11
Das Kartenspiel
Das rote Leuchten, das Ra’dirs Hände verströmten, spiegelte sich bedrohlich auf dem Kartenfächer. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du mit ein paar Karten gegen einen Kriegsmagier antreten kannst!«, höhnte er. Seine Finger waren ineinander verschlungen, die Daumen aneinandergepresst – die Gebärde, die einen Feuerball entfesseln würde, sobald er die Hände auseinandernahm und die Formel sprach.
»Für dich brauch ich bloß eine«, erwiderte Ferius, und prompt schob sich eine Karte aus dem Fächer. Ferius nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. »Und falls du dich das grade fragst – nein, es ist nicht deine Glückskarte.«
Noch während Ra’dir die erste Silbe sprach, schleuderte Ferius die Karte. Sie sauste wie ein Pfeil durch die Luft und bohrte sich in Ra’dirs offenen Mund. Er würgte und versuchte weiterzusprechen, aber die Zauberformel blieb wirkungslos.
»Das war nur das stumpfe Ende, mein Freund. Beim nächsten Mal verpass ich dir die scharfe Kante.«
Ich flehte unsere Ahnen an, dass sie alldem ein Ende machten – dass Panahsi und die anderen erkannten, dass sie zu weit gegangen waren, und eingriffen, aber sie rührten sich immer noch nicht. Es handelte sich jetzt um ein Duell – und Duelle sind meinem Volk heilig. Trotzdem – wenn es nur Tennat gegen uns beide gewesen wäre oder meinetwegen auch Tennat und Ra’fan, hätte die Furcht davor, sich einem bewaffneten Gegner zu stellen, dem Wahnsinn wahrscheinlich ein Ende bereitet. Aber Ra’dir war Kriegsmagier und für alle Eventualitäten einer Schlacht ausgebildet. Er spuckte die Karte aus und ein dünnes Blutrinnsal lief ihm aus beiden Mundwinkeln bis übers Kinn. »Sie kann es nicht mit uns allen aufnehmen. Wir greifen gemeinsam an. Jetzt!«
Sowohl Tennat als auch Ra’fan rezitierten Zauberformeln. Tennat würde es bestimmt wieder mit dem Leibschneider versuchen, den er am Tag zuvor gegen mich eingesetzt hatte. Dieser Zauber gehörte zu den wenigen Angriffszaubern, die man bereits als Schüler erlernte. Ra’fan machte mir schon mehr Bauchschmerzen. Einem Kettenbeschwörer standen alle möglichen Fesselzauber zur Verfügung. Er könnte Ferius im Handumdrehen lähmen, womit der Kampf beendet wäre. Als er das erste Wort, Kaneth,
aussprach, schleuderte ich ihm mein harmloses Kartenspiel ins Gesicht. Die bemalten Karten erfüllten die Luft mit buntem Flirren und hinderten ihn am Sichtkontakt mit Ferius. Er wedelte sie weg und fing noch mal von vorn an.
Ich hörte Ferius stöhnen. Tennat hatte sich entschieden, nicht mich, sondern sie anzugreifen. Klar. Er ist dumm, aber so dumm auch wieder nicht.
»Er wählt den Leibschneider!«, rief ich Ferius zu. »Sein Wille dringt in dich ein!«
»Nur … ein … kleiner … Pikser …«, erwiderte sie, krümmte sich aber vornüber.
Tennat grinste breit. Dass er Ferius seinen Willen aufzwingen konnte, entzückte ihn so sehr, dass er vergaß, dass sie keinen eigenen Abwehrzauber wirken konnte. »Jetzt hab ich sie!«, rief er seinen Brüdern triumphierend zu. Der Idiot würde ihr noch die Eingeweide rausreißen!
Instinktiv griff ich zu einem Zauber, der seine Konzentration stören sollte. Seidenzauber kann man sich nur schwer vorstellen – man muss ganz sanft in die Gedanken des Gegners eindringen. Aber weil ich die Grundlagen der Magie gut beherrschte, bildeten meine Finger die Gebärde, während ich die ersten Worte der Beschwörungsformel sprach und meine Willenskraft auf das tätowierte Seidenmagie-Band auf meinem linken Arm konzentrierte. Vielleicht konnte ich ja jetzt, in diesem kritischen Moment, in dem ich versuchte, jemanden zu beschützen, die Magie entfachen.
Von wegen.
Tennats Konzentration wurde kurz unterbrochen, weil er lachen musste, als er sah, wie ich mich vergeblich abmühte.
»Lach ruhig … du kleine Ratte …!«, ächzte Ferius und schleuderte die nächste Karte. Tennat schrie auf, als sich die scharfe Kante in seine Handfläche bohrte.
Mir war klar, dass Ra’dir wieder eine Feuerbeschwörung einsetzen würde, aber damit konnte ich mich jetzt nicht aufhalten. Ra’fan konnte Ferius wieder ungehindert sehen und bereitete den nächsten Fesselzauber vor. Ich hob abermals die Hände, um zu versuchen, einen Zauber zu wirken, aber Ferius rief: »Lass deine Kunststücke stecken, Jungchen.«
Sie hat recht
. Meine kläglichen Bemühungen halfen ihr nicht. Darum versuchte ich es mit der Metallkarte, die Ferius mir geschenkt hatte, und ließ sie so, wie sie es mir mit den anderen Karten beigebracht hatte, durch die Luft wirbeln. Leider hatte diese Karte ein anderes Gewicht und ihre Oberfläche war sehr glatt. Sie bohrte sich vor Ra’fans Füßen in den Boden. Weil ich jetzt keine Karten und auch keine Zauber mehr zur Verfügung hatte und mir sonst nichts Besseres einfiel, stürmte ich einfach auf ihn los.
Etwas Heißes versengte meine Schulter, und ich begriff, dass ich beinahe mitten in einen Flammenstoß gelaufen wäre. Die Luft war höllisch heiß, aber ich achtete nicht darauf und legte die letzten Meter zwischen mir und Ra’fan zurück. Meine versengte Schulter rammte seine ausgestreckten Arme und unterbrach seine Gebärde. Beinahe hätte ich vor Schmerzen aufgeschrien, und als Ra’fans Ellbogen gegen meine Schläfe krachte, sah ich Sternchen, was mich immerhin von meiner Schulter ablenkte.
Als ich zu Boden ging, hörte ich ihn die Formel zum dritten Mal intonieren. Ich boxte ihn vors Schienbein, aber es war ein lahmer Schlag. Etwas Glänzendes fiel mir ins Auge und ich sah, dass meine Metallkarte, die Eichel-Vier, neben mir lag. Ich schnappte sie mir und holte damit nach Ra’fans Händen aus. Eine dünne Blutspur erschien in der Luft, als ihm die rasiermesserscharfe Kante beide Handflächen aufschlitzte. Sein Aufschrei war Musik in meinen Ohren. Offenbar bin ich kein netter Mensch.
»He, Jungchen!«, rief Ferius. Ich wandte den Kopf und erblickte Ra’dir. Drei Metallkarten steckten in seiner breiten Brust, aber aus seinen Händen schossen immer noch Feuerstöße. Ferius humpelte, ihre linke Wade war angekokelt. Ich rollte mich auf Ra’dir zu und trat ihm in die Kniekehle. Sein Feuerstoß schoss senkrecht empor, als er hinfiel. Als Nächstes sah ich Ferius’ Stiefelabsatz gegen sein Kinn knallen. Sein Kopf flog nach hinten, der Rest folgte. Noch als er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Rücken lag, setzte er zu einem neuen Feuerzauber an, aber der Spruch endete in einem erstickten Gurgeln. Ferius Parfax setzte ihm den Stiefel auf die Kehle.
Als ich so von unten zu ihr hochspähte, glaubte ich ins Antlitz einer zornigen Göttin zu blicken. Ihr Hut war heruntergefallen, ihr rotes Haar wehte im Wind wie die lodernden Flammen eines Waldbrandes. In jeder Hand hielt sie mehrere Karten, deren Metallkanten im Schein der nahen Kohlenschalen blitzten. Sie lächelte, aber nicht mit den Augen. »Du redest immer über Magie«, sagte sie zu mir. »Über Magie und über Macht. Soll ich dir mal zeigen, wie echte Macht aussieht?«
»Wenn du uns umbringst, gibt es Krieg!«, sagte Ra’fan trotzig, obwohl er mit seinen aufgeschlitzten Händen, die er in den Achselhöhlen vergrub, nicht besonders beeindruckend aussah. Tennat kroch auf den Knien zu seinem älteren Bruder hinüber.
Den Stiefel immer noch auf Ra’dirs Hals, vollführte Ferius mit beiden Händen eine flinke Bewegung und ich sah entsetzt zu, wie die übrigen Karten auf Ra’fan und Tennat zuflogen. Das gibt ihnen jetzt den Rest. Sie haben sie unterschätzt.
Ich habe sie unterschätzt. Sie ist …
Mir war nicht klar, dass ich die Augen zugekniffen hatte, aber als Tennat aufschrie, riss ich sie wieder auf. Fünf Metallkarten steckten nur wenige Zentimeter vor jedem Bruder im Boden.
»Tja«, sagte Ferius, nahm lässig den Fuß von Ra’dirs Hals und stiefelte auf den Eingang zum Platz zu, wo die anderen Schüler bereits die Flucht ergriffen, »so
sieht wahre Magie aus!«