Der Mondgarten

Braxton

Gegenwart

KAUM TRITT TASHA VOR La Bocca della Verità , um sich dem Lügentest zu stellen, überkommt mich ein schlechtes Gewissen.

Ich wollte, dass dieser Abend etwas Besonderes ist.

Ich wollte sie mit einem privaten Abendessen überraschen, den Ohrringen, die ich aus der Renaissance mitgebracht habe, und der Neuigkeit, die ich kaum erwarten konnte mit ihr zu teilen – dass Arthur zugestimmt hat, uns zusammen nach Florenz springen zu lassen, inklusive einem kurzen Zwischenstopp in Venedig, wo wir endlich zusammen sein können.

Doch nichts an diesem Abend läuft wie geplant.

Tasha war verschlossen, schwer zu durchschauen. Zeitweise hat sie sich so tief in sich zurückgezogen, dass sie unerreichbar schien, und dann hat sie sich wieder so willig geöffnet, dass es mich all meine Selbstbeherrschung gekostet hat, sie nicht gegen diese Steinmauer zu drängen und mich endlich auf die Art mit ihr zu vereinen, nach der ich mich so sehr sehne.

Und jetzt befürchte ich, sie könnte mein Zögern als Desinteresse oder Schlimmeres verstanden haben. Dabei wollte ich sie vom ersten Moment an. Schon bei unserer ersten Begegnung wusste ich, dass sie etwas Besonderes ist – dass sie die Eine ist.

Diese wundervollen Nächte, in denen ich sie in meinen Armen halten konnte, sind ein Geschenk, das ich nicht verdiene.

Trotzdem verzehre ich mich nach diesem Mädchen.

Verdammt, ich liebe dieses Mädchen.

Und ja, mir ist klar, wie absurd das klingt, um nicht zu sagen lächerlich, wie ein hormongesteuerter Idiot, der Lust mit Liebe auf den ersten Blick verwechselt. Es gab eine Zeit, da hätte ich selbst so gedacht. Doch das war, bevor ich Tasha begegnet bin und meine Welt aus den Angeln gehoben wurde.

Ich würde alles für sie tun – doch wie sich herausstellt, kann ich ihr die eine Sache, die sie am meisten will, nicht geben: die Wahrheit.

Die Wahrheit darüber, was mit Killian passiert ist.

Die Wahrheit darüber, wieso ich wirklich hier in Gray Wolf bin.

Sie weiß, dass ich etwas verberge. Ich habe es heute Morgen in ihren Augen gesehen, als ich sie während einer Vision ertappt habe, die sie offensichtlich aufgewühlt hat.

Ist sie deswegen zu Killian gegangen? Hat sie bei ihm die Wahrheit gesucht, die ich ihr verweigere?

Nicht dass Killian überhaupt dazu fähig ist, die Wahrheit zu sagen.

Ich hätte diese Stiefel loswerden sollen, lange bevor Tasha sie finden konnte.

Ich hätte Killian erledigen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte – hätte ihn zusammen mit König Dagoberts Knochen und Tashas armem Vater in diesen Sarkophag sperren sollen.

Doch ich bin nicht wie Killian. Jemanden zu töten, liegt nicht in meiner Natur.

Außerdem, wer hätte ahnen können, dass er jemals nach Gray Wolf zurückkehrt?

Und vor allem, wer hätte ahnen können, dass ausgerechnet Tasha ihn zurückbringt?

Der Abend, als ich mit Mason zurückgekommen bin und Killian neben Tasha sitzen sah, seine Hand auf ihrem Knie – das war einer der schlimmsten Abende meines Lebens. Und seitdem gab es so viele Momente, in denen ich ihr alles gestehen wollte, ihr erzählen wollte, was wirklich im Jahr 1741 in Frankreich passiert ist.

Doch wenn ich ihr einen Teil der Geschichte erzähle, muss ich auch den Rest zugeben. Und solange wir in Gray Wolf sind, unter Arthurs wachsamem Blick, kann ich mich einfach nicht dazu überwinden.

Es geht um so viel mehr als um das, was in dieser Grabkammer passiert ist.

Aber in Italien wird alles anders sein. Sobald wir in Venedig sind, werde ich reinen Tisch machen und ihr die Entscheidung überlassen, ob sie mir verzeihen kann.

Verdammt, ich sehne mich so sehr danach, alles zu beichten, dass ich es heute Abend fast schon getan hätte. Deswegen habe ich angeboten, mich als Erster dem mittelalterlichen Lügendetektor zu stellen. Ich hatte gehofft, sie würde das Spiel nutzen, um endlich die Wahrheit einzufordern. Und einen Moment lang war ich mir sicher, sie würde es tun.

Doch letztendlich hat sie sich für den einfacheren Weg entschieden. Und auch wenn ich nicht abstreiten kann, wie erleichtert ich war, bedauere ich diese verpasste Chance.

Und nun, da sie an der Reihe ist, verraten ihre zitternde Hand, ihre unruhigen Füße, dass dies der letzte Ort der Welt ist, an dem sie gerade sein will. Als hielte sie es tatsächlich für möglich, dass ihr die unheimliche Steinfratze die Hand abbeißt.

Die einzige Wahrheit, die dadurch zutage kommt, ist jedoch nur die Tatsache, dass Tasha mehr als genug eigene Geheimnisse hat. Ich vermute, eins davon ist der Vormittag, den sie heute mit Killian in der Taverne verbracht hat.

Roxanne hat es mir verraten. Kurz nachdem ich von meinem Sprung zurückgekehrt bin und mein Zielobjekt überbracht habe. Ein Funkeln lag in ihrem eisigen Blick, als sie es ganz nebenbei erwähnt hat, als würde ihr nichts so viel Freude bereiten, wie schlechte Nachrichten zu überbringen.

Natürlich bin ich nicht darauf eingegangen, habe so getan, als wäre es mir egal. Ich habe mich geweigert, ihr die Befriedigung der Gewissheit zu geben, wie leicht sie mir den Boden unter den Füßen wegreißen konnte.

Ich hasse den ganzen Tratsch in Gray Wolf. Und Roxanne habe ich noch nie vertraut, vermutlich weil sie oft verantwortlich für diesen Tratsch ist.

Außerdem war ich überzeugt, dass Tasha mir selbst davon erzählen würde. Doch obwohl ich ihr während des Abendessens mehrere Gelegenheiten dazu gegeben habe, ist sie jedes Mal ausgewichen.

Was nur bedeuten kann, dass Tasha mir nicht genug vertraut, um mir die Wahrheit zu sagen. Und diese Erkenntnis zerreißt mir das Herz.

»Bereit, wenn du es bist«, sagt sie. Das Beben in ihrer Stimme verrät ihre Angst.

Ich muss mich beherrschen, nicht zu ihr zu gehen, sie fest an meine Brust zu drücken und sie nie wieder loszulassen.

Wir können uns gegenseitig vor dieser kaputten Welt abschirmen, die Arthur erschaffen hat.

Und irgendwann, hoffentlich bald, können wir sie gemeinsam niederbrennen.

Doch für den Moment, in dieser stürmischen Nacht, stehen unsere Lügen zwischen uns und daran trage allein ich die Schuld.

Obwohl ich nicht vorhabe, sie nach Killian zu fragen, habe ich nach meinem Lügentest versucht, die Stimmung zu lockern, indem ich scherzhaft meinte, dass ich nur mit harten Bandagen kämpfe. Doch als ich Tashas alarmierten Blick gesehen habe und ihre Wangen, die plötzlich noch blasser waren als das Mondlicht, ist mein schlechtes Gewissen nur noch stärker geworden.

Also habe versucht, ihr die Sorge zu nehmen, habe ihr versichert, dass es nichts zu befürchten gibt. Und obwohl ihr die Lust auf diese Sache ganze eindeutig vergangen ist, hat sie schließlich tief Luft geholt, ihre Hand in das klaffende Maul geschoben und wappnet sich jetzt für meine Frage.

Genau in dem Moment, als ich sie ausspreche, kracht Donner über unseren Köpfen, direkt gefolgt von einem grellen Blitz, der den Himmel brennen lässt.

Als ein weiterer ohrenbetäubender Donnerschlag die Nacht zerreißt, weiß ich, dass es an der Zeit ist, dieses Spiel zu beenden.

Ich gehe auf sie zu, bis ich so dicht vor ihr stehe, dass ich die blauen Flecken in Form von Fingern auf ihrem rechten Arm sehen kann. So nah, dass ich den langen Kratzer deutlich erkenne, der sich über ihre Kehle zieht.

Was um alles in der Welt ist ihr zugestoßen?

Meine Gedanken wandern zurück in die alte Grabkammer, zu den widerlichen Hüftbewegungen, die Killian gemacht hat, den grotesken Zungenstößen, als er demonstriert hat, was er mit Tasha tun würde, sollte er sie jemals in die Finger bekommen.

Wenn er für diese Wunden verantwortlich ist, werde ich ihm sämtliche Glieder ausreißen und …

Ein weiterer Donnerschlag erschüttert den Himmel und ich richte meinen Blick wieder auf dieses wunderschöne Mädchen – die einzige Person, die mir wirklich etwas bedeutet. Und ich weiß, es ist allein meine Schuld, dass sie immer noch an mir zweifelt. Unglaublich, was für eine verfahrene Situation ich geschaffen habe.

Der Himmel öffnet seine Schleusen, lässt eine Sintflut aus Regen auf das Glasdach über uns prasseln. Und als ich meine Frage wiederhole, kann ich regelrecht zusehen, wie die Anspannung von ihr abfällt.

Wie’s aussieht, sind wir beide leicht davongekommen. Unsere Lügen haben eine weitere Nacht überlebt.

Nachdem es endlich vorbei ist, ziehe ich sie in meine Arme, wo ich sie schon die ganze Zeit haben will. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer entscheide ich, es ihr einfach zu sagen.

Es ist mir egal, dass Arthur mithören könnte. Wenn ich dadurch diese schreckliche Kluft zwischen uns schließen kann, nehme ich das Risiko gern in Kauf. Schließlich habe ich mir diesen Mist selbst eingebrockt.

Doch bevor ich dazu komme, sagt Tasha, dass ich lieber nicht mit reinkommen soll, weil sie sonst nicht auf Venedig warten kann. Also verschließe ich alles für ein paar weitere Tage in mir.

Es macht nichts , tröste ich mich, als ich in mein Zimmer zurückkehre. Bald sind wir in Italien, nur wir beide, wo weder Arthur noch Killian uns in die Quere kommen können.

Bald werde ich ihr alles sagen – ihr jedes noch so kleine Detail verraten.

Und nachdem es getan ist, nachdem ich alles ausgesprochen habe, bleibt mir nur noch, zu beten, dass sie mir verzeihen kann.