8
Abydos
Ich verbrachte fast den ganzen Nachmittag und Abend in meinem Zimmer, schlief viel, wurde wieder wach und starrte zwischen diesen beiden Zuständen die kleine Leuchtkugel an, die ich immer noch fest in der Hand hielt. Selbst wenn ich mich so intensiv konzentrierte, dass ich fast in Ohnmacht fiel, konnte ich ihr nicht mehr als einen schwachen Schimmer entlocken, der es höchstens mit einer Miniaturkerze hätte aufnehmen können. Schließlich warf ich die Kugel an die Wand, doch sie besaß nicht mal den Anstand zu zerbrechen. Wieder eine vergeigte Prüfung. Kein Bote würde kommen und mir die goldene Scheibe überbringen, das Symbol dafür, dass ich die erste Prüfung endlich bestanden hatte.
Stundenlang lag ich so im Bett, streckte die Arme in die Luft und versuchte, die eintätowierten Siegel meiner sechs Bänder endlich per Willenskraft aufzubrechen, sie zu entfachen, die magischen Zeichen zum Leuchten zu bringen. Ich hatte mir die Aussprache einer jeden Formel eingeprägt, beherrschte sämtliche Gebärden. Ich konnte das Abbild eines Zaubers klar und deutlich vor meinem inneren Auge aufrechterhalten, sogar inmitten eines tobenden Gewitters. Es half alles nichts. Die Bänder wollten sich einfach nicht entfachen lassen.
Irgendwann überwältigten mich Enttäuschung und Verbitterung so sehr, dass ich, obwohl ich genau wusste, dass es nichts nützte, so lange mit den Fingernägeln an den Bändern herumkratzte, bis es blutete. Doch weder Kratzen noch Schneiden konnte die Bänder zum Leben erwecken. Das konnte nur Magie. Magie und innere Stärke. Die beiden Eigenschaften, die ich nicht besaß.
Ich biss in meine Decke, damit mich meine Eltern – oder gar Shalla – nicht weinen hörten. Still und stumm wütete ich gegen die ganze Welt, bis ich mich schließlich zu zwingen versuchte, mein Schicksal zu akzeptieren und mir mein Leben als Sha’Tep-Diener auszumalen. Doch gegen Abend kam ich zu dem Schluss, dass weder Bockigkeit noch Unterwürfigkeit zu meinem Temperament passte.
Ich musste etwas unternehmen. Mein Vater hatte mich einen Lügner genannt. Einen Schwindler und Betrüger. Wenn ich das alles war, konnte ich mir die Macht eines Magiers ebenso gut mit Lügen und Betrügen erschwindeln, denn so konnte es auf gar keinen Fall weitergehen. In meinem Volk gab es viele Geschichten über die Clans der Mahdek, die ihre Magie von ihren Göttern oder Geistern gestohlen hatten oder todbringende Tränke schluckten und geheime Rituale durchführten, damit sich ihnen mächtige Zauber offenbarten. Da sie aber ein Volk von Dieben waren, waren die Mahdek nicht unbedingt die Helden dieser Geschichten. Na und? Dann bin ich eben der Erste.
Als es klopfte, kam ich wieder zur Besinnung.
»Herein«, sagte ich. Eigentlich wollte ich niemanden sehen, mir aber auch nicht anmerken lassen, wie aufgewühlt ich war.
In meinem Zimmer brannte kein Licht, deshalb dauerte es einen Augenblick, bis ich erst Hände, dann ein Tablett und schließlich Abydos erkannte. Onkel Abydos,
wie ich mir in Erinnerung rief.
»Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen«, sagte er leise.
Ich wunderte mich ein wenig darüber, dass er mir etwas brachte. Mein Vater war der Meinung, dass Mahlzeiten immer gemeinsam mit der Familie eingenommen wurden, und wenn Shalla oder ich in unseren Zimmern schmollen wollten, mussten wir eben hungern. Gestern Abend war ich krank gewesen, das zählte als Ausnahme. Aber heute? »Weiß mein Vater, dass du mir das Abendessen bringst?«
Abydos stellte das Tablett auf das Tischchen in der Ecke und setzte sich auf den Stuhl, der schon für mich zu klein war. Er sah darauf aus wie ein Riese. Abydos hob den Warmhaltedeckel aus gebranntem Ton hoch, unter dem ein Teller mit köstlich duftendem Lammbraten stand. »Die Familie hat bereits zu Abend gespeist, Meister Kellen. Das hier ist mein Abendessen, das ich einnehmen darf, wo es mir beliebt.«
»Und du möchtest hier in meinem Zimmer essen?«
»Stört es dich?«
Ich schwang mich aus dem Bett und ging zum Tisch. Meine verschwitzten Kleider vom Vortag fühlten sich rau und steif an. Ein zweiter Blick auf das Tablett verriet mir, dass sich Abydos eine ungewöhnlich große Portion aufgetan hatte. Und mir fiel noch etwas anderes auf. »Du hast ja zweimal Besteck dabei.«
»Hm?« Er blickte mit gespieltem Erstaunen auf das zusätzliche Paar Messer und Gabel. »Nanu – wie konnte das denn passieren?« Dann betrachtete er den vollen Teller. »Anscheinend waren meine Augen heute größer als mein Magen. Das schaffe ich allein gar nicht. Wenn du mir ein bisschen helfen willst …«
Ich griff nach dem Besteck und grinste, aber eher, um Abydos eine Freude zu machen, als aus echter Begeisterung. Doch sogar eine gespielte gute Laune war besser, als allein im Zimmer zu hocken und eine dunkle Leuchtkugel anzustarren.
Anfangs aßen wir schweigend. Normalerweise hatte ich nicht viel mit Abydos zu tun. Er war mir immer wie ein recht einfacher Mann vorgekommen – ganz anders als sein Bruder, mein Vater. Doch als ich ihn jetzt so gleichmütig dasitzen und essen sah, fielen mir gewisse Ähnlichkeiten auf. Die Brüder waren vom Alter her nicht weit auseinander, Abydos konnte höchstens ein, zwei Jahre jünger sein als mein Vater. Er hatte den gleichen Teint und die gleiche imposante Statur, nur strahlte er nicht die gleiche Macht und Dominanz aus. Er wirkte eher so, wie ich mir einen Daroman-Bauern oder einen Berabesk-Krieger vorstellte. Harmlos. Unscheinbar. Gewöhnlich. Oder kam er mir nur deshalb so vor, weil er keine Magie besaß?
»Hast du schon immer gewusst, dass du ein Sha’Tep bist?«, fragte ich ihn. Dass die Frage eigentlich unhöflich war, war mir bewusst, aber die Antwort war mir auf einmal sehr wichtig.
Mein Onkel nahm es erstaunlich würdevoll. »Ich glaube schon«, sagte er und richtete den Blick in unbestimmte Ferne. »Als Kind konnte ich ein bisschen zaubern. So dicht an der Oase sind ja die meisten von uns dazu in der Lage, aber meine Fähigkeiten schwanden, als mein Namensjahr näher rückte.«
Das Gleiche passierte gerade mit mir! Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg, als würde meine Seele verzweifelt um Hilfe schreien. Da stimmt doch etwas nicht! Ich bin zum Magier bestimmt, so wie Mutter,
Vater und Shalla! Ich bin kein nutzloser Sha’Tep wie …
Abydos sah mich an. Sein Blick war freundlich und geduldig. Die Scham erstickte mein Entsetzen und meine Wut, ich atmete wieder ruhiger, aber die unterschwellige Verzweiflung blieb. »Als deine Magie nachließ … hast du … hast du da versucht, dich dagegen zu wehren?«
Abydos streckte mir die Unterarme hin, auf denen die farbigen Bänder verblasst, aber noch zu erkennen waren. »Ich habe die Dinger stundenlang angestarrt und die Geister der Ahnen angefleht, sie für mich zu entfachen.« Er fuhr sich mit dem Fingernagel über den Unterarm. »Ich habe sogar mal versucht …« Abydos schüttelte den Kopf. »Als Junge hatte ich manchmal verrückte Einfälle.« Er machte sich wieder über sein Essen her.
»Erzähl mir davon«, bat ich, doch der Schatten, der über sein Gesicht huschte, verriet mir, dass es wie ein Befehl geklungen hatte. »Ich meine … ich habe gelesen, dass … Ich habe andere Schüler darüber reden gehört, dass man die Bänder mithilfe von Kupfersulfiden aufbrechen kann und …«
Abydos lächelte, schluckte ein Fleischstück hinunter und legte dann Messer und Gabel auf das Tablett. »Ach ja, die Geschichten von irgendwelchen Tränken aus den Metallen, die wir unter der Oase abbauen … Zauberkräftige Mixturen, gebraut von drei edelmütigen jungen Magiern, die gemeinsam einen Teil ihrer eigenen Magie opfern … Kannst du dir vorstellen, dass deine Mitschüler so etwas für dich tun würden, Kellen?«
»Warum denn nicht …?« Die Frage erstarb auf meinen Lippen. Die Antwort kannte ich bereits. Magie war der kostbarste Besitz meines Volkes. Wer würde freiwillig etwas davon hergeben? Trotzdem hatte Abydos ziemlich treffend beschrieben, was ich mir heimlich ausgemalt hatte. Panahsi besaß so viel Talent, dass ich mir Hoffnungen gemacht hatte, er könne mir etwas davon abgeben. Meine Schwester, wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte und ich sie lange genug bearbeitete … Hör zu, Shalla, du bist doch so mächtig – du besitzt doch mehr Magie als unser ganzer Clan zusammen!
Ein abwegiger Plan zwar, aber wie ich letzte Nacht von Ferius gelernt hatte, als sie mir ein höchst sonderbares Spiel namens »Poker« beigebracht hatte: Manchmal musste man eben die Karten ausreizen, die einem ausgeteilt wurden.
»Vergiss es«, riss mich Abydos aus meinen Tagträumen. »Diesen Blick habe ich schon bei unzähligen Schülern gesehen, aber für jede Legende über einen Magier, der seine Macht mittels dunkler Magie erlangt, gibt es hundert wahre Geschichten über solche, die bei dem Versuch ihr Leben ruiniert haben. Wer es darauf anlegt, größere Macht zu erlangen, als ihm die Geister unserer Ahnen freiwillig gewähren, zahlt einen hohen Preis.«
Unwillkürlich kam mir etwas in den Sinn, was mein Vater gestern gesagt hatte.
»Ist es das, was mit meiner Großmutter passiert ist?«, fragte ich. »Hatte sie wirklich den Schwarzschatten?«
Diese Frage hätte jeden schockiert. Ich glaube, auch Abydos traf sie unvorbereitet, doch er zögerte nur eine Sekunde, ehe er antwortete: »Sie bekam eine Krankheit«, sagte er fast geistesabwesend, tippte sich mit dem rechten Zeigefinger aufs Gesicht und malte ein Muster auf seine Wange. »Schwarz schillernde Male, die im Lauf der Zeit immer größer wurden, genauso wie die Dunkelheit in ihr.«
»Das verstehe ich nicht. Welche Dunkelheit? Was meinst du damit?«
Abydos lehnte sich zurück. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich, er zog die Brauen zusammen. »Sie ergriff einfach von ihr Besitz. Eine … eine Hässlichkeit tief in ihr veränderte sie. Bis sie irgendwann zu einer ganz anderen Frau wurde als die Mutter, die ich als Kind gekannt hatte. Am Ende war es die Aufgabe deines Vaters, ihr Einhalt zu gebieten.«
Die Worte meines Vaters hallten in meinen Ohren wider: Es ist nicht nur mein Recht, sondern es obliegt auch meiner Verantwortung, unsere Familie und unseren Clan vor einem weiteren aus der Art geschlagenen Magier zu schützen
. Und in Bezug auf Shalla hatte er hinzugesetzt: Wenn es sein muss, versiegle ich ihre Bänder für immer, das lasst euch gesagt sein!
»Ich verstehe es immer noch nicht!« Ich wurde ein bisschen lauter. »Mutter ist doch Heilerin! Warum hat sie da nicht –«
»Davon kann man nicht geheilt werden. Wenn es stimmt, was die Meister sagen, nämlich dass der Schwarzschatten ein Fluch ist, mit dem uns die Mahdek in ihren letzten Tagen belegt haben, bevor sie unserer Magie zum Opfer fielen, dann bezweifle ich, dass irgendeiner unserer Zauber die Krankheit aufheben kann. Wir können den Infektionsherd lediglich herausschneiden, ehe sich die Seuche ausbreitet.« Er legte mir die Hand auf die Schulter, was für ihn sehr ungewöhnlich war. »Halt dich nicht mit der Vergangenheit auf. Die Gegenwart birgt mehr als genug Gefahren.«
Ich musste wieder an Ra’meth und seine Söhne denken. Hätten sie Vater getötet, wenn sich Ferius nicht eingemischt hätte? »Spielst du auf Ra’meth an?«
Er widmete sich wieder seinem Essen. »Nicht, wenn dein Vater Fürst wird.«
»Wird er das denn? Das Haus Ra hat viele Unterstützer. Wenn nun …?«
Abydos führte gerade eine volle Gabel zum Mund. Er hielt inne und sah mich verwundert an. »Ist deinem Vater schon jemals etwas nicht
gelungen?«
Auch wieder wahr. Andererseits zweifelte ich daran, dass Abydos irgendetwas von der Politik der Jan’Tep verstand. Bevor mir einfiel, wie ich diese Überlegung einigermaßen höflich formulieren konnte, öffnete sich die Zimmertür wieder. Diesmal war es Shalla.
Ich hätte mir denken können, dass sie kommen würde. Fast ein ganzer Tag war vergangen und sie dachte bestimmt, dass mein unberechtigter Groll inzwischen verraucht wäre. »Hör mal, Kellen, ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber ich …« Erst jetzt schien sie unseren Onkel wahrzunehmen. »Was machst du denn hier, Abydos?«
»Zieh Leine, Shalla«, sagte ich.
Abydos sah mich streng an. Normalerweise hätte ich es absurd gefunden, von einem Sha’Tep gerügt zu werden, aber andererseits war es gut möglich, dass ich mir schon bald jeden Morgen bei ihm die Arbeitsaufträge für den Tag abholen musste. Er drückte meine Schulter und lächelte mich an. Dabei strahlte er echte Herzlichkeit aus, womöglich mehr, als ich es von meinen Eltern gewohnt war.
»Ich wollte sowieso gerade gehen«, sagte er, stand auf und griff nach dem Tablett mit dem immer noch halb vollen Teller. Doch dann wandte er sich an mich: »Entschuldige, aber ich muss noch ein paar wichtige Dinge erledigen. Würde es dich sehr stören, wenn ich mein Tablett noch kurz hier stehen lasse?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern ging eilig zur Tür.
»Vielen Dank, Ab… Ich danke dir, Onkel«, erwiderte ich.
Er drehte sich um und lächelte mich mit traurigen Augen freundlich an.
»Onkel?«, fragte Shalla verdutzt und ließ sich auf dem Stuhl nieder, den Abydos soeben freigemacht hatte.
»Was willst du?«, fragte ich zurück.
»Ich …« Sie zögerte erstaunlich lange. »Ich wollte bloß mal nachsehen, ob es dir gut geht.«
Warum fragen die Leute immer solche Sachen? Wie ich sehe, ist dir der Arm abgefallen. Geht’s dir gut? Ach, hallo, ich habe gehört, deine
ganze Familie ist neulich verbrannt. Geht’s dir gut?
Meine Magie schwand immer mehr dahin und in wenigen Wochen würde man mich zu den Sha’Tep verbannen. Von diesem Augenblick an würde mir meine Schwester nicht mehr Respekt entgegenbringen als unserem Onkel. Darum hätte die angemessene Erwiderung gelautet: Nein, es geht mir nicht gut. Mir wird es nie wieder gut gehen und daran bist
du schuld, Shalla!
Noch vor fünf Jahren, als wir Kinder waren, hätte ich das Tablett genommen und ihr alles, was daraufstand, über den Kopf gekippt. Sogar noch gestern hätte ich sie angebrüllt, bis das Dach gewackelt hätte, weil sie mitgeholfen hatte, mein Leben zu ruinieren. Aber heute war heute und ich konnte mir so ein Verhalten nicht mehr erlauben. Ich musste an meine Zukunft denken.
»Musst du dich nicht auf deine eigenen Prüfungen vorbereiten?«, wechselte ich rasch das Thema.
Sie öffnete die Hand und zeigte mir die goldene Scheibe. »Mein Duell war heute Morgen. Ich hätte mich fast geweigert, als dieser alte Narr Osia’phest mir sagte, dass ich gegen Enyeris antreten muss. Sie ist der schwächste Prüfling in unserem Jahrgang.«
Jetzt nicht mehr,
dachte ich bitter. Doch als ich sah, dass Shalla mich beobachtete, als wäre ich plötzlich verkrüppelt, sagte ich nur: »Danke. Mir geht’s gut.«
Sie öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus. Ich ließ sie einen Augenblick zappeln und hoffte, dass ein Insekt durchs Fenster herein und in ihren Mund schwirren würde. Schließlich riss sie sich zusammen und wiederholte ungläubig: »Dir geht es gut?
«
Ich nickte und klopfte auf meine linke Brustseite. »Das Herz schlägt wieder, wie es soll.« Natürlich hatte ich keine Ahnung, ob das stimmte. Soweit ich wusste, hätte es auch rückwärts schlagen können. Ich stand auf, öffnete meinen Schrank und suchte nach einem sauberen Hemd. »Ehrlich, Shalla, mir geht’s prima, aber ich habe noch was Wichtiges zu erledigen. Falls es dir also nichts ausmacht –«
»Deine Magie schwindet, Kellen. Bald ist sie ganz erloschen. Und da geht es dir gut?!«
Ich ging nicht darauf ein. Sie suchte offensichtlich Streit. In Shallas Welt war jeder Streit eine Gelegenheit zu beweisen, wie klug und gewitzt sie war, eine Willensprobe, die sie ohne großen Aufwand gewinnen konnte – und nach der sie großmütig verkünden konnte, dass nun aller Ärger vergessen sei. Shalla war meine Schwester und damit einer der drei Menschen, die ich auf der Welt am meisten liebte, aber ich hatte keine Lust auf »Kämpfen und Vergessen«. Obwohl ich bald von ihr abhängig sein würde, konnte ich mich gerade nicht einmal überwinden, sie anzuschauen.
Ich tauschte mein schmutziges Hemd vom Vortag gegen ein dunkelgraues Leinenhemd aus dem Schrank, das sowohl zum Abendhimmel als auch zu meiner Stimmung passte.
»Was hast du denn heute Abend noch ›Wichtiges‹ zu erledigen?«, fragte sie und stocherte mit der Gabel in meinem Essen herum. »Geht es um das Mausmädchen? Weil sie sich nach dir erkundigt hat?«
»Welches Mausmädchen?«
»Die Langweilige aus deiner Klasse. Die mit dem spitzen Gesicht. Nephi… Neph…«
»Nephenia? Sie hat kein spitzes Gesicht. Sie ist die aller–« Shallas überhebliche Miene ließ mich verstummen. Ich wollte ihr nicht noch mehr Anlass liefern, sich über mich lustig zu machen. Mein Blick blieb an dem Kartenspiel auf meinem Nachttisch hängen. Ich ging hin und nahm den Stapel auf. Als die Karten geschmeidig in meine Handfläche glitten, musste ich dem Verlangen widerstehen, sie erst wie einen Fächer auszubreiten und dann eine nach der anderen durch die Luft fliegen zu lassen. »Ich muss weg. Vater hat gesagt, ich soll Ferius Parfax die Karten zurückbringen.«
Shalla hörte auf, mit meinem Essen herumzuspielen, und wurde ernst. »Er hat gesagt, du sollst einen Diener
schicken. Halt dich von dieser Frau fern, Kellen. Es heißt, sie sei eine Spionin des Daroman-Königs, die die Wahl des nächsten Fürsten manipulieren soll.«
»Vater wird der nächste Fürst«, entfuhr es mir.
»Selbstverständlich«, gab Shalla zurück. »Warum also ist die Frau hier? Was will sie?«
»Keine Ahnung.« Ich steckte das Kartenspiel in die Hemdtasche. »Ich kann sie ja mal fragen.«
Als ich die Zimmertür öffnen wollte, schwang sie wie von selbst auf. Auf der Schwelle stand unser Vater. Seine hochgewachsene Gestalt wurde von den Leuchtern im Flur hinter ihm angestrahlt und warf ihren Schatten über mich. Er hielt mir eine mit schwarzem Wachs versiegelte Pergamentrolle hin.
Eine Verfügung! Ra’meth hat den Rat dazu gebracht, eine Verfügung gegen mich zu erlassen.
»Du bist vorgeladen«, sagte er.
Man hörte ihm nicht an, ob er sich um mich sorgte oder zornig war, dass ich Schande über unser Haus gebracht hatte. »Du musst die Nachricht lesen, Kellen. Vor dem Haus wartet eine Wache aus dem Palast.«
Ich nahm die Rolle mit zitternden Händen entgegen. Sie war überraschend schwer, und als ich das Siegel öffnete, glitt etwas heraus und fiel auf den Boden. Das Kerzenlicht ließ eine kleine goldene Scheibe aufblinken, genau wie die, die Shalla für ihr gewonnenes Duell erhalten hatte. »Was ist das?«, fragte ich verständnislos und bückte mich.
Shalla nahm mir die Scheibe aus der Hand und verglich sie mit ihrer eigenen. Sie waren identisch. »Was steht denn in der Vorladung?«, wollte sie wissen.
Ich rollte das Pergament auf, und erst jetzt fiel mir das Symbol auf, das in das schwarze Wachs eingedrückt war: ein Stern, der über Wellen aufstieg. »Das Siegel des Fürsten«, wandte ich mich verwundert an meinen Vater. »Aber der Fürst ist doch tot! Wie kann er da …?«
Er musterte das Siegel. »Der Fürst ist tot, aber es gibt jemanden, der sein Siegel weiterhin verwenden darf.«
»Die Fürstinwitwe«, hauchte Shalla. »Aber die hat doch schon ewig nicht mehr Hof gehalten, schon seit …«
Ja, seit wann eigentlich? Schon lange vor meiner Geburt und auch der meiner Eltern hatte die Gattin des nunmehr verstorbenen Fürsten den Palast nicht mehr verlassen. Für uns war sie nicht viel mehr als die ernsten, kalten Züge auf dem Gesicht der Statue vor dem Palasttor, die ihren Namen trug. Ich strich das Pergament glatt. Nur ein einziger Satz stand darauf: »Ich habe ein paar Fragen an dich.«
Die Rolle in der einen und die goldene Scheibe in der anderen Hand, sah ich meinen Vater fragend an. »Was soll ich tun?«
Sein erstaunter Blick verwandelte sich in einen sorgenvollen. »Du hast keine Wahl. Sie ist die Witwe unseres Herrschers. Wenn du ihre Einladung ausschlägst, musst du die Konsequenzen tragen.«