12
Ausgestoßen
Wenn Shalla und ich uns als Kinder immer wieder endlos stritten, pflegte mein Vater geduldig zu warten, bis einer von uns gewonnen hatte oder uns beiden die Puste ausging. Dann blickte er von einem zum anderen und fragte: »Na, seid ihr jetzt fertig?«
Einer von uns – meistens derjenige, dem meine Mutter befohlen hatte, sich hinzusetzen, damit sie eine kalte Kompresse auf das blaue Auge oder die geprellte Wange legen konnte – murmelte dann widerstrebend: »Glaub schon.«
»Gut!«, sagte mein Vater dann und klatschte in die Hände, als löste er damit einen Zauberbann. »Dann können wir uns ja alle wieder vertragen.«
Meistens waren wir zu erledigt, um diese zweifelhafte Logik infrage zu stellen, aber das eine Mal, als ich ihn darauf ansprach, nahm er mich beiseite und erklärte mir: »Ihr habt euch gestritten. Es gab einen Sieger und einen Besiegten. Egal, worum es ging – die Sache ist damit erledigt.«
»Ich soll mich wieder mit ihr vertragen? Aber sie –«
»Sie hat dieses Mal gewonnen. Beim nächsten Mal verliert sie vielleicht. Es liegt keine Würde darin, ihr noch weiter zu grollen. Wir Jan’Tep sind nicht nachtragend.«
Damals sah ich das nicht ein. Jeder Streit, ob nun mit Shalla oder sonst wem, kam mir wie ein Kampf auf Leben und Tod vor. Es ging immer um alles, selbst wenn wir uns nur um ein Spielzeug zankten. Shalla dagegen tat, was mein Vater verlangte, und verhielt sich, als wäre nichts gewesen. »Kellen und ich haben bloß gespielt«, sagte sie, wenn sich Abydos erkundigte, wieso einer von uns den Arm in der Schlinge trug. Ich nickte dann und stimmte ihr zu, war jedoch insgeheim überzeugt, dass Shalla irgendwie geistesgestört sein musste, wenn sie so tun konnte, als hätte unsere Auseinandersetzung nie stattgefunden.
Erst am Tag, nachdem meine Mitschüler versucht hatten, Ferius Parfax und mich fertigzumachen, wurde mir klar, dass Shalla von uns beiden die Normale war.
»Schließt du dich uns heute noch an, Kellen?«, fragte Meister Osia’phest. Ich saß auf einer Bank, und als ich aufblickte, sah ich ihn zwischen zwei Säulen stehen. Die anderen Schüler, die sich wartend über die Oase verteilt hatten, taten so, als wäre ich Luft.
Osia’phests Frage war natürlich unsinnig. Er hatte selbst gesehen, dass meine Magie nichts taugte – alle hatten es gesehen. Ich würde es nicht schaffen, ein Seelensymbol zu zeichnen, ich würde auch keinen Bannstein anfertigen oder ein Schutztier beschwören oder sonst eine Aufgabe bewältigen, die als Beweis dafür galt, dass man die zweite Prüfung bestanden hatte. Dem Alten hätte also klar sein müssen, dass ich an den heutigen Prüfungen nicht teilnehmen würde. Aber – und das war nun wirklich lachhaft – er musste mich das fragen, denn sonst hätte man denken können, dass ich womöglich aus einem anderen Grund geschwächt war, zum Beispiel, weil ich in ein unerlaubtes Duell verwickelt gewesen war, und zwar an der Seite einer verdächtigen Daroman-Spionin. Inzwischen musste es die ganze Stadt erfahren haben, aber rein rechtlich hatte ich nichts Schlimmeres getan als alle anderen, die dabei gewesen waren. Deshalb verhielten wir uns jetzt alle so, wie mein Vater es früher von Shalla und mir verlangt hatte – wir taten, als wäre nichts gewesen.
»Nein danke, Meister«, antwortete ich. »Ich möchte heute nur von hier aus zuschauen. Mit meinen Prüfungen mache ich weiter, wenn …« Wenn was? Wenn die verrückte Fürstinwitwe mir ein magisches Artefakt schenkt, mit dessen Hilfe ich die Prüfung bestehe? Nein, so durfte ich nicht denken. Ich wollte selbst Mittel und Wege finden, meine Magie wieder aufleben zu lassen. Wenn Panahsi und ein paar andere einwilligten, mir zu helfen, konnte ich noch das eine oder andere versuchen, um meine Bänder zu entfachen. Bis dahin würde ich ums Verrecken weder Tennat noch sonst jemanden in dem Glauben lassen, dass ich aufgegeben hatte. »Ich komme jeden Tag her und sehe mir alles an«, sagte ich trotzig.
Osia’phest nickte weise, trat dann aber näher und fragte mit gedämpfter Stimme: »Hast du es schon mal mit einer einfacheren Formel versucht, vielleicht mit einer Atembeschwörung? Vielleicht gelingt es dir ja hier in der Oase –«
»Ihr wisst doch, dass ich es nicht hinkriege!«, fauchte ich gereizt, biss mir aber sofort auf die Zunge. Meister Osia’phest hatte von allen noch das meiste Verständnis für meine Lage aufgebracht. Trotzdem konnte ich meinen Unmut nicht zähmen. »Und selbst wenn, was nützt mir ein blöder Atemzauber, die schwächste Art Magie?«
Er setzte sich neben mich auf die Bank. »Unterschätze den Atem nicht, Kellen.« Er schob den rechten Ärmel seines Gewandes hoch. Die tätowierten silbernen Atemsiegel glänzten hell unter der welken Haut seines faltigen Unterarms. »Der Atem ist die Macht der Bewegung. Er kann anderen Zaubern eine Stimme geben. Für sich genommen mag er nicht so beeindruckend wie Glut oder Eisen sein, aber in Kombination mit anderer Magie kann der Atem … Erstaunliches ausrichten.«
Überhaupt etwas auszurichten hätte mir schon gereicht.
»Komm schon«, sagte Osia’phest. »Zeig mir die erste Beschwörungsgebärde für den Atem. Oder hast du sie schon wieder vergessen?«
»Ich habe gar nichts vergessen!«, erwiderte ich. Ich konnte die Beschwörungsformeln und Betonungen sämtlicher Atemzaubersprüche auswendig, kannte alle Visualisierungen, Fingerfiguren und Einbindungen. Das Gleiche galt für Sand-, Glut-, Eisen- und alle anderen Zauber. Kein Schüler beherrschte die Grundlagen besser als ich, nicht mal Shalla. Aber das alles half mir nicht weiter.
»Die erste Beschwörungsgebärde«, spornte mich Osia’phest an.
Ich riss mich zusammen, unterdrückte meinen Ärger und stellte mir die Bewegung der Luft vor. Das ist beim Atemzauber das Schwierigste: etwas zu visualisieren, das man nicht sehen kann. Ich streckte erst die Hände und dann die Zeige- und Mittelfinger aus, um die Richtung anzugeben, und drückte dann die gekrümmten Ringfinger und kleinen Finger in die Handflächen, um die Kontrolle über den Zauber zu behalten. Meine Daumen wiesen senkrecht nach oben, die Gebärde für Bitte, ihr Ahnen, gewährt mir wenigstens diesen einen blöden Zauber.
Ich zwang der Luft meinen Willen auf und sprach die Einwortbeschwörung: »Karath.«
Ein kaum wahrnehmbarer Windhauch wehte zwischen meinen Händen hindurch, folgte der Richtung der Zeige- und Mittelfinger. Er reichte gerade mal aus, um im Sand zu meinen Füßen eine schwache, höchstens zwanzig Zentimeter lange Furche zu hinterlassen.
»Hm«, brummte Osia’phest. »Das ist … nicht schlecht. Deine Fähigkeiten sind nicht so vielversprechend, wie sie mal waren, aber sie sind auch noch nicht völlig versiegt.«
Um zu verstehen, wie vernichtend diese Aussage war, muss man sich in Erinnerung rufen, dass man so dicht an einer Jan’Tep-Oase auch einem taubstummen, blinden Daroman-Schafhirten einen Zauber beibringen könnte und derjenige immer noch einen kräftigeren Windstoß beschwören würde als ich eben.
Osia’phest tätschelte mir ermutigend das Knie, dann stand er wieder auf. »Aber du bist ja heute nicht der einzige Schüler, der nicht ganz auf der Höhe ist.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass Tennat auf der anderen Seite der Oase ebenfalls auf einer Bank saß. Seine hängenden Schultern verrieten, dass er sich echt mies fühlte, aber die wohlverdienten Schürfwunden und blauen Flecke waren nicht mehr zu sehen. Bestimmt hatte ihn sein Vater geheilt. Ra’meth war nämlich – und das war eine ungeheuerliche, unfassbare Ungerechtigkeit – ein noch besserer Heiler als meine Mutter.
»Auch der Schüler Tennat fühlt sich heute Morgen nicht in der Lage, die Vorbereitungssprüche zu wirken«, fuhr Osia’phest fort. »Genau genommen scheint es ihm noch schlechter zu gehen als dir. Ich habe ihn vorhin ebenfalls zu einem Atemzauber aufgefordert, aber kein Lüftchen hat sich geregt.«
Vielleicht gibt es ja doch noch ein bisschen Gerechtigkeit auf der Welt.
»Vier andere Schüler sind ähnlich beeinträchtigt. Dass mehrere Schüler gleichzeitig in so einem Zustand sind, ist … ungewöhnlich.«
Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf, gefolgt von einer wahnwitzigen Hoffnung. »Vielleicht haben wir uns ja alle mit der gleichen Krankheit angesteckt? Vielleicht bin ich nicht –«
»Deine Magie ist nach und nach schwächer geworden, über Wochen und Monate. Ein ganz natürlicher Prozess bei denjenigen, die zum Leben als Sha’Tep berufen sind. Die schlechte Verfassung deiner Mitschüler ist dagegen nicht natürlich.«
Angesichts dessen, wie selbstverständlich Osia’phest davon sprach, dass mir das Los eines Sha’Tep bevorstand, war mir Tennats schlechte Verfassung herzlich egal, trotzdem fragte ich: »Was schwächt die anderen denn Eurer Meinung nach?«
»Wir kennen Gifte, die solche Symptome hervorrufen … aber die Rezepturen dafür sind kompliziert und nur wenigen bekannt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass eine besonders kluge und entschlossene Person sie sich aneignet.« Als der alte Zaubermeister mich jetzt ansah, war sein Blick schwer zu deuten. Blickte er sorgenvoll? Nein. In seinem Blick lag Argwohn. Als wartete er nur darauf, dass ich ein Geständnis ablegte. »Dein Haus hat sich in der Vergangenheit mit Tennats Familie befehdet. Es ist schon auffällig, dass alle Betroffenen Familien angehören, die entweder das Haus des Ra unterstützen oder selbst den Fürstentitel beanspruchen könnten.«
»Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich –«
Osia’phest hob abwehrend die Hände. »Ich beschuldige niemanden. Ich weiß, dass du ein guter Junge bist, wenn auch leichtsinnig und, verzeih mir, manchmal ein bisschen unreif. Aber was mir auffällt, dürfte auch anderen auffallen. Gut möglich, dass gewisse Leute trotz fehlender Beweise auf Vergeltung sinnen.« Er holte tief Luft. »Wir sind ein durch Magie vereintes Volk, und doch sind wir immer wieder versucht, diese Magie in ihren schlimmsten Ausprägungen gegeneinander einzusetzen.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie dieser Tag noch beschissener werden konnte, aber es gelang mir nicht. Ich packte den Arm des Alten und sagte eindringlich: »Ich habe niemandem etwas getan, Meister Osia’phest. Ich kann nichts dafür.«
Er schüttelte meine Hand sanft ab. »Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas nicht tut oder ob man nichts dafür kann, dass es passiert, Kellen.«
Die nächsten paar Stunden verbrachte ich damit, Meister Osia’phest dabei zuzuschauen und zuzuhören, wie er meine Mitschüler ihre Beschwörungen, die Rangfolge mystischer Strukturen und endlose Meditationen wiederholen ließ. Bei Letzteren döste er selbst immer wieder ein, da war ich ziemlich sicher.
Irgendwann schaffte auch ich es nicht mehr, bei den endlosen, dahingeleierten Formeln die Augen offen zu halten. Jedes Mal, wenn ich sie wieder aufmachte, schielte ich zu Tennat hinüber. Machte er Anstalten, sich mit vor Magie lodernden Händen auf mich zu stürzen? Manchmal erwiderte er meinen Blick, sagte aber nie etwas. Was mir nur recht war.
Was hatte seine Magie so geschwächt? Und was war mit den anderen los? Ich wusste nur, dass ich ihnen nichts angetan hatte. Im Grunde gab es nur eine Erklärung: Angst. Magie erfordert absolute Konzentration und einen eisernen Willen. Ein emotionaler Schock beeinträchtigt diese Voraussetzungen – und Tennat hatte gestern ganz schön oft geheult.
»Du siehst irgendwie selbstzufrieden aus«, riss mich Panahsi aus einem kurzen Schlummer.
»Hab dich gar nicht gehört.« Ich rutschte zur Seite und machte ihm Platz, aber er setzte sich nicht. Er verschränkte die Arme vor der Brust, und mir fiel sofort auf, was an ihm anders war. »Du hast dein Glutband entfacht … Das ist ja toll!« Ich gab mir Mühe, begeistert zu klingen.
Er nickte grimmig und stolz. »Heute Morgen.«
»Wie hast du das hingekriegt? Vielleicht kannst du mir ja demnächst mal helfen. Ich hätte da ein paar Ideen, wie ich –«
Panahsi fiel mir mit einem höhnischen Lachen ins Wort, was ganz untypisch für ihn war, weshalb ich erst dachte, er mache nur Spaß. Doch dann sagte er: »Weißt du was, Kellen? Mir ist jetzt klar, warum du keine Magie hast.«
»Echt? Warum denn nicht?«
»Weil du sie nicht verdienst.«
Er kam näher, bis seine breite Gestalt die Sonne verdunkelte. »Magie ist eine Gabe, die nur die Jan’Tep besitzen. Nicht die Daroman. Nicht die Berabesk. Und nicht solche, wie du einer bist.«
Als ich aufsprang, machten sich meine Blessuren so schmerzhaft bemerkbar, dass mir schwindlig wurde. »Ich bin genauso ein Jan’Tep wie du!« Ich verpasste ihm einen Stoß vor die Brust. Das war aus verschiedenen Gründen dumm, nicht zuletzt deshalb, weil Panahsi – zumindest bis zu diesem Tag – mein bester Freund war. Außerdem war er schwer und mein Stoß richtete überhaupt nichts aus. Seiner dagegen beförderte mich rücklings über die Bank, wo ich im Sand liegen blieb.
»Du hast dich gegen dein eigenes Volk gestellt und auf die Seite dieser Daroman geschlagen, Kellen.«
Ich sah an ihm vorbei, dorthin, wo die anderen Schüler nicht sehr überzeugend so taten, als bekämen sie nichts von unserer Auseinandersetzung mit, obwohl sie immer wieder zu uns herüberschielten. Nur Tennat, der immer noch auf der anderen Seite der Oase saß, verstellte sich nicht. Er grinste zum ersten Mal an diesem Tag.
Ich rappelte mich hoch. Mit der Bank zwischen Panahsi und mir entschied ich mich für eine andere Taktik. »Die Kerle wollten der Frau etwas antun, Panahsi. Ist Magie dazu da? Um jemanden zu schikanieren, der keine besitzt?« Ihr Götter, bitte lasst nicht zu, dass es so ist, sonst kann ich meine Zukunft vergessen.
»Ra’fan sagt, sie ist eine Spionin.«
»Ra’fan ist ein Schwachkopf. Genau wie sein Vater und wie Tennat, der dich letzte Woche fast zum Krüppel gemacht hätte, falls du das schon vergessen hast.«
»Tennat hat mich besiegt, weil er stark ist, so wie seine ganze Familie. Er wird einmal ein Magier sein, der für unser Volk kämpft. Und ich auch.«
Jetzt lachte ich verächtlich. »Du bist begabter als Tennats ganze Familie zusammen. Du wirst dreimal so stark wie –«
»Nicht, wenn ich mich noch weiter mit dir abgebe«, sagte er und ließ die geöffneten Hände locker herabhängen.
Wir Jan’Tep haben gelernt, nicht die Fäuste zu ballen, wenn wir wütend sind. Das soll es einem erschweren, im Jähzorn einen Angriffszauber zu wirken.
»Willst du dich mit mir prügeln, Panahsi?«, fragte ich.
Er zögerte. »Du weißt, dass ich der Stärkere bin. Auch ohne Magie.«
»Hab nie das Gegenteil behauptet.«
Ganz kurz sah es so aus, als wollte er noch etwas sagen oder als wartete er darauf, dass ich noch etwas sagte, aber weil keiner von uns das tat, machte er kehrt und ging wieder zu den anderen Schülern. Was er ihnen erzählte, konnte ich nicht verstehen, aber ich glaube nicht, dass er mir ein Loblied sang, denn einige von ihnen lachten und klopften ihm auf die Schulter.
Eigentlich hätte ich merken müssen, was da vor sich ging, aber manchmal bin ich ein bisschen schwer von Begriff. Tennat half mir auf die Sprünge, als er nun zu mir herüberschlurfte.
»Ich hab ihnen gesagt, dass du heute kommst«, verkündete er, wenn auch hustend.
»Du siehst schlecht aus, Tennat. Vielleicht solltest du lieber –«
Er redete einfach weiter. »Du bist dermaßen eingebildet! Wir alle wissen seit Jahren, dass du als Sha’Tep enden wirst, dass du später bei richtigen Magiern die Böden schrubbst oder besser noch im Bergwerk arbeitest, wo du hingehörst. Aber nein – Kellen, der Trickbetrüger ohne Magie, glaubt, er könnte sich durchs Leben schummeln. Schlimmer noch, du tust so, als wärst du besser als alle anderen.«
»Nicht als alle
»Du kommst dir echt schlau vor, was?« Er stieß ein künstliches Lachen aus, gefolgt von einem echt klingenden Husten.
»Gönn dir lieber ein bisschen Ruhe, Tennat. Hört sich an, als hättest du eine fiese Erkältung.«
»Das wird schon wieder«, sagte er und unterdrückte den Hustenreiz. »Ich werde wieder gesund, weil mein Blut nämlich stark ist. Die Krankheit, die du in dir trägst und die unser Volk bedroht, kann mir nichts anhaben.«
Hatte ich etwa doch eine Krankheit? Als Kind hatte ich eine Erkältung nach der anderen gehabt … Andererseits – warum sollte es die anderen schneller erwischen als mich?
Tennat grinste auf mich herab, als hätte er es mir so richtig gegeben. Was für ein Trottel.
»Geh nach Hause, Tennat. Sonst kriegst du noch eine doppelte Dosis meiner tödlichen magischen Krankheit ab.«
Er sah tatsächlich ein bisschen verängstigt aus. Daraus schloss ich, dass er das, was er da erzählte, durchaus ernst meinte. »Nö«, sagte er, »ich bleibe hier und schaue zu.« Damit ging er wieder zu seiner Bank.
Als mir endlich aufging, was er meinte, begriff ich, dass ich sehenden Auges in eine Falle getappt war. Bei der Verbannung eines Verbrechers folgt mein Volk einem vorgeschriebenen Ritual. Es verlangt, dass die Familie des Ausgestoßenen, seine Freunde, seine Gefährten und seine Lehrer ihm allesamt verkünden, dass er nicht mehr im Clan geduldet wird. Erst wenn jeder, der den Betreffenden kennt, sich von ihm losgesagt hat, spricht der Rat die Verbannung für alle Zeiten aus. Und weil dem Ausgestoßenen keine Familie und kein Clan mehr zu Hilfe kommen, legt so gut wie nie jemand Widerspruch ein.
Die Szene mit Panahsi wiederholte sich an diesem Nachmittag wieder und wieder. Nach jeder Lektion, wenn Meister Osia’phest den Schülern eine kurze Pause gönnte, kam jemand zu mir und machte eine abfällige Bemerkung, um mir klarzumachen, dass wir keine Freunde mehr waren.
Und jedes Mal gingen mir die Worte meines Vaters wieder durch den Kopf: Wir Jan’Tep sind nicht nachtragend.
Von wegen!
Am liebsten wäre ich aufgestanden und nach Hause gelaufen, hätte mich in meinem Zimmer eingeschlossen und versucht, die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens zu vergessen. Dabei war das, was die anderen sagten, nicht mal besonders grausam. Ich meine, sie waren schon grausam, klar, aber mir tat viel mehr weh, was sie nicht sagten. Ich war der Außenseiter. Ich war der andere. Ich war weder ein Jan’Tep noch ein Sha’Tep noch sonst irgendwas.
Immer wieder schielte ich zu Panahsi hinüber, hoffte, dass er den Nächsten davon abhalten würde, zu mir zu kommen, oder wenigstens meinen Blick erwiderte. Fehlanzeige. Ich kam mir vor wie ein Schädling, der sich in einem blühenden Garten eingenistet hat. Dabei ging es den anderen Schülern nicht einmal darum, mich tot zu sehen. Sie wollten mich einfach überhaupt nicht mehr sehen.
Wahrscheinlich blieb ich gerade deswegen sitzen. So überwältigend der Drang auch war, aufzustehen und die Flucht anzutreten, und so elend und verlassen ich mich auch fühlte, irgendwo in mir gab es einen Rest Zorn. Ich schwor mir, dass ich trotz allem jeden Tag zum Unterricht erscheinen würde, damit mich alle sahen. Jeden einzelnen Tag, bis zu meinem Namenstag, an dem man mich zwingen würde, für immer den Sha’Tep anzugehören.
Ich hatte mich schon fast selbst davon überzeugt, dass ich mit meinem sturen Sitzenbleiben heldenhaften Mut bewies, als Nephenia auf mich zukam.