31
Die Zelle
»Es musste wohl so kommen.« Mer’esan hatte die Male um mein Auge sofort entdeckt und ein Anflug von Mitgefühl huschte über ihr Gesicht. »Komm rein. Wir müssen das abdecken, bevor dich jemand sieht.«
Als ich eintrat, sah Mer’esan die beiden Baumkatzen, die mir folgten. Sie kräuselte angeekelt die Oberlippe. »Widerliche kleine Scheusale.«
Reichis trippelte an ihr vorbei. »Du bist auch nicht unbedingt eine Augenweide, du ranzige alte Pflaume.« Er kletterte auf den einzigen anderen Stuhl im Raum, hüpfte von dort auf ein Wandbord und untersuchte den Krimskrams, der darauf stand.
»Und frech obendrein«, sagte Mer’esan und bedeutete mir, dass ich mich ins Licht der Laterne stellen sollte.
»Moment mal … Könnt Ihr sie etwa verstehen?«
»Ich bin dreihundert Jahre alt, Kellen. Da verfüge ich ja wohl über die Magie, diese Spatzenhirne zu verstehen!« Der verächtliche Blick, mit dem sie mich ansah, erinnerte verblüffend an die Blicke, mit denen mich Reichis zu bedenken pflegte, aber ich beschloss, nicht auf diese Ähnlichkeit einzugehen.
Nun zog Mer’esan ein kleines Gefäß aus den Falten ihres Gewandes, tunkte den Finger hinein und verteilte ein wenig Salbe über die Male rings um mein linkes Auge. Sie hat es gewusst,
wurde mir klar. Nicht nur, dass ich den Schwarzschatten habe, sondern auch, dass ich zurückkommen würde.
»So!«, sagte sie, als sie fertig war, und gab mir den Tiegel. »Behalt ihn. Die Salbe passt gut zu deiner natürlichen Hautfarbe, aber du musst später bestimmt noch mehr auftragen, denn sie zieht im Lauf des Tages ein.« Sie fasste mich am Kinn und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. »Die Salbe schützt dich aber nicht, hast du verstanden? Wenn sich ein Magier mit den richtigen Zaubersprüchen auskennt, kann er dich jederzeit entlarven. Und darauf werden sie es anlegen, glaub mir, Sohn des Hauses Ke.«
»Gibt es denn keine Heilung? Könnt Ihr nicht –«
Die Fürstinwitwe ließ sich auf ihrem Stuhl nieder. »Was sagte ich zum Thema Fragen, deren Antworten du schon kennst?«
Mich verließ aller Mut. Sie hatte recht – ich kannte die Antwort bereits.
Meine Eltern hatten mir gestanden, dass sie längst befürchtet hatten, die Krankheit könnte bei mir ausbrechen. Bestimmt hatten sie fieberhaft nach einem Heilmittel gesucht, und sei es auch nur deshalb, damit ich dem Ruf unseres Hauses nicht schadete und Vaters Anspruch auf die Fürstenwürde nicht gefährdete. Haben sie mich überhaupt je als ihren Sohn betrachtet? Oder nur als eine Gefahr, die man, so gut man kann, abwehren muss?
»Oje«, raunte Reichis von seinem Wandbord, »jetzt heult er wieder.«
»Gar nicht!«
»Es sind beschränkte Geschöpfe«, sagte Mer’esan. »Sie sind zwar schlau und hinterhältig, aber Mitleid ist ihnen fremd.«
Reichis’ Mutter stieß ein dumpfes Knurren aus und die Fürstinwitwe nickte. »Da könntest du recht haben, kleine Mutter. Ich nehme alles zurück.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Sie hat mich daran erinnert, dass es unserem Volk manchmal genauso an Mitleid mangelt.«
»Dann stimmt es also? Ihr seid hier drin eingesperrt?« Ich sah mich in dem kärglichen Raum um, aber weder dort, wo die Wände auf den Fußboden trafen, noch an der Unterkante der Tür war zu erkennen, dass hier eine Magierin gefangen gehalten wurde.
»Ich kann jederzeit gehen«, erwiderte Mer’esan.
»Dann seid Ihr also keine Gefangene?«
»Jeder von uns ist auf seine eigene Weise gefangen, Kellen.«
»Schon, aber …« Als ich den seltsamen Ausdruck in ihrem Gesicht sah, verstummte ich. Plötzlich verstand ich, dass nichts, was ich sagte oder fragte, sie dazu bewegen würde, meine Frage zu beantworten. Was im Grunde schon die Antwort war. »Eine Gedankenfessel?!«, entfuhr es mir. Ich staunte, dass so etwas bei einer Magierin von Mer’esans Format überhaupt wirkte.
Sie äußerte sich nicht dazu, sondern lehnte sich nur zurück und betrachtete gelassen die Wand. Die Zauber, die ihre Haut unter dem seidenen Gewand leuchten ließen, waberten und schimmerten und ihre Züge veränderten sich unablässig. Manchmal sah sie jung und schön aus, fast unschuldig, dann sah man ihr wieder jedes einzelne ihrer dreihundert Jahre an.
Auf einmal packte mich der Zorn. Wer hatte sie gefesselt? Wer besaß solche Macht? Mer’esan war viel mächtiger als Ra’meth, mächtiger sogar als mein Vater. Vielleicht, wenn sich der gesamte Magierrat zusammentat … aber das kam so gut wie nie vor. Blieb nur noch … »Euer Gatte – hat Euch der Fürst das angetan?«
Wieder bekam ich keine Antwort, als hätte sie mich überhaupt nicht gehört. Die Gedankenfessel hindert sie daran, irgendetwas zu sagen oder zu tun, was den Zauber beeinträchtigt.
Trotz ihrer Gefasstheit erkannte ich großes Leid in ihren Augen. Leid und Kummer über diesen Verrat.
Reichis’ Mutter kletterte auf ihren Schoß, was überraschend zutraulich wirkte. »Widerwärtiges kleines Biest«, sagte die Fürstinwitwe und streichelte sie.
»Und wenn wir Euch hier wegbringen?«, fragte ich. »Würde die Fessel dann immer noch –«
»Ich mag die alte Hütte«, fiel mir Mer’esan ins Wort. »Ich habe mich daran gewöhnt. Die Hütte ist wie meine eigene kleine …« Sie schien um das nächste Wort zu ringen, bevor sie schließlich sagte: »Oase.«
Die Hütte ist ihre Machtquelle, deshalb verlässt sie sie nie.
Nur hier konnte sie die Kraft für die Zauber aufbringen, die ihren gealterten Körper zusammenhielten. »So viele Jahre …«, sagte ich nachdenklich. Hatte sie die ganze Zeit darauf gewartet, dass der Fürst endlich starb und sein Zauber sich verflüchtigte?
»Das, was wir im Leben schaffen, überdauert uns oftmals«, sagte sie sinnend.
Wahrscheinlich wollte sie damit sagen, dass die Gedankenfessel zu mächtig war. Obwohl ihr Mann nicht mehr lebte, war sie immer noch seine Gefangene.
Und dann? Sie hatte erkannt, dass sie den Zauber niemals loswerden würde, dass sie immer so weitermachen musste und die Wahrheit erst ans Licht kommen würde, wenn sie starb. Was ihr blieb, war das Warten auf eine Gelegenheit. Auf jemanden, der die richtigen Fragen stellte, um die Fessel zu lösen. »Deswegen habt Ihr mich neulich kommen lassen, nicht wahr?«, sagte ich, auch wenn ich wusste, dass sie nicht antworten würde. »Es war Euch gleichgültig, ob ich meine Prüfungen bestehe. Ihr habt jemanden gesucht, der Euer Geheimnis lüftet. Deshalb wart Ihr auch so an Ferius interessiert. Ihr dachtet, dass vielleicht eine Argosi wie sie dahinterkommt.« Warum hatte sie dann nicht einfach Ferius zu sich bestellt? Weil das zu direkt gewesen wäre. Das hätte die Gedankenfessel nicht zugelassen.
Die mächtigste lebende Magierin meines Volkes hatte nur noch hoffen können, dass ihr Geheimnis durch das Zusammenwirken von äußeren Umständen und sanfter Manipulation vom allerschwächsten Magier unseres Clans enthüllt wurde: von mir.
Also gut. Dann finde heraus, welches Geheimnis sie bindet.
Ich überlegte, wie ich die Fessel umgehen konnte. Konnte ich ihr die Frage vielleicht auf Umwegen stellen, sodass sie antworten durfte? Doch ein so starker Zauber, den auch noch der Fürst selbst gewirkt hatte – und das wahrscheinlich zu einer Zeit, als er noch auf dem Höhepunkt seiner magischen Kräfte gewesen war –, ließ sich nicht einfach durch eine pfiffige Frage knacken. Keine Frage, kein Rätsel, kein Ratespiel würde der Fürstinwitwe entlocken, was sie in sich verschloss. Lass dir etwas anderes einfallen. Dreh den Spieß irgendwie um.
»Was hast du vor, Kleiner?«, erkundigte sich Reichis.
In einer Ecke stand ein kleiner Tisch. Ich stellte ihn vor Mer’esan und holte das Kartenspiel aus der Hosentasche, das mir Ferius geschenkt hatte. Dann legte ich die Karten mit den Bildern nach oben aus. Vier Farben, eine jede mit ihren eigenen Symbolen: weiße siebenzackige Sterne, die wir »Septagramme« nennen und die für die Magie und das Volk der Jan’Tep stehen; goldene Schilde für das Reich der Daroman; Silberkelche für die Berabesk und Blätter für die Mahdek.
»Wer so viele Probleme hat wie du, sollte seine Zeit nicht damit vergeuden, mit einer alten Frau Karten zu spielen«, sagte Mer’esan.
»Nur ein Spiel.« Ich strich mit den Fingerkuppen über die Karten. Jede Farbe hatte die gleichen Zahlen, aber die Bezeichnungen am unteren Rand waren unterschiedlich. Die höchste Karte der Daroman-Farbe war der König, bei den Berabesk hieß die Karte dagegen »Großwesir« und bei den Jan’Tep natürlich »Clanfürst«. So ging es immer weiter, bis hin zu den niedrigsten Zahlen. Sie alle zeigten Menschen in verschiedenen Umgebungen – wie Schauspieler, die auf ihren Auftritt warten.
»Welches Spiel möchtest du denn spielen?«, wollte Mer’esan wissen.
Ich fing ihren Blick auf und versuchte zu erkennen, ob sie begriff, was ich vorhatte. Würde meine List es ihr ermöglichen, die Gedankenfessel zu umgehen? Ich nahm eine Karte auf – es war die Blatt-Sieben, auf der ein sogenannter Mahdek-Schamane abgebildet war – und warf sie vor ihr auf den Tisch. »Wir spielen unser eigenes Spiel«, antwortete ich.
Ihre Augen wurden schmal, aber sie lächelte flüchtig. »Sehr klug«, sagte sie und schob die restlichen Karten zusammen. »Wie wollen wir unser Spiel nennen?«
»Benennen wir es doch nach dem einzigen Widersacher, den man mit Magie nicht besiegen kann – die Wahrheit.«