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Familie
Von all den Geschichten, die in meinem Volk überliefert werden, von all den Legenden über heldenhafte Magier, die die gewagtesten und gefährlichsten Zauber wirken, um ihren Clan vor listigen und teuflischen Ungeheuern zu bewahren, handeln die besten – also die spannendsten und gruseligsten – immer vom Schwarzschatten.
Als die Hexenmeister der Mahdek ihre übelsten Zauber wirkten und eine Abscheulichkeit nach der anderen begingen, um pechschwarzen Hass über die Welt zu verbreiten, durchbohrten sie den dünnen Schleier, der unsere Welt von den hundert Höllen darunter trennt. Manche dieser Hexenmeister entdeckten zu ihrem irren Entzücken, dass sie, wenn sie das Gute restlos aus ihren Seelen verbannten, eine Leere erschaffen konnten, die sämtlichen Gesetzen der Magie und der Natur widersprach. Diese Leere war natürlich nicht von Dauer und füllte sich unaufhaltsam mit etwas Schlimmerem als nur dem Bösen. Ein Magier, der jene letzten Stufen in die Dunkelheit hinabstieg, wurde mit tintenschwarzen Malen gezeichnet, am Arm, am Oberkörper – oder am Auge. Diese Schattenmale waren die unmissverständlichen Anzeichen dafür, dass der Schwarzschatten allmählich die Oberhand gewann.
»Komm mit, Kellen«, wiederholte mein Vater. Wie oft er es wohl schon gesagt hatte, bevor er mich an den Schultern packte und die Marmortreppe hinauf und durch die Flügeltür ins Haus schob?
Sein Aufschrei war durch die ganze Straße gehallt, man hörte die aufgeschreckten Nachbarn schon aus den Häusern kommen.
»In mein Zimmer«, sagte meine Mutter ruhig und gefasst. Was ich von mir selbst nicht behaupten konnte.
»Du musst mich heilen, Mutter!«, flehte ich. »Ich habe nichts Böses getan! Ich wollte nicht, dass –«
Sie umfasste meine Wangen und hielt meinen Kopf fest. »Hör mir gut zu! Du hast Angst. Du bist verletzt. Du bist immer noch mein Sohn.«
Du bist immer noch mein Sohn.
Als sie mein Gesicht wieder losließ und den Arm um mich legte, verspürte ich zwar nicht unbedingt Erleichterung, aber wenigstens spürte ich irgendetwas. »Familie«, pflegte mein Vater zu sagen, »ist der feste Grund, auf dem wir stehen. Familie ist der Anfang und das Ende von allem, was wir sind.« In diesem Augenblick begriff ich, dass das stimmte, denn auf einmal wünschte ich mir mehr als alles andere auf der Welt, noch eine Familie zu haben.
»Du suchst meine Tochter!«, hatte er zu Ferius gesagt und sie daran gehindert, das Haus zu betreten. Es hatte wie ein Befehl geklungen.
Ich sah sie zögern, doch schließlich nickte sie. »Und du sieh zu, dass du unsere Abmachung einhältst, Meistermagier. Den Jungen trifft keine Schuld.«
Mein Vater lachte trocken auf, aber es war kein fröhliches Lachen – ein verzweifelter Schmerz schwang darin mit, unendlicher als jede Wüste. »Niemanden trifft eine Schuld, Argosi. Man beschuldigt ja auch nicht den Blitz, dass er das Dorf angezündet hat.«
Ich erwartete eine schlagfertige Erwiderung, aber es kam nichts. Ich musste blinzeln, weil mir der Schweiß ins Auge lief, und dann war Ferius auch schon weg. Mein Vater schloss die Tür und wandte sich zu uns um.
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte ich benommen und strich mit dem Finger über die Symbole auf meinem Unterarm. »Ich habe mein Atemband eben erst entfacht und jetzt habe ich den Schwarzschatten? Warum passiert mir das alles?«
Meine Mutter wollte mich ins Zimmer schieben, doch mein Vater zog sie unvermittelt an sich und barg das Gesicht an ihrer Schulter. »Noch ist nicht alles verloren«, tröstete ihn meine Mutter. »So die Götter wollen, bringt uns die Argosi unsere Tochter unversehrt zurück.«
Und was ist mit mir?
Kurz darauf fand ich mich auf dem seidenbezogenen Sofa im Zimmer meiner Mutter wieder. Ich saß aufrecht und mit den Händen auf den Knien da, als könnte es mir irgendwie helfen, wenn ich Haltung bewahrte, während sie mit einem kleinen Pinsel eine nasse, klebrige Substanz um mein linkes Auge herum auftrug. »Kann das die Ausbreitung verhindern?«, fragte ich.
»Es ist bloß Mesdet, Dummchen. Das benutze ich auch für meine Augen. Damit lassen sich die Male erst einmal verdecken, falls dich jemand sieht.«
Sie legte den Pinsel wieder weg und ging zu ihren hohen Schränken, deren kleine Fächer und Schubladen voller Tiegel, Töpfe und Instrumente waren.
»Wie lange wird es dauern?«, fragte ich als Nächstes.
Sie hielt ein kleines Glasgefäß in die Höhe und begutachtete den Inhalt. »Wie lange wird was dauern?«
»Bis der Schwarzschatten vollständig von mir Besitz ergriffen hat.«
In den Geschichten verwandelten sich die infizierten Magier nicht sofort in Dämonen. Anfangs waren sie bis auf die schwarzen Male unverändert. Aber mit der Zeit wurden die Male größer, und nach und nach beging der Magier immer schlimmere Taten, bis seine Seele schließlich bereit war, sich dem Dämon zu unterwerfen.
»Wir konzentrieren uns jetzt erst mal auf die Gegenwart«, sagte mein Vater, der hinter meiner Mutter stand. »Wir wollen uns die Zukunft nicht schon ausmalen, bevor ihre Leinwand vor uns steht.« Als meine Mutter wieder zu ihren Tiegeln und Töpfen ging, beugte er sich vor und betrachtete mein Auge. »Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm.«
Ich war immer noch so durcheinander, dass ich beinahe losgelacht hätte. Der Mann, der eben noch geschrien hatte, als hätte er tausend Teufel auf unsere Welt niederfahren sehen, wollte mir jetzt weismachen, dass das Ganze womöglich »gar nicht so schlimm« war!
Von den alten Geschichten abgesehen, wusste ich nicht viel über den Schwarzschatten, jedenfalls nicht mehr, als jeder Schüler im ersten Ausbildungsjahr erfuhr. Von den sieben Elementen der Magie kann ein Jan’Tep sechs gefahrlos anwenden: Eisen und Glut, Atem und Blut, Sand und Seide. Mit dem siebten, dem Schatten, verhält es sich anders. Er ist die Leere, das Nichts. Er ist die Abwesenheit jeder lebendigen Magie – ein Ort, an dem ausschließlich dämonische Kräfte gedeihen. Kein Jan’Tep befasst sich freiwillig mit dem Schatten, so wie man sich ja auch nicht freiwillig mit dem roten Tod oder der Lungenfäule anstecken würde. Der Schwarzschatten war eine schreckliche Krankheit, die nur schreckliche Menschen befiel.
Solche wie mich.
Ich rief mir ins Gedächtnis, was mir meine Eltern über meine Großmutter erzählt hatten. Konnte die Krankheit innerhalb einer Familie vererbt werden? Vielleicht übersprang sie ja, wie manche anderen Leiden, eine Generation. Aber warum trifft es dann mich? Ich hatte nicht mal genug Magie, um eine Furche in den Sand zu zaubern, und jetzt das?
Mir kam ein düsterer Gedanke, so wie ein Seidenzauber oder wie eine Schlange, die sich unter die Bettdecke schlängelt, während man schläft. Es hätte Shalla treffen sollen.
Ich verdrängte den Gedanken sofort wieder. Hatte mich der Schwarzschatten etwa schon im Griff? Keiner der Schwarzschatten-Magier in den Geschichten war so jung wie ich, dachte ich voller Verzweiflung. Meine Großmutter musste schon alt gewesen sein, als er sie befallen hatte, von daher blieben mir vielleicht noch viele Jahre. Vielleicht kann ich doch noch so etwas wie ein Leben führen, bevor ich mich in ein Ungeheuer verwandle.
»Es ist ein Fluch«, riss mich mein Vater aus meinen Grübeleien.
»Nein, es ist eine Krankheit«, berichtigte ihn meine Mutter.
Meine Eltern wechselten einen Blick. Anscheinend führten sie diese Diskussion nicht zum ersten Mal. Bloß dass es für mich keine theoretische Diskussion war. »Was ist es denn jetzt? Was geschieht mit mir?«
Meine Mutter widmete sich wieder ihren Gerätschaften und fuhr mit der Hand über eine kleine Feuerschale aus Messing, wobei sie den rechten Zeigefinger anhob, bis die Flamme die gewünschte Höhe erreicht hatte.
»In gewisser Hinsicht hat deine Mutter recht«, antwortete mein Vater. »Ich aber auch.« Er setzte sich neben mich aufs Sofa, was er normalerweise nicht tat. Allein deswegen fühlte ich mich gleich noch unwohler. »Der Schwarzschatten ist tatsächlich eine Art Krankheit, aber eine Krankheit der Magie, nicht der Natur. Der Fluch der Mahdek brachte sie über uns, nachdem wir sie im letzten Krieg zwischen unseren Völkern besiegt hatten. Ihre abscheuliche Hexerei verleiht ihm Macht über uns.«
»Aber die Mahdek sind doch schon lange ausgestorben«, wandte ich ein. »Das sagen alle Meister.« Nur dass du vor zwei Tagen einem ganzen Trupp von ihnen mitsamt ihren Dämonenmasken begegnet bist. »Kann es sein, dass sie zurückgekehrt sind?«
Mein Vater zog die Augenbrauen hoch – ein Zeichen von Hilflosigkeit, das ich schon bei vielen Leuten beobachtet hatte, aber noch nicht bei Ke’heops. »Wenn ich das wüsste, Kellen! Fähigere Magier als ich haben versucht, die Welt von den letzten Resten der Mahdek-Magie zu säubern, aber wenn irgendwer dabei ist, sie wieder aufleben zu lassen …« Er unterbrach sich. Doch weil Männer wie mein Vater die Wahrheit nicht scheuen, setzte er hinzu: »Wir haben einige der begabtesten Magier aus der Generation meiner Eltern an den Schwarzschatten verloren. Er hat sich langsam und unerbittlich in ihre Seelen gegraben, sich um ihre Herzen gewunden, so wie sich die schwarzen Male über ihre Haut wanden. Sobald die Dämonen von ihnen Besitz ergriffen hatten, richtete sich alle Macht, die diese bedeutenden Männer und Frauen einst darauf verwendet hatten, ihr Volk zu beschützen, gegen uns. Es wäre beinahe das Ende unseres Clans gewesen.«
»Genug, Ke’heops!«, sagte meine Mutter von ihrem Arbeitstisch aus. »Der Junge ist schon verstört genug.« Mit einem Glasröhrchen in der Hand kam sie wieder zu uns. »Es gibt Berichte über Magier, die nur einen Tag lang Anzeichen vom Schwarzschatten zeigten. Am nächsten Morgen waren die Male verschwunden und kehrten nie mehr zurück.«
Ich betastete die überschminkten schwarzen Linien um mein linkes Auge. Sie fühlten sich kalt an. »Es ist einfach nicht fair! Ich habe gerade mein erstes Band entfacht! Wieso trifft mich da ein Fluch, der sonst nur Meistermagier befällt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte mein Vater.
Ich weiß es nicht. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese vier Worte einmal aus seinem Mund hören würde. Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Aber vielleicht ist deine Schwäche ja auch ein Vorteil, Kellen. Wenn sich der Schwarzschatten von Magie nährt, müssten deine nicht vorhandenen Fähigkeiten eigentlich dafür sorgen, dass sich die Krankheit nicht ausbreitet.«
Das war immerhin ein Trost. Vielleicht sorgte das, was meine magischen Fähigkeiten schwächte, ja tatsächlich dafür, dass meine Mutter und mein Vater den Schwarzschatten unschädlich machen konnten. Vielleicht konnte ich anschließend meine Fähigkeiten wiedererlangen und meine Prüfungen bestehen. Ich klammerte mich an diesen Hoffnungsschimmer wie ein Ertrinkender an den letzten Schilfhalm, den er erreicht. Ich bitte euch, ihr Götter der Sonne und des Himmels, des Meeres und der Erde – bitte hört auf, mein Leben so grandios zu verderben!
»Trink!« Meine Mutter hielt mir das Gläschen hin.
Ich spähte hinein. Eine blaugrüne Mischung strudelte darin, als wäre sie lebendig. »Wozu ist das gut?«
Meine Mutter lächelte flüchtig und erwiderte mit gespielter Strenge: »Ich befasse mich schon mein Leben lang mit Heilzaubern und jetzt soll ich dir Rechenschaft ablegen?« Sie fuhr mir mit der anderen Hand durchs Haar. »Das soll deine Schürfwunden und Schwellungen heilen, über die wir uns noch unterhalten müssen, sobald wir Dringenderes bewältigt haben.«
Die Aussicht, dass ich später noch Ärger bekommen würde, war seltsamerweise beruhigend. Ausgepeitscht zu werden, ein längerer Hausarrest, ja, sogar die Möglichkeit, doch Sha’Tep werden zu müssen … das alles kam mir plötzlich gar nicht mehr so schrecklich vor.
»Du musst stark sein, Kellen.« Mein Vater stand auf und trat neben meine Mutter. »Stark und tapfer.«
Ich betrachtete meine Eltern. Sie glichen den Porträts der heldenhaften Magier unserer Vergangenheit, als unser Volk noch überall in der zivilisierten Welt gefürchtet und bewundert wurde. Du musst stark und tapfer sein. Ich nahm das Gläschen und trank es aus. »Das kriege ich hin«, sagte ich.
Ich fühlte mich gleich ein bisschen besser, was aber nicht nur an der Arznei lag, sondern auch an den Worten meines Vaters. Ich war noch jung, die schwarzen Male waren eben erst aufgetaucht. Meine Mutter war eine geniale Heilerin, mein Vater einer der mächtigsten Magier unseres Clans. Wenn ich die beiden nur anschaute, war ich beruhigt. Sie würden mich wieder hinbekommen. Alles würde gut werden.
Die erste Träne rann über die Wange meiner Mutter und ich streckte unbeholfen die Hand aus, um sie wegzuwischen. Mein Vater sah ein wenig mitgenommen, aber fest entschlossen aus. Meine Umgebung verschwamm, mein Kopf wurde so schwer, dass ich ihn nicht mehr hochhalten konnte. Da begriff ich, dass überhaupt nichts gut werden würde.
Meine Mutter hatte mir ein Betäubungsmittel verabreicht.