23
Verletzungen
Wenn du fünfzehn Jahre alt und fast ein Mann bist und zwischendurch immer wieder zu dir kommst, nur um festzustellen, dass dich jemand wie ein kleines Kind nach Hause trägt, ist das echt peinlich. Dass es diesmal Ferius war, die mich trug, machte alles nur noch schlimmer.
»Für ein Mädchen bist du ganz schön stark«, sagte ich und biss mir sofort auf die Zunge. Anscheinend redete ich je mehr dummes Zeug, desto übler man mir mitspielte.
»Stark für ein Mädchen, das schon, aber nur durchschnittlich stark für eine Frau.«
»Nicht viele Frauen wären stark genug, um mich zu tragen«, entgegnete ich. »Ich bin nicht gerade schmächtig.« Irgendwie war es mir wichtig, dieses Wortgefecht zu gewinnen.
»Pfft!«, machte Ferius abfällig. »Eure Frauen werden dazu erzogen, ein bisschen zu zaubern und dabei gut auszusehen. So wie es die Männer halt mögen.«
Damit beleidigte sie im Grunde mein ganzes Volk, aber weil mir keine angemessene Erwiderung einfiel, konzentrierte ich mich auf die Straße vor uns. Weil die Leute längst im Bett lagen, war es stockdunkel. Wir hatten schon den halben Weg bis zu unserem Haus zurückgelegt, und normalerweise hätten an jeder Ecke Leuchtglaslaternen die Straße erhellt, aber Ferius verfügte nicht über die erforderliche Magie, um sie aufflammen zu lassen. Und weil ich nicht in der Stimmung war, es zu versuchen, blieb es eben dunkel. Ob es für die Sha’Tep-Diener, die noch vor Tagesanbruch mit ihrer Arbeit anfangen mussten, immer so war, wenn sie zu den Läden oder Haushalten gingen, denen sie zugeteilt waren? Oder nahmen sie Fackeln mit? Ferius schien gute Augen zu haben, denn sie wusste offenbar genau, wo wir hinmussten.
»Was willst du meinen Eltern denn erzählen?«, fragte ich.
»Die Wahrheit. Dass ich dich in diesem Zustand in der Oase entdeckt habe, zusammen mit deinen drei bescheuerten Freunden und einer Horde Baumkatzen.«
»Die drei sind nicht mehr meine Freunde«, rutschte es mir heraus. Puh – ich höre mich wie ein schmollendes Kleinkind an.
Ferius musterte mein zerschundenes Gesicht und entgegnete: »Da würde ich dir zustimmen.«
»Ich …« Ich stockte. Ich wollte noch etwas sagen, beziehungsweise ich hätte gern gehabt, dass Ferius etwas sagte, aber ich wusste nicht recht, wie ich es zur Sprache bringen sollte. »Du hast dich noch nicht zu dem geäußert, was ich getan habe«, formulierte ich es schließlich.
»Hätte ich mich denn dazu äußern sollen?«
»Nein, ich dachte nur …« In Wahrheit wollte ich dafür gelobt werden, dass ich die Baumkatze befreit hatte. Ich wollte hören, dass Ferius … na ja … beeindruckt von meinem Mut war oder sogar stolz auf mich. Keine Ahnung, warum es mir wichtig war, was diese Daroman-Streunerin von mir hielt, wo doch meine Eltern garantiert sauer auf mich sein würden. Aber ich fand es einfach ungerecht, dass ich mich hatte zusammenschlagen lassen, ja, mir mein Leben versaut hatte, ohne dafür irgendeine Anerkennung zu bekommen.
»Du willst hören, dass du richtig gehandelt hast, stimmt’s?« Ferius bog um die Ecke. Mein Elternhaus stand an der nächsten Kreuzung.
»Hab ich doch, oder?«
Sie blieb stehen, den Blick unverwandt geradeaus gerichtet. Mich schaute sie nicht an. »Das kann ich dir nicht sagen.« Sie atmete tief durch. »Wenn man mal über seinen Tellerrand hinausschaut und die anerzogenen Überzeugungen beiseitelässt, stellt man fest, dass Richtig und Falsch oft schwer zu unterscheiden sind. Eine mutige und wahrhaftige Tat kann zu Krieg und Zerstörung führen, eine feige und selbstsüchtige Tat zu Frieden und Wohlstand.« Sie machte eine nachdenkliche Pause, dann gab sie sich einen Ruck. »Aber ich gebe dir trotzdem einen kostenlosen Tipp.« Jetzt sah sie mich an und schmunzelte. »Das, was du getan hast, hast du wie ein Mann getan.«
Meine Brust wurde ein bisschen eng, vielleicht weil meine inneren Organe wieder schmerzten. »Du redest ziemlich oft vom Mannsein«, sagte ich.
Sie lachte. »Scheint so.« Dann ging sie weiter.
Wir waren nur noch ein paar Türen von unserem Haus entfernt, als die Schmerzen auf einmal unerträglich wurden. Meine Rippen fühlten sich an, als würden sie zerbröseln, mein Mund tat von den Kinnhaken höllisch weh und mein rechter Arm juckte dort, wo ich über den Sand gerutscht war, wie sieben Höllen. Ich kratzte mich, aber es wurde nur noch schlimmer. »Aua!«, schimpfte ich.
Ferius lachte wieder. »Aua? Hast du auch ›Aua!‹ gesagt, als sie dich geschlagen und getreten haben?«
»Lass mich in Ruhe. Es tut weh.«
Sie redete einfach weiter: »Ist das wieder einer eurer Jan’Tep-Zauber? ›Aua‹ sage ich – nichts soll durch meinen magischen Aua-Schild dringen!«
»Hör auf.« Ich kratzte mich wieder, weil mir die Schmerzen lieber waren als das Jucken, aber es tat derart weh, dass ich aufjaulte.
»Lass das Kratzen, Jungchen, sonst blutet es und die Wunde infiziert sich.«
Um festzustellen, ob mein Arm schon blutete, hob ich ihn vor die Augen, sah aber nur Sandkörner und Steinchen, die sich in die Haut gebohrt hatten. Weil ich unzählige Stunden und Tage vergeblich damit verbracht hatte, meine Bänder endlich zu entfachen, kannte ich jedes einzelne tätowierte Siegel, daher merkte ich trotz der Dunkelheit, dass sich etwas verändert hatte. Die Silbertinte des ersten Bandes war nicht mehr matt und leblos. Sie waberte kaum merklich, als tanzte Magie unter meiner Haut.
»Ist was?«, fragte Ferius.
Ich kniff die Augen zusammen. Hoffentlich bildete ich mir das nicht nur ein! Bitte!,
flehte ich meine Ahnen an. Bitte, lasst es nicht bloß eine Täuschung sein.
Wie schon Tausende Male zuvor konzentrierte ich mich fest auf das Band.
Als nichts geschah, begriff ich, dass sich nicht das Geringste getan hatte. Ich war so abgrundtief enttäuscht, dass mir sofort kindische Tränen in die Augen stiegen. Obwohl ich versuchte, mich zusammenzureißen, entschlüpfte mir ein Aufschluchzen.
»Reg dich ab, Jungchen, und entspann dich«, sagte Ferius.
»Du verstehst mich nicht! Du hast mich noch nie verstanden! Es ist doch alles, was ich –«
»Ich mein’s ernst. Entspann dich.«
Plötzlich ging mir auf, was sie meinte. Als ich die Veränderung des Bandes zuerst wahrgenommen hatte, war ich ganz aufgeregt geworden, aber wenn man aufgeregt ist, kann man sich nicht auf Magie konzentrieren, und wenn man flennt wie ein Baby genauso wenig. Man muss ruhig bleiben. Besonnen. Sich beherrschen.
Um mich daran zu hindern, das Band anzustarren, machte ich die Augen zu, richtete meine Aufmerksamkeit nach innen und rief die Macht an, die die Siegel aufbrechen und meine Magie freigeben sollte. Ich ließ mir Zeit – dachte nicht mehr daran, wie lange es dauerte, oder daran, dass Ferius mich immer noch schleppte. Ich dachte auch nicht daran, dass ich keine Freunde mehr hatte, oder daran, was aus mir werden sollte, wenn ich auch diesmal versagte … Ich ließ alles los. Ich grübelte nicht mehr, ob ich überhaupt über Magie verfügte. Ich hatte genug von den ganzen Zweifeln und Fragen.
»He, guck mal!«
»Ich weiß«, sagte ich, die Augen noch immer geschlossen. Ich brauchte die Siegel nicht zu sehen. Ich wusste auch so, dass sie leuchteten.
»Was für eine Magie ist das?«, fragte Ferius.
Jetzt öffnete ich die Augen und nahm einen tiefen Zug von der herrlich frischen Luft. Dann sagte ich nur ein einziges, ehrfürchtiges Wort: »Atem!«
Ferius schmunzelte wieder, machte sich aber immerhin nicht über mich lustig. Ich betrachtete die silbernen Linien des Atembandes – die winzigen, wunderschönen Symbole, die auf der Leinwand meiner Haut wie Sterne schimmerten und jeweils eine andere Form von Atemmagie repräsentierten, die ich nun wirken konnte.
Endlich hatte ich ein Band entfacht.
Ich streckte die andere Hand nach einer Leuchtglaslaterne aus und konzentrierte mich. Ein mattes Licht flackerte auf und drängte die Dunkelheit zurück. Es war nicht viel, eigentlich so gut wie nichts, aber es war da. Es war echt.
Ich war kein Sha’Tep.
Mein Leben war nicht ruiniert.
Ich verfügte über Magie.
Als der Laternenschein meine Haut erwärmte, fing ich Ferius’ Blick auf. Überrascht stellte ich fest, dass sie mich mit aufgerissenen Augen ansah. »Hör mal, Jungchen …«
Bestimmt sah ich erschreckend aus. Ich hatte eine so derbe Abreibung bekommen, dass ich meine Wangen kaum spürte und die Augen nur mit Mühe öffnen konnte, weil sie immer mehr zuschwollen. Trotzdem fand ich, Ferius hätte wenigstens so tun können, als freute sie sich für mich. Zur Hölle mit ihrer ironischen Argosi-Art und ihrer Gehässigkeit gegenüber meinem Volk! Trotzdem war ich in Hochstimmung. »Ich weiß selber, dass ich übel aussehe. Auch wenn ich jetzt über Magie verfüge, musst du mir bei Gelegenheit mal beibringen, wie man sich ohne sie verteidigt.«
Ferius öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Sie hob mich mit einem Ruck ein Stück höher und ihr Gesicht spannte sich an, als wäre ich plötzlich schwerer geworden. »Nein, Jungchen – erst mal muss ich dir beibringen, wie man abhaut.«