ELODIE HATTE RECHT .
Wenn es um Magie geht, ist Intention wirklich das Allerwichtigste.
Genauso wichtig wie während eines Sprungs mit der Umgebung zu verschmelzen.
Und genau aus diesem Grund finden wir uns kurz darauf in der Garderobe wieder, wo wir uns durch mehrere Kleiderstangen voller Outfits aus den späten 1990 er-Jahren wühlen.
»Saßen Jeans damals wirklich so tief?« Stirnrunzelnd betrachte ich mein Spiegelbild, versuche, mein T-Shirt bis zum Bund meiner Jeans runterzuziehen, aber es rutscht immer wieder hoch, entblößt einen breiten Streifen meines strahlend weißen Bauchs.
»Dieser Trend ist erst ein paar Jahre später so richtig eingeschlagen. Aber du, meine Liebe, bist eben eine Trendsetterin.« Elodie lacht.
»Und was ist mit meinen Haaren?«, frage ich. »Wie soll ich die tragen?«
»Ein paarmal durchs Glätteisen ziehen, dann passt das schon.« Sie klingt, als wäre sie Expertin auf dem Gebiet, und ich frage mich, ob sie schon mal in diese Zeit gesprungen ist.
»Woher weißt du das alles?«, frage ich. »Bist du mal in die Neunziger gereist?«
»Natürlich nicht«, antwortet sie. »Alles, was Arthur aus diesem Jahrzehnt wollte, konnte er sich einfach nehmen oder zumindest kaufen. Aber ich habe alle Folgen von Friends gesehen und ein paar Staffeln Sex and the City. « Mit Blick zu mir fügt sie hinzu: »Ich brauchte Referenzen. Was glaubst du, wieso ich deine Pretty-Woman -Witze sofort verstanden habe, als ich dir damals das Makeover verpasst habe?«
Sofort erinnere ich mich an den Nachmittag, an dem Elodie mir ein komplett neues Outfit samt Make-up und Frisur spendiert hat, bevor sie mich ins Arkana mitgenommen und mein Leben sich für immer verändert hat.
»Ist es falsch, dass mir das hier Spaß macht?«, fragt sie, während sie sich auch ein Outfit zusammenstellt. Ein schwarzes Kleid mit einem weißen T-Shirt darunter, dazu Stiefel mit klobigen Sohlen.
»Seit wann ist es in deinen Augen falsch, Spaß zu haben?«, erwidere ich, bewundere mal wieder, wie mühelos sie sich jedem Jahrzehnt anpassen kann. »Du bist mit Abstand die größte Hedonistin, die ich kenne.«
»Es schmeichelt mir zwar, dass du das denkst, vor allem weil ich hart dafür gearbeitet habe, aber wenn ich ehrlich sein soll, bin ich es nicht gewohnt, etwas hinter Arthurs Rücken zu tun. Und das ist jetzt schon das zweite Mal an einem Tag.«
»Es ist normal, dass Kinder irgendwann gegen ihre Eltern rebellieren«, sage ich. »Das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Man muss seine eigene Identität finden.«
»Kann sein.« Sie greift nach dem Glätteisen, sieht nach, ob es eingesteckt ist, und macht sich dann damit über meine Haare her. »Aber Arthur ist kein gewöhnlicher Vater und ich will ihn nicht enttäuschen. Ich habe ihm alles zu verdanken.«
Ich warte. Warte auf etwas, das über die Geschichte hinausgeht, dass Arthur sie aus einem üblen Kinderheim gerettet hat. Doch Elodie scheint kein Interesse daran zu haben, ihre Geschichte mit mir zu teilen. Nachdem sie meine Haare geglättet hat, macht sie sich an ihre Frisur.
»Ich meine es ernst, Nat«, sagt sie mit hörbarer Nervosität in der Stimme. »Du musst wieder hier sein, wenn er zurückkommt.«
»Das werde ich«, beharre ich, obwohl ich genau genommen keine Möglichkeit habe, das zu garantieren. Es wird so lange dauern, wie es eben dauert, und es gibt immer noch das Problem mit dem Rückweg.
»Aber wenn irgendwas passieren sollte und er herausfindet, dass …«
»Er wird nie erfahren, dass du etwas damit zu tun hattest«, verspreche ich. »Außer du sagst es ihm selbst.«
»Wieso sollte ich das tun?«, fragt sie.
»Eben.« Ich grinse.
Nachdem ich fertig angezogen bin und mein Haar mir als glatter, glänzender Schleier bis zur Taille fällt, drückt Elodie mir noch einen winzigen Rucksack in die Hand. »Angeblich waren die damals voll angesagt. Frag mich nicht wieso, denn es gibt definitiv keine gute Erklärung. Aber du wirst ihn brauchen, da diese Jeans nicht genug Platz für Taschen bietet, also musst du alles, was du mitnehmen willst, da drin unterbringen.«
Ich stopfe das Buch, den ungelesen Brief meiner Mom und das kleine Geldbündel, das Elodie mir gibt, in den Rucksack. Dann sehe ich sie an und frage: »Auf zum Magier?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Das Timing passt überhaupt nicht. Es dauert noch mehrere Tage, bis der Mond wieder in der richtigen Phase ist, und ich habe nicht den Eindruck, dass du warten willst.«
»Wozu war das dann alles gut, verdammt?«, schimpfe ich, vermute sofort, dass sie mich nur beschäftigen wollte, bis Braxton aufwacht und …
»Ich habe entschieden, dich auf die richtige Art loszuschicken«, sagt sie. »Auf die sichere Art. Zumindest können wir so wenigstens sicher sein, dass du am richtigen Ort und in der richten Zeit ankommst.«
Ich atme tief durch und nicke. Dagegen kann ich nichts sagen.
Nach einem letzten Blick in den Spiegel folge ich ihr in den Kontrollraum und genau wie ich immer vermutet habe, hat Elodie Zugang zu Teilen von Gray Wolf, die für den Rest von uns absolut tabu sind. Und als ich meinen Platz auf der Startrampe einnehme, bin ich insgeheim sehr froh, auf diese Art zu springen. Es ist wirklich sicherer. Und nach ihrer kurzen Erklärung, wie das Buch funktioniert, habe ich eine ziemlich gute Vorstellung, wie ich mir selbst einen Weg zurück bahnen kann, sollte das nötig sein.
»Das Portal wird zwei Stunden offen bleiben«, erklärt sie.
Ich drehe mich zu ihr um. »Das ist nicht ansatzweise …«
Sie hebt eine Hand. »Danach werde ich die nächsten zwei Tage jeden Tag ein weiteres Portal schicken, bis Arthur zurückkehrt. Später musst du selbst einen Weg zurückfinden.«
Ich nicke. »Und der Klicker?«
»Oh, verdammt.« Elodies Augen werden groß. »Ich kann nicht glauben, dass ich den vergessen habe. Ich bin gleich wieder da!«
Als ich sie wegrennen sehe, rumort es unangenehm in meinem Magen. Aber ich habe mich entschieden, ihr zu vertrauen, also bleibe ich stehen und hoffe einfach, dass ich nicht gerade einen gigantischen Fehler mache.
»Elodie?«, rufe ich, als ich allmählich das Gefühl habe, dass sie zu lange braucht oder zumindest länger, als mein nervöses Gehirn für angemessen hält. »El…«, setze ich erneut an, doch meine Stimme bricht, als ich stattdessen jemand anderen auf mich zukommen sehe.
Braxton.
Mit dem Verband um den Kopf und dem großen Pflaster an seiner Kehle sieht er so verletzlich aus, dass es mir fast das Herz bricht. Und als ich in seine blauen Augen sehe, frage ich mich, ob er mir diese Sache jemals verzeihen kann.
»Tasha?« Er kneift die Augen zusammen, als würde er versuchen zu begreifen, was er da sieht. »Was tust du hier? Wo willst du hin?«
Ich kaue auf der Innenseite meiner Wange. So war das ganz und gar nicht geplant. »Hast du meine Nachricht bekommen?« Ich sehe an ihm vorbei, suche mit dem Blick verzweifelt nach Elodie, doch sie ist nirgendwo zu entdecken.
»Was für eine Nachricht?«, fragt er. »Tasha, was ist hier los?«
Mein Magen zieht sich zusammen und mein Herz schlägt Purzelbäume. »Du hast die Nachricht nicht bekommen?« Meine Stimme ist schrill, panisch.
Braxton schüttelt den Kopf, offensichtlich verwirrt. Aber nicht ansatzweise so verwirrt wie ich.
»Wieso bist du dann hierhergekommen?«, frage ich.
In dem Moment weht ein leichter Wind um meine Füße und Elodie durchquert den Raum. Neben Braxton bleibt sie stehen und gesteht: »Weil ich es ihm gesagt habe.«