30
Die Gefangene
Die nächsten paar Minuten trieben mich fast in den Wahnsinn. Bei jedem Geräusch, jedem Regentropfen, der durch das löchrige Dach tropfte, jedem Schritt eines Sha’Tep, der nach getaner Arbeit nach Hause ging beziehungsweise rannte, um dem Regen zu entkommen, zuckte ich zusammen. Würde ich als Nächstes Tennat und seine Brüder nach mir rufen hören? Oder Nephenias Schreie?
»Weißt du was?«, sagte Reichis. »Irgendwie mag ich das Menschenweibchen. Vielleicht darf sie doch beide Augen behalten.«
»Wie nett von dir.«
»Aber ein Ohr fresse ich trotzdem.«
Kurz darauf trippelte er zur Tür und hielt die Nase witternd nach draußen. War der Geruchssinn dieses arroganten kleinen Scheißers wirklich so fein, wie er immer tat? »Sie sind weg«, verkündete er. »Dann trennen sich jetzt auch unsere Wege.« Schon war er zur Tür hinaus.
»Halt! Warte doch!«
Er streckte den Kopf wieder herein. »Was ist denn?«
»Ich dachte, du willst mir helfen!«, sagte ich und ärgerte mich sofort, dass es so verzweifelt klang.
Reichis gelang die passable Nachahmung eines Achselzuckens. »Hab ich doch schon. Ich hab dich befreit, bevor dich deine Eltern endgültig … was auch immer. Ich hab dir Blitzkraut gegeben, dich dort rausgeholt und dann in dieses tolle Versteck hier gebracht, wo du erst mal bleiben kannst.«
»Meine Schwester ist in Gefahr! Und Ferius auch! Ich brauche deine Hilfe, um –«
»Du brauchst ?«, wiederholte die Baumkatze. »Du brauchst ganz schön viel, Kleiner. Was springt denn für mich dabei raus?« Er kam zu mir herüber und klopfte mit den Pfoten meine Hosentaschen ab. »Hast du was dabei, worüber wir verhandeln können, hm?«
»Hör auf.« Ich schob ihn weg. Gleichzeitig ärgerte ich mich, dass ich nichts aus dem Zimmer meines Vaters mitgenommen hatte. Zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass ich noch nie das Leben von Menschen, die mir etwas bedeuteten, in die Pfoten eines zu groß geratenen, habgierigen Nagetiers legen musste. »Du hast gesagt … Du hast gesagt, dass es zwischen deinem Volk und den Mahdek eine Tradition gibt. Dass ihr manchmal zusammenarbeitet.«
»Ja und?«
»Dann … dann bist du jetzt eben mein Geschäftspartner.«
Die andere Baumkatze knurrte etwas.
Reichis stieß ein paar sonderbar abgehackte Huster aus. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass er lachte.
»Ha! Was hat der Kleine denn schon zu bieten!« Er stolzierte wie ein Kaufmann um mich herum, der fehlerhafte Ware begutachtet. »Er besitzt nichts Wertvolles, er kann nicht kämpfen, und nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, hat er keinen Funken Magie im Leib. Warum sollte ich da –«
Das andere Tier stürzte sich wieder auf ihn. Diesmal wehrte sich Reichis, lag aber trotzdem im Nu auf dem Rücken. Die weibliche Baumkatze packte ihn an der Kehle und schüttelte ihn durch. »Ist ja gut!«, knurrte er. »Verdammt, bei allen Göttern! Ich mach’s ja!«
Sie schüttelte ihn noch einmal und ließ ihn dann los. Reichis kam mit so viel Würde, wie man in einer solchen Situation aufbringen kann, auf die Beine und fauchte sie wütend an: »Du bist eine schreckliche Mutter, weißt du das?«
»Sie ist deine Mutter
Er machte ein erstauntes Gesicht. »Klar ist sie meine Mutter. Siehst du die Ähnlichkeit denn nicht?« Ohne auf eine Antwort zu warten, redete er weiter: »Na gut. Probieren wir’s. Einmal. Ich helfe dir, deine Schwester und die Argosi zu finden, dafür hilfst du mir, etwas zu kriegen, das ich will. Aber ich bin nicht dein Schutztier, verstanden? Ich bin weder dein Schoßtierchen noch dein Freund. Wenn du deinen Teil der Abmachung nicht einhältst, bin ich weg. Klaro?«
»Klingt fair«, erwiderte ich, sah dabei aber die andere Baumkatze an, die jetzt so sanft aussah, als könnte sie kein Wässerchen trüben.
»Streck die Hand aus«, sagte Reichis.
Auch das noch. Jetzt beißt er mich wieder. Wahrscheinlich gehörte das zu irgendeinem Brauch, aber da ich mich schlecht verweigern konnte, streckte ich ihm meine Hand hin. Tatsächlich grub er mir wieder die Zähne in die Handfläche. Es tat noch mehr weh als bei den ersten beiden Malen. »Gibt es bei euch auch Bräuche, bei denen nicht gebissen wird?«, fragte ich.
Reichis ging in Richtung Tür. »Das hatte nichts mit Bräuchen zu tun. Du gehst mir einfach auf den Sack.«
Da die Wirkung des Blitzkrauts nachgelassen hatte, fiel es mir noch schwerer, mit Reichis und seiner Mutter Schritt zu halten. Die beiden führten mich auf so verschlungenen Wegen durch die frühmorgendlichen Straßen und Gassen, dass ich bald jede Orientierung verloren hatte. Erst als wir vor einer ungefähr drei Meter hohen, mit Schlingpflanzen bewachsenen Mauer stehen blieben, erkannte ich, wo wir waren. »Was wollen wir denn hinter dem Palast?«
»Klettern«, antwortete Reichis knapp, machte einen Satz und hockte im nächsten Augenblick auf der Mauerkrone. Er drehte sich um und sah zu mir herab. »Und zwar geräuschlos, wenn’s geht.«
Ich brauchte ewig, bis ich oben war. Dass Reichis mich die ganze Zeit über auslachte, war keine große Hilfe. Als ich es endlich geschafft hatte, war ich so außer Atem, dass ich kaum sprechen konnte. »Was wollen wir hier?«, schnaufte ich. »Ist meine Schwester hier?«
Es raschelte, als Reichis’ Mutter zu uns hochkletterte. Sie keckerte etwas, das ich nicht verstand. »Wir wissen nicht, wo deine Schwester ist, Kleiner«, antwortete Reichis. »Deshalb sind wir ja hier. Wir müssen mit der Gefangenen reden.«
Mein Blick glitt über die weitläufigen Gärten jenseits der Mauer und blieb am dunklen Umriss der einsamen Hütte hängen. Mir wurde mulmig zumute. Ich war davon ausgegangen, dass mir die Fürstinwitwe helfen wollte oder dass sie zumindest nichts mit dem Komplott gegen meine Familie zu tun hatte – falls es einen solchen tatsächlich gab. »Wen hält Mer’esan denn gefangen?«
Reichis sah mich mit schief gelegtem Kopf an. »Du hast echt keine Ahnung, was? Die Alte hält niemanden gefangen. Sie ist die Gefangene.«