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Der graue Weg
Bei meinem Volk nennt man den Übergang zwischen Leben und Tod den grauen Weg. Ein düsterer Ort, an dem jeder Magier irgendwann auf die drei Donnerschläge warten muss, die ihn vor das Gericht unserer Ahnen rufen.
Das ist unfair!, dachte ich noch, als die Welt vor meinen Augen ins Schwanken geriet, als ich nach hinten fiel wie ein von der Sichel des Gärtners abgemähter Grashalm. Schlimm genug, dass ich starb, aber musste es auch noch auf eine so unglaublich demütigende Art und Weise geschehen, umgebracht von der eigenen Schwester? Ich war noch nicht mal sechzehn Jahre alt. Ich hatte noch nie ein Mädchen geküsst. Genau genommen hatte ich aus meinem Leben noch so gut wie nichts gemacht. Ich hinterließ keine Legenden über große Taten, mit denen ich von unseren Ahnen, den ersten Magiern, meinen Platz in den Nachwelten einfordern konnte.
Ich vernahm einen dumpfen Schlag, wahrscheinlich, als ich auf dem Sandboden der Oase aufschlug, und versuchte (heldenhaft, wie ich fand), Luft zu holen. Es gelang mir nicht.
Sollte ich die Ahnen anlügen? Ihnen irgendwelche Geschichten erzählen, in denen ich feindliche Magier besiegte oder kleine Tiere rettete? Aber vermutlich ließen sich Gottheiten nicht so leicht reinlegen. Abgesehen davon hatten mir meine Lügen in letzter Zeit nicht viel geholfen.
Die verehrten Ältesten meines Clans behaupten, die Wiedergeburt sei die Strafe der Götter für die Sünden eines erbärmlichen Lebens, und die Bestrafung bestehe darin, dass man irgendwo weiter unten auf der Leiter des Lebens wiedergeboren wird, zum Beispiel als Ratte oder als Farnbüschel. Aber so, wie ich bis jetzt noch nichts Bedeutendes geleistet hatte, so hatte ich auch noch keine bedeutenden Sünden begangen. Darum kam ich zu dem unvermeidlichen Schluss, dass ich den grauen Weg nur durchqueren würde, um als schwächlicher Jan’Tep ohne jegliche Magie zurückgeschickt zu werden und noch mal von vorn anfangen zu müssen. Bitte, bitte, lasst mich nicht so enden!
Die Ältesten hätten mich für diese unverschämten Gedanken gerügt und mich daran erinnert, dass der graue Weg eine Phase des Friedens und der Wärme ist, in der ein sterbender Magier die besänftigenden Klänge von Musik hört und die Stimmen derjenigen, die er am meisten bewundert, seinen Namen preisen.
Und ich? Ich hörte nur Geschrei aus allen Richtungen. Osia’phest war der Lauteste. Erst brüllte er die anderen Schüler an, dass sie ihm Platz machen sollten, dann intonierte er einen Zauberspruch, der, wenn ich richtig hörte, aus denselben Silben bestand wie der, mit dem Köche Lebensmittel haltbar machen. Osia’phest ist ein netter Kerl, aber nicht unbedingt der mächtigste Magier aller Zeiten. Seine Stimme klang schrill und verzweifelt, was immer schlecht ist, denn Hohe Magie erfordert Gelassenheit und Konzentration.
Steh auf, redete ich mir selbst gut zu. Atme. Sonst macht er aus dir eine verschrumpelte Aprikose. Steh auf!
Auch Panahsi schrie – und zwar nach einem Heiler. Offenbar traute er Osia’phest noch weniger zu als ich.
Nur eine Stimme war leiser und klang fast besänftigend. »Versuch zu atmen, Kellen! Du musst atmen!«, rief mir Nephenia zu und wiederholte den Satz immer wieder, als könnte sie mich durch bloße Wiederholung dazu bewegen.
Liebste Nephenia, damit richtest du überhaupt nichts aus, dachte ich. Versuch’s lieber mit einem Kuss, vielleicht bringt der mein Herz wieder zum Schlagen. Zumindest hätte ich den Ahnen dann etwas zu berichten. Wenn ich noch über die erforderlichen Körperfunktionen verfügt hätte, hätte ich über mich selbst gelacht. Wer hätte gedacht, dass nicht mal der Tod meine jugendliche Begierde ersticken konnte?
»Er wird schon blau«, sagte jemand, was für noch mehr Geschrei sorgte.
Die einzige Stimme, die sich nicht an dem Lärm beteiligte, war die meiner Schwester Shalla, aber ich hätte schwören können, dass ich sie atmen hörte.
Als wir noch klein waren und uns ein Zimmer teilten, wusste ich immer, wenn Shalla einen Albtraum hatte. Sie atmete dann auf ganz besondere Art … schnell und flach, als würde sie einen Berg hinaufrennen. Als ich sie jetzt wieder so atmen hörte, verspürte ich den absurden Wunsch, wie damals ihre Hand zu nehmen und sie zu trösten. Wie damals, als noch keiner von uns beiden über irgendwelche magischen Fähigkeiten verfügte und wir abends lange wach blieben und uns darüber unterhielten, wie mächtig wir später, wenn wir groß wären, einmal sein würden. Damals mochte ich sie wesentlich lieber als heute. Wahrscheinlich ging es ihr mit mir genauso.
Wie lange liegt mein letzter Herzschlag schon zurück? Eine Minute? Zwei Minuten? Wie lange kann man überleben, ohne dass das Blut zirkuliert? Und wenn das hier der graue Weg sein soll, warum muss ich dann so lange rumstehen, jedenfalls im übertragenen Sinne?
Die Ältesten versprechen uns, dass uns im Sterben diejenigen Personen erscheinen, die wir am meisten geliebt haben und die uns ihrerseits geliebt haben. Auch das stellte sich als Übertreibung heraus. Mir erschien lediglich eine lodernde Glut, die keine Gestalt annahm. Das ist die Sonne, wurde mir klar. Als ich auf dem Boden aufgeschlagen war, hatte mein Kopf nach Westen geschaut, und jetzt blickte ich direkt ins schwindende Sonnenlicht. Das würde auch erklären, warum es so in den Augen brennt.
Andererseits legte der Umstand, dass ich überhaupt noch etwas anderes empfand als nur den Stillstand meines Herzens, den Schluss nahe, dass Osia’phests Zauber vielleicht doch gewirkt hatte.
Das bernsteingoldene Licht verschwamm und ich konnte den Umriss von Shalla erkennen, die vor mir kniete. Das Brennen in meinen Augen ließ ein wenig nach. Immerhin hatte meine Schwester geistesgegenwärtig erkannt, dass ich erblinden würde, wenn ich ohne zu blinzeln in die Sonne starrte. Als ihr Gesicht deutlicher wurde, sah ich darin Angst und Sorge … und noch etwas anderes. Enttäuschung. Erst bringt sie mich um und dann ist sie enttäuscht, weil ich tot bin.
Eine eigentümliche Ruhe überkam mich. Das ist wahrscheinlich nicht ungewöhnlich, denn die Symptome von Panik – rasender Puls, schneller Atem oder Schweißausbrüche – verlangen alle nach einem intakten Herzschlag.
Osia’phests Stimme, die den Spruch bis zum Überdruss wiederholte, riss mich aus meinen Gedanken. Je mehr ich mich auf sein Gesicht konzentrierte, desto weniger konnte ich irgendwas erkennen. Wird es dunkler?
»Der Schutzzauber lässt nach!«, sagte Panahsi erschrocken.
»Ich kann nicht mehr. Wir brauchen die Heiler. Sofort.« Osia’phest war schon ganz heiser.
»Versucht es mit einem Bluteinklangszauber!«, forderte ihn Panahsi auf. »Damit sein Herz wieder schlägt!«
»Ich kann nicht«, erwiderte Osia’phest. »Dazu müsste ich sein Herz an meines binden, und dafür bin ich zu alt.«
»Ihr habt bloß Angst!«
»Zu Recht, du Dummkopf! Wenn ich jetzt sterbe, verfliegt der Zauber, der ihn schützt, ganz und gar.«
Shalla gab sich einen Ruck. »Dann übernehme ich das eben. Zeigt mir, wie es geht.«
»Kommt nicht infrage«, antwortete er gepresst, dann vernahm ich neben mir einen dumpfen Aufprall.
»Meister Osia’phest?«, rief Shalla schrill.
»Der alte Narr ist ohnmächtig geworden«, sagte Panahsi. »Er konnte den Zauber nicht mehr halten.«
Na toll!, dachte ich. Ich bin von lauter Magiern umgeben, aber keiner kann mich retten.
Jemand weinte. Das Schluchzen klang wie Regentropfen, die in einen tiefen Brunnen fallen. Wo bleibt die tröstende Musik, die uns die Ältesten versprechen? Wo bleiben die Stimmen, die meinen Namen preisen?
Ich hörte das Trampeln von Stiefeln. »Weg da, ihr Volltrottel!«, knurrte eine Frauenstimme. Ihr knatschender Akzent hörte sich nicht nach Jan’Tep an und klang so lustig, dass ich am liebsten gelacht hätte. »Wenn ihr nicht sofort Platz macht, könnt ihr die ganze nächste Woche eure eigene Haut von euren schicken Klamotten runterkratzen.«
Etwas Leichtes, Pudriges rieselte auf meine Haut. Ob sich so Schnee anfühlte? Erst kitzelte es, dann brannte es, bis es schließlich so heftig juckte, dass ich fast verrückt wurde.
»Tut mir leid, Kleiner«, raunte die Frau mir zu. »Das wird jetzt kein Spaß für dich.«
Das Jucken erfasste meine Augen und ganz kurz sah ich wieder klar. Die Frau beugte sich über mich. Sie hatte ein kantiges, aber anziehendes Gesicht, das von langen roten Haaren umrahmt wurde. Nur eine einzelne weiße Locke lugte unter ihrem Grenzerhut hervor. So einen Hut hatte ich schon einmal bei den Reitern der Daroman gesehen, als sie hinter ihren Viehherden herzogen. In letzter Zeit bekamen wir allerdings kaum noch Daroman auf unserem Land zu Gesicht. Die Frau mit dem Hut trug ein schmuddeliges weißes Hemd und darüber eine schwarze Lederweste. Aus ihrem Mund ragte eine Art Stäbchen mit einem glühenden roten Lichtpunkt an der Spitze, von dem kleine graue Wölkchen aufstiegen. Ein Rauchstängel? Wer raucht denn in Gegenwart eines Kranken? Und bei allen Göttern – warum hört dieses verflixte Jucken nicht auf?
Es gab ein kleines Gerangel, als Shalla sich zu mir durchdrängelte. »Wer bist du? Wisch das Zeug ab! Er ist –«
»Hau ab, Mädel«, erwiderte die Frau und schubste meine Schwester weg. Dann wandte sie sich wieder mir zu. »Das Jucken kommt von einem Pulver, das deine Nerven reizt. Der dämliche Zauber, den der Alte gebrabbelt hat, hätte dir höchstens Lähmungen und einen Hirnschaden beschert.« Wie als Nachsatz fügte sie hinzu: »Wobei natürlich alle Jan’Tep zumindest einen kleinen Hirnschaden haben, das steht ja wohl fest.«
»Er braucht wahre Magie, nicht irgendeinen Grenzland-Hokuspokus«, schimpfte Shalla.
»›Wahre Magie‹ – ha!«, schnaubte die Frau und konzentrierte sich wieder auf mich. »Ich weiß, wie unangenehm das ist, Jungchen, aber falls es dich beruhigt – das, was jetzt kommt, tut richtig weh.«
Etwas krachte auf mich nieder, als wollte sie mich in den Boden rammen. Dann ballte die Frau abermals die Fäuste und holte aus.
»Aufhören!«, schrie Shalla. »Du bringst ihn ja um!«
Dafür hast du schon gesorgt, Schwesterchen. Andererseits würde ich als ziemlich übel zugerichteter Leichnam enden, wenn das hier so weiterging. Vielleicht konnte ich ja diese Erfahrung in eine Geschichte verwandeln, die den Ahnen so gut gefiel, dass sie mich einließen. Da lag ich also am Boden, Eure Göttlichkeiten, und diese Irre drosch unerbittlich auf mich ein.
»Wenn du nicht sofort aufhörst, wirke ich einen Fesselbann!«, sagte Shalla drohend.
»Du gehst mir langsam auf die Nerven, Mädel.« Die Frau schlug ein drittes und dann ein viertes Mal auf meine Brust ein. Dann beugte sie sich vor und ich spürte etwas Weiches, Feuchtes auf den Lippen. Ein sonderbares, aber nicht unangenehmes Gefühl. Küsste sie mich gerade? Die Götter haben wirklich einen seltsamen Humor.
Anscheinend mochten es die Götter aber nicht, wenn man sich über sie lustig machte, denn im nächsten Augenblick war der Kuss auch schon vorbei und die Schläge setzten wieder ein. Allerdings schmerzten sie nicht mehr ganz so heftig wie vorher und das Jucken war ganz verschwunden. Ehrlich gesagt spürte ich überhaupt nichts mehr. Das war’s dann wohl … ich sterbe.
Wenn man das Ende des grauen Weges erreicht, ertönt ein dreifacher Donnerhall, der einen zum Gericht ruft. Diesen Donner hörte ich jetzt.
Beim ersten Mal klang er wie ein lautes Krachen, gefolgt von einem stechenden Schmerz in meiner linken Seite. Eine meiner Rippen war gebrochen.
Der zweite Donner war eher ein lautes Dröhnen, das irgendwo tief aus meinem Inneren kam. Mein Herz hatte seinen ersten streitlustigen Schlag getan.
Ich lebe noch!, schoss es mir durch den Kopf, als sich mein Brustkorb ausdehnte. Ich atme! Absurderweise galt mein nächster Gedanke dem, was ich sagen könnte, wenn ich wieder aufstand – irgendetwas, das sich geistreich und tapfer anhörte. Und der dritte und letzte Donnerschlag war ein lautes Gebrüll, das die Luft zerriss und uns alle wegzufegen drohte.
Es war natürlich kein richtiger Donner, so wie auch die beiden Schläge zuvor nicht. Es war die Stimme meines Vaters.
Sie klang sehr, sehr zornig.
Wie es aussah, waren die Götter bereit, ihr Urteil über mich zu fällen.