons Augen werden groß, schimmern hoffnungsvoll.

Ich nicke. »Aber Braxton, ich …« Ich schließe die Augen, atme aus und zwinge mich dann, noch mal von vorn zu beginnen. »Ich fürchte, ich …«

Die Worte stehen alle bereit, doch obwohl ich den Mund öffne, kommt nichts heraus.

Wie kann ich ihm sagen, was ich getan habe – in was für einem blutigen, verletzten Zustand ich seinen Vater zurückgelassen habe?

Trotzdem weiß ich, dass ich keine Wahl habe. Allein unsere Lügen haben uns an diesen Punkt gebracht und der Neuanfang, nach dem ich mich gesehnt habe, beginnt jetzt, mit mir. Also schlucke ich und versuche es erneut.

»Aber um die Uhr zu bekommen«, ich will die Worte nicht aussprechen, die folgen müssen, und tue es trotzdem. »Ich habe ihn verletzt. Ich habe die Manöver benutzt, die du mir beigebracht hast, und ein paar andere, die ich mir spontan ausgedacht habe. Aber ich wusste nicht, dass er dein Vater ist. Ich wusste nicht mal, dass ich eine Zeitwächterin bin. Deswegen habe ich …« Die Worte strömen zu schnell aus meinem Mund, doch bevor ich weitersprechen kann, hebt Braxton eine Hand.

»Aber du hast ihn am Leben gelassen?« Frisches Blut quillt aus der Wunde an seinem Hals, doch als ich den Waschlappen darauf drücken will, schiebt Braxton meine Hand zurück an meine Seite.

»Ja«, sage ich. »Seine Wunden waren nicht tödlich, aber trotzdem …« Ich seufze, sehe wieder vor mir, wie sein Dad zurückstolpert, in die Knie geht.

»Aber du hast ihn nicht getötet.« Er zwingt die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe von deinem Vater behaupten.«

Ich greife nach seinem Arm, drücke die Finger in den dünnen Musselin seines Hemds, dränge ihn, mich anzusehen oder mir wenigstens zuzuhören, wenn er meinen Blick nicht erwidern kann. »Du musst damit aufhören.« Ich hoffe, dass er die Eindringlichkeit meiner Worte hören kann. »Du kannst dir nicht bis in alle Ewigkeit die Schuld an etwas geben, das nicht deine Schuld war. Ich habe die ganze Szene gesehen. Ich weiß, dass es Killian war, der meinem Dad seinen Dolch ins Herz gerammt hat.«

Natürlich füllen die grauenhaften Bilder wieder meinen Kopf, kaum dass ich diese Worte ausgesprochen habe, deswegen konzentriere ich mich schnell wieder auf den Waschlappen, doch Braxton schließt seine überraschend kalten Finger um mein Handgelenk.

»Tasha«, sagt er, seine Stimme genauso schwach wie sein Griff. »So sehr es mir auch wehtut, dir das sagen zu müssen, es ist meine Schuld. Ich war in dieser Grabkammer. Und ich habe nichts getan, um Killian aufzuhalten. Ich bin nicht mal eingeschritten, um zu helfen.«

Ich erinnere mich an die Worte, die er im Traum vor sich hingemurmelt hat: Ich habe nicht … Ich hätte … Merde … Und jetzt weiß ich, dass er die ganze Zeit von meinem Dad geträumt hat und der Schuld, die er mit sich herumschleppt.

»Aber du hast versucht, ihm zu helfen«, erinnere ich ihn. »Auch das habe ich gesehen. Leider war es schon zu spät, als du ihn erreicht hast.«

Braxton lässt meine Hand los, weist meinen Trost ab, als hätte er ihn nicht verdient. »Ihn umzubringen, war nie Teil des Plans«, sagt er. »Wir sollten ihn am Leben lassen, damit er die Sonne zurückbringen kann. Ich habe keine blasse Ahnung, was Arthur danach mit ihm vorhatte, aber er sollte nicht sterben. Und auch wenn ich mir sich bin, dass Killian damals keine Ahnung hatte, dass ich ein Zeitwächter bin, muss Arthur es gewusst oder zumindest vermutet haben.«

»Aber Arthur braucht uns«, beharre ich. »Was bedeutet, dass wir beide in Sicherheit sind, solange wir ihm nützlich sind.«

»Und was dann?«, fragt Braxton, das Blut rinnt ihm inzwischen den Hals hinunter und tropft auf sein Hemd. »Was passiert, wenn der Mechanismus wiederhergestellt ist?«

»Er wird nicht wiederhergestellt werden«, sage ich.

»Aber was ist mit dem Mond? Du hast ihn doch mitgebracht, oder?«

Ich nicke. »Und ich habe auch vor, ihn Arthur zu geben.«

Braxton betrachtet mich mit beunruhigter Miene und ich bin mir nicht sicher, ob es an dem liegt, was ich gerade gesagt habe, oder daran, dass er zu verbergen versucht, wie stark seine Schmerzen wirklich sind.

»Wieso habe ich das Gefühl, dass du etwas planst?«, fragt er.

»Weil es so ist. Die Details habe ich zwar noch nicht ganz ausgearbeitet, aber die gute Nachricht ist, dass Arthur noch weit davon entfernt ist, seinen Traum zu erfüllen. Und das allein verschafft uns Zeit, um unauffällig zu bleiben, bis wir eine Lösung gefunden haben.«

»Und Killian?« Braxton mustert mich. »Er wird zurückkehren, sobald sich das nächste Portal öffnet.«

»Aber ich habe den Klicker.« Ich hebe die Hand, zeige ihm den silbernen Ring, den Killian mir unbedingt überlassen wollte.

»Und ohne den Klicker läuft gleichzeitig mit dem Countdown des Portals auch die Energie ab, die die Verbindung herstellt.« Braxton sieht vom Ring zu mir. »Woher wusstest du das?«

»Das wusste ich nicht.« Ich zucke mit den Schultern. »Aber ich dachte mir, dass es irgendeinen Haken geben muss. Könnte man so ein Portal ohne Klicker benutzen, könnte ja jeder zufällig da durch stolpern und in die Zukunft geschleudert werden. Und obwohl ich es schlimm finde, jemanden in einem anderen Jahrhundert zurückzulassen, wenn ich daran denke, was Killian meinem Dad angetan hat …« Ich schüttle den Kopf, will lieber nicht in diese Richtung denken. »Wie auch immer, Killian ist erfinderisch. Irgendwann wird er einen Weg zurück finden. Trotzdem glaube ich nicht, dass er ein Problem darstellen wird.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragt Braxton.

»Weil er Arthur treu ergeben ist«, erkläre ich. »Er ist entschlossen, ihm dabei zu helfen, den Mechanismus von Antikythera wiederherzustellen. Aber ohne uns kann er das nicht. Sowohl er als auch Arthur ist auf uns angewiesen. Deswegen glaube ich nicht, dass er verraten wird, was in Florenz passiert ist. Das würde ihn schlecht dastehen lassen und er ist klug genug, das nicht zu riskieren.«

»Aber du weißt, dass du ihm nicht trauen kannst, oder?«, fragt Braxton.

»Er hat meinen Dad getötet.« Ich verziehe das Gesicht. »Ist das nicht Beweis genug?«

»Tasha …« Braxtons Miene ist ernst, seine Stimme plötzlich angespannt. »Ich hasse es, dich das fragen zu müssen, aber da wir endlich ehrlich miteinander sind, muss ich es wissen. Ist zwischen dir und Killian etwas passiert? Ich weiß, dass du ihn für einen Freund gehalten hast. Ich weiß, dass ihr ab und zu Zeit miteinander verbracht habt.«

Ich beiße mir auf die Lippe, doch Braxton zuckt nur mit den Schultern.

»Und das verstehe ich. Du wolltest dir deine eigene Meinung bilden. Aber … ich muss wissen, wie weit ihr gegangen seid.«