32
Das Spiel
Unser Spiel ergab keinen Sinn, die Regeln änderten sich ständig, falls es überhaupt welche gab, aber das machte nichts. Mich interessierte nur die Geschichte, die Mer’esan so verzweifelt erzählen wollte – die Geschichte, die sie schon seit Hunderten von Jahren in sich bewahrte.
Wir saßen einander gegenüber. Sie mischte die Karten und gab jedem von uns dreizehn davon aus, alle mit der Bildseite nach oben, und zwar in zwei Reihen. Eigenartigerweise waren alle Figuren auf ihren Karten mit siebenzackigen Sternen ausgestattet. Ob nun durch List oder Magie, jedenfalls hatte sie sich selbst den vollständigen Satz der Zauber-Karten ausgeteilt – die Farbe der Jan’Tep.
Als ich meine Karten betrachtete, stellte ich fest, dass auf allen schwarze Blätter waren. Ich soll die Mahdek spielen.
Die übrigen Karten fächerte Mer’esan in drei Kreise auf. Den größten platzierte sie zwischen uns in der Tischmitte, und zwar mit der Bildseite nach unten. »Die Oase«, verkündete sie, dann legte sie zwei kleinere Kartenkreise ab, einen rechts und einen links davon.
Nach kurzer Überlegung fragte ich: »Duellkreise?«
Sie nickte und legte eine ihrer Karten mit dem Bild nach oben in ihren eigenen Kreis. Über den ausgestreckten Händen der jungen Frau darauf schwebten sieben Septagramme. »Du bist dran«, sagte sie.
Als ich selbst eine Karte aufnehmen wollte, begriff ich plötzlich, worauf sie hinauswollte. »Ihr spielt die Duelle aus dem letzten Krieg zwischen den Jan’Tep und den Mahdek nach. Aber warum?«
»Es ist nur ein Spiel«, antwortete sie. »Jetzt du.«
Der letzte Krieg hatte vor fast dreihundert Jahren stattgefunden, zu jener Zeit musste Mer’esan noch eine junge Frau gewesen sein. Die Jan’Tep wurden damals beinahe vernichtet. Die Mahdek hatten Schattenmagie eingesetzt und damit Dämonen entfesselt, die die Kinder der Jan’Tep im Schlaf heimsuchten. Damit hatten sie auch die mächtigsten Magier verwirrt und abgelenkt. Meine Vorfahren hatten sich gewehrt, indem sie sich der anderen sechs Elemente der Magie bedienten: Eisen und Glut, Atem und Blut, Sand und Seide.
Weil mir die Regeln nicht klar waren, griff ich nach der nächstbesten Karte. Sie hieß »Der Wächter der Blätter« und zeigte einen Bogenschützen. Er schoss acht Pfeile in die Luft, deren Befiederung jeweils aus einem schwarzen Blatt bestand. Ich legte die Karte in meinen Kreis.
»Verloren!«, erklärte Mer’esan und nahm mir die Karte weg.
»Warum? Ich hatte die Blatt-Acht, Ihr nur die Zauber-Sieben. Da müsste meine Karte doch –«
»Deine Karte kann sich nicht verteidigen. Sie ist in Trauer.«
»In Trauer? Was bedeutet das?«
Sie deutete auf die beiden Kartenreihen vor mir. Zwei Karten lagen plötzlich mit dem Gesicht nach unten. »Diese Karten spielen nicht mehr mit. Dein Wächter trauert um sie.«
Ich schaute unter die umgedrehten Karten. Es waren beides niedrige Zahlen, eine Zwei und eine Drei. Auf jeder war ein Kind abgebildet.
»Wähl deinen nächsten Krieger!«, befahl Mer’esan.
Verunsichert legte ich wieder eine Bildkarte aus. Diesmal war es eine Neun – »Der Schamane der Blätter«.
»Pech.« Mer’esan nahm mir auch diese Karte weg.
»Lasst mich raten. Diese Karte ist auch ›in Trauer‹?«
Mein ironischer Ton ärgerte sie und sie funkelte mich an. »Richtig.«
Ich betrachtete meine verbliebenen Karten und entdeckte noch eine, die verkehrt herum lag, ohne dass es mir vorher aufgefallen war. Es war eine Fünf. »Die Mahdek haben unser Volk angegriffen, nicht umgekehrt. Sie waren diejenigen, die –«
»Du sollst spielen!«
Diesmal nahm ich drei Karten auf einmal, darunter auch die mit der höchsten Zahl, den »Sprecher der Blätter«, und legte sie in meinen Kreis.
»Trauer.« Mer’esan griff erst nach dem Sprecher und ließ ihn auf den wachsenden Stapel der aussortierten Karten fallen, dann nahm sie die zweite und die dritte Karte auf. »Trauer und noch mehr Trauer. So kannst du nicht gewinnen.«
Mein Kreis war wieder leer. Außerdem lagen jetzt fast alle Karten auf meiner Tischseite mit dem Gesicht nach unten – wie Leichen, die auf einem Schlachtfeld aufgereiht sind. »Aber so war es nicht!«, protestierte ich. »Die Jan’Tep haben sich mit den Dämonenbeschwörern der Mahdek bekriegt, nicht mit ihren Kindern.« Ich stand auf. »Warum lügt Ihr?«
Mer’esan wich meinem Blick aus. »Setz dich«, sagte sie. »Das Spiel ist noch nicht zu Ende.«
»Wie soll ich denn spielen?«, fragte ich. »Jedes Mal, wenn ich eine Karte ausspiele, verkündet Ihr, dass sie nutzlos ist!«
»Du hast keine Karten mehr übrig«, antwortete sie. »Jetzt kannst du nur noch zuschauen.«
Widerstrebend setzte ich mich wieder und Mer’esan legte eine ihrer eigenen Karten, den Zauber-Clanfürsten, in die Oase. Ihre Hände zitterten. Kam es davon, dass sie gegen die Gedankenfessel ankämpfte, oder wühlten schmerzliche Erinnerungen sie auf?
Sie schob den Fingernagel unter eine der Karten, die den aufgefächerten Kreis der Oase bildeten, und drehte sie um, worauf die anderen Karten im Kreis ebenfalls umgedreht wurden, bis sie alle mit der Bildseite nach oben dalagen. Es handelte sich ausschließlich um Septagramme. Die Oase war von den Jan’Tep übernommen worden. »Du hast verloren«, sagte sie.
»Ich kapier’s nicht. Welchen Zauber hat der Fürst gewirkt?«
»Den einzigen, auf den es ankommt. Den, mit dem man das Spiel gewinnt.«
Ich folgte ihrem Blick, der auf die vor mir liegenden Mahdek-Karten gerichtet war. Auch sie lagen jetzt alle mit dem Gesicht nach oben – und alle Blätter darauf waren auf einmal blutrot.
Ich schüttelte den Kopf. »Das ergibt doch keinen Sinn!« Oh doch. Du willst es nur nicht akzeptieren.
Mein Volk wohnte in schönen Städten, brachte aber selbst keine bedeutenden Baumeister hervor. Unsere Magie rührte von den Oasen in der Mitte dieser Städte her, aber wir waren nicht in der Lage, selbst Oasen zu errichten. Wir behaupteten stets, unsere großartigen Ahnen hätten all das für uns erschaffen und es sei unsere Pflicht, es vor dem Zugriff unserer Feinde zu bewahren.
Aber die Mahdek hatten nie versucht, uns die Oase wegzunehmen.
Wir hatten sie ihnen weggenommen.
Die Mahdek hatten den Krieg zwischen unseren beiden Völkern nicht angefangen.
Wir hatten sie im Schlaf abgeschlachtet, angefangen mit ihren Familien und Kindern.
Wir hatten ihnen ihre Zukunft geraubt.
»Wie konnte das passieren?«, fragte ich.
Mit tränenüberströmtem Gesicht drehte Mer’esan eine der Karten aus dem Kreis wieder um, wodurch alle anderen ebenfalls umgedreht wurden. Das Muster auf der Rückseite war verschwunden, sie waren jetzt schwarz. Die Farbe des Schattens. Es gab nur einen einzigen Zauber, der die Macht der Leere beschwor.
»Das kann nicht sein!«, sagte ich. »Die Mahdek waren Dämonenbeschwörer, unser Volk hätte niemals –«
Ein Aufschluchzen entschlüpfte der Fürstinwitwe, als die letzten Glieder der Gedankenfessel von ihr abfielen. »Willst du mir etwa die Spielregeln erklären?«
Ich betrachtete die Karten, die meine Vorfahren darstellten – die Ahnen, die ich mein Leben lang verehrt hatte und von denen ich jetzt wusste, dass sie entsetzliche Gräueltaten begangen hatten, dass sie die Kinder unserer Feinde ermordet hatten, um ihre Magier zu schwächen. »Dann … hat der Krieg so geendet? Mit Meuchelmord und dunkler Magie?«
»Geendet?« Sie nahm die Karten aus der Oase und behielt sie in der Hand. »Nein, Kellen aus dem Hause Ke. Hat ein Spiel wie dieses erst einmal angefangen, ist es nie zu Ende.« Sie legte die Karten aufgedeckt auf den Tisch, eine über die andere, immer schneller. Die Bilder wechselten so rasch, dass ich sie nicht mehr unterscheiden konnte, aber ich glaubte, etwas anderes zu erkennen, etwas …
»Halt!«, rief ich. »Ich kann nicht sehen, was passiert.«
»Das kann man nie«, sagte sie und hielt endlich inne, indem sie die letzte Karte oben auf den Stapel legte.
Da stand ein junger Mann, umgeben von sechs Büchern, ein jedes mit einem Septagramm versehen. Die Karte hieß »Der Schüler der Zauber« und ich hatte sie schon mal gesehen: einmal, als Ferius mir ihr Kartenspiel vorgeführt hatte, und auch vorhin, als Mer’esan sie bei unserem Spiel ausgelegt hatte. Aber etwas war jetzt anders.
Die Gestalt auf der Karte hatte den gleichen wissbegierigen Gesichtsausdruck wie vorher, nur sah ich jetzt, dass sich um ihr eines Auge schwarze Male wanden. Genau wie bei mir.
»Das … Was wollt Ihr mir damit sagen, Mer’esan?«
Sie drehte die Karte um. Auf der Rückseite war wieder das unauffällige Muster zu sehen. »Gar nichts, Sohn des Ke. Wir spielen bloß.«
Mit bebenden Fingern betastete ich die kalte Haut um mein linkes Auge. »Der Schwarzschatten … Als unsere Ahnen erkannten, dass ihnen die Macht fehlte, die Mahdek zu besiegen, riefen sie … riefen wir  … Dämonen an. Wir haben erst die Familien der Mahdek abgeschlachtet, um den Willen der Magier zu brechen, und dann die Magier selbst.«
Mer’esans Gesicht blieb ausdruckslos, aber ihr liefen immer noch Tränen über die Wangen. »Das wäre jedenfalls eine solide Taktik, wenn man das Spiel um jeden Preis gewinnen will.«
»Aber darum geht es doch … um den Preis! Die Mahdek haben nicht uns mit dem Schwarzschatten verflucht, sondern wir haben uns selbst infiziert, als wir mithilfe der Magie der Leere die Dämonen angerufen haben.«
Mer’esan atmete so tief aus, dass es wie ein Seufzer klang. Dann wischte sie sich die Tränen ab. Die Gedankenfessel hatte sich endgültig verflüchtigt. »Geschichte wird von den Siegern geschrieben«, sagte sie, »aber die Wahrheit findet immer einen Weg ans Licht.«
Als ein dumpfes Knurren ertönte, schaute ich nach unten. Reichis’ Mutter funkelte die Fürstinwitwe an.
»Was hat sie gesagt?«, fragte ich Reichis.
Doch Mer’esan antwortete schon: »Dass es nicht recht ist, wenn Eltern ihr Kind für Verbrechen büßen lassen, an denen das Kind gar nicht beteiligt war.«
Ich spürte einen harten, kalten Klumpen im Magen. »Dann sag ihr, dass sie die Jan’Tep nicht versteht.«
Mer’esan nahm eine Karte nach der anderen vom Tisch und überreichte sie mir. »In der Vergangenheit jeder Gesellschaft lassen sich Gräueltaten aufdecken, Kellen. Glaubst du, das Reich der Daroman wurde allein mit Mut und militärischem Geschick errichtet? Oder dass die Wesire der Berabesk ihrem sechsgesichtigen Gott nur mit Gebeten und feierlichen Zeremonien huldigen?«
»Wie könnt Ihr bloß so ruhig bleiben?«, fragte ich zurück. »Euer eigener Gatte hat Euch magische Gewalt angetan, damit Ihr das, was er und die anderen im Namen unseres Volkes getan haben, nicht preisgebt.«
»Er war kein schlechter Mann«, entgegnete sie. »Er hat das Schicksal unseres Volkes vorhergesehen – mit dem Reich der Daroman im Osten und den Berabesk im Süden, die uns wegen unserer – wie sie es nennen – ›Teufelsmagie‹ mit Freuden ausgelöscht hätten. Um zu überleben, mussten wir unsere Zauber stärken und mehr junge Magier ausbilden denn je. Die Mahdek kannten das Geheimnis, wie man inmitten von Städten Oasen erschafft, die die Zauberkraft stärken und es den Kindern erleichtern, die Kunst der Magie zu erlernen.«
»Hätten uns die Mahdek denn ausgelöscht?«
»Das spielt keine Rolle. Wir durften es nicht darauf ankommen lassen. Wir mussten ihnen die Oase in dieser Stadt nehmen – und alle anderen Oasen auch.« Sie stand auf und durchquerte den Raum. »So sind nun mal die Spielregeln, Kellen.«
»Wartet … Wo wollt Ihr denn hin?«
Sie blieb stehen, hatte aber die Hand schon auf der Türklinke. »Die Fesseln, die mich seit fast dreihundert Jahren hiergehalten haben, sind von mir abgefallen. Jetzt würde ich gern ein bisschen rausgehen.«
Als ich Mer’esan in die kühle Nachtluft hinaus folgte, ließ sie den Blick über die fürstlichen Gärten schweifen, die still und dunkel dalagen. Wann sie wohl angelegt worden waren? Wer kümmerte sich darum? Hatte die Fürstinwitwe sie überhaupt schon einmal richtig betreten? Doch keine dieser Fragen war jetzt von Belang.
Jenseits der Gärten ragte der stolze Palast empor, der Regierungssitz unseres Clans. Allerdings hatten wir auch ihn nicht eigenhändig erbaut. »Haben wir selbst denn überhaupt nichts erschaffen?«, fragte ich.
Mer’esan stieß ein bitteres Auflachen aus. »Doch, selbstverständlich. Die Mahdek waren noch nie besonders zahlreich und diese Stadt hier zum Beispiel war viel zu klein, um unser ganzes Volk aufzunehmen. Deshalb haben wir –«
»Die Armenviertel gebaut«, ergänzte ich den Satz grimmig. »Die Behausungen für die Sha’Tep.« Minderwertige Gebäude aus rauen Brettern und unbehauenem Sandstein. »In dreihundert Jahren haben wir nicht mehr zustande bekommen als ein paar erbärmliche Bruchbuden.«
»Unsere Leute haben sich nie für Baukunst interessiert, Kellen. Unsere Berufung ist die Magie, nur danach trachten wir.«
Ich dachte an die Krankheit, die einige der anderen Schüler befallen hatte, und ich dachte an Shalla. »Ich muss meine Schwester suchen. Jemand will unserem Volk Schaden zufügen, so wie wir den Mahdek Schaden zugefügt haben. Sie vernichten die Kinder, damit –«
Mer’esan fiel mir ins Wort: »Stimmt das denn? Vernichten sie die Kinder?«
Warum musste sie eigentlich alles in rätselhafte Fragen verpacken, verflixt noch mal? Aber natürlich kannte ich auch diesmal die Antwort. Als die Maskierten uns überfallen hatten, hatten sie Shalla nicht getötet, sondern es darauf angelegt, dass sie eine Verbindung mit einem kranken Tier einging. Sie hatten lediglich ihre Magie auf Dauer schwächen wollen. Das Gleiche passiert auch mit den anderen Schülern.
»Wer kann wollen, dass unser Volk überlebt, unsere Magie jedoch schwindet?«
Mer’esan zuckte mit den Achseln. »Eine nachvollziehbare Frage, aber leider nicht die richtige.«
Ich schloss die Augen und versuchte erst, mir sämtliche Teile des Puzzles vorzustellen und sie dann im Geiste so zu arrangieren wie das komplizierte Diagramm eines Zaubers. »Ihr habt vorhin gesagt, wir hätten vor dem Krieg nicht so viele Magier gehabt wie jetzt, und so mächtig wie heute seien sie auch nicht gewesen.«
»Stimmt!«, mischte sich Reichis plötzlich ein und fauchte. »Wir nennen das ›die gute alte Zeit‹.«
Ich hatte mich schon so daran gewöhnt, ihn nicht als Nekhek zu sehen, dass ich ganz vergessen hatte, dass die Baumkatzen uns ja als Feinde betrachteten.
»Sieh mich nicht so an!«, sagte er, als er meinen Blick auffing. »Wenn es so einfach wäre, hätten wir uns längst in eure Häuser geschlichen und euch die –«
»Augen rausgerissen, schon klar.«
Mer’esan tippte mir auf die Stirn. »Konzentrier dich.«
»Die eigentliche Frage ist also die: Wer hat am meisten davon, wenn unsere Magie schwächer wird?« Nein, das trifft es auch nicht. Ich kam mir vor, als versuchte ich, einen Zauber vorzubereiten. Jedes Detail musste stimmen, sonst funktionierte es nicht.
Dann hatte ich eine Eingebung. »Wer hat am meisten darunter zu leiden, wenn die Magier zu mächtig werden?«
Mer’esan lächelte. »Ganz recht. Und nachdem du jetzt die Frage weißt, kennst du bestimmt auch die Antwort darauf.«
Genauso war es. Wie oft hatte ich in meinem Zimmer gesessen und mich angstvoll gefragt, was aus mir werden sollte, wenn es mir nicht gelang, meine Bänder zu entfachen. Wenn ich erlebte, wie Shalla oder einer der anderen Schüler Fortschritte machte, war ich sauer geworden. Weil sie mich dann verspotten und von oben herab behandeln würden – weil sie erwarten würden, dass ich mich ihnen unterordne und sie bediene. Wie es mit allen geschieht, die keine eigenen magischen Kräfte besitzen.
»Diejenigen, die am meisten darunter leiden, wenn die Magie zu mächtig wird, sind diejenigen, die keine besitzen. Die Sha’Tep.«
Mer’esan nickte. »Je stärker unsere Magie wird, desto größer wird die Kluft zwischen uns und ihnen. Von Generation zu Generation verwandeln sich die Sha’Tep immer mehr in Sklaven.«
»Was ist ein Sklave?«, wollte Reichis wissen. Die andere Baumkatze keckerte etwas in seine Richtung, und nachdem er es verdaut hatte, sah er mich an. »Menschen sind so was von ekelhaft.«
»Denk weiter nach«, sagte Mer’esan. »Wenn es stimmt, dass die Verschwörer Sha’Tep sind, dann haben sie deine Schwester und die Argosi an einen Ort gebracht, der uns zwar unsere Magie liefert, den wir selbst aber nicht betreten können.«
»Die Oase? Aber da gehen wir doch ständig hin. Dort erlernen wir die Magie doch erst!«
»Ist die Oase die Quelle oder nur der Brunnen?«
Ich wurde ärgerlich. »Stellt mir nicht ständig Rätselfragen! Meine Schwester und meine Freundin sind in Gefahr!« Ich betrachtete wieder die Bänder auf meinen Unterarmen. Warum hatte ich nicht wenigstens mein Seidenband entfacht? Dann hätte ich jetzt einen Wahrsagezauber durchführen können. Doch Mutter meinte, dass sie Shalla damit schon gesucht, aber nicht gefunden hat. Die Quelle oder der Brunnen … »Ihr meint das Bergwerk! Die Oase wird zwar als Quelle bezeichnet, aber nur mit den Erzen aus dem Bergwerk können wir die Tinten für unsere Bänder herstellen.«
»Ja und?«, fragte Reichis verständnislos.
»Magier können das Bergwerk nicht betreten, weil das unverarbeitete Erz sie krank macht. Die Sha’Tep müssen es für uns abbauen, damit wir uns mit den sechs Elementen der Magie verbinden können.«
Mer’esan streckte den Zeigefinger aus und berührte meine linke Wange dicht unter dem Auge. Es fühlte sich ganz seltsam an … wie die Spannung in der Luft, wenn es blitzte. »Sieben. Es gibt sieben Elemente der Magie, Kellen.«
Vor lauter Eifer, der Fürstinwitwe dabei zu helfen, ihre Gedankenfessel zu sprengen, und angesichts der Enthüllung der Gräuel, die meine Vorfahren den Mahdek angetan hatten, hatte ich gar nicht mehr an den Schwarzschatten gedacht, der mich selbst für immer zeichnete. Ich hatte ihn meiner eigenen Großmutter zu verdanken. »Warum hat sie mir das angetan?«
»Wer weiß? Vielleicht war sie wahnsinnig. Vielleicht hatte die Krankheit ihren Verstand aufgezehrt.«
»Ich bin froh, dass mein Vater sie umgebracht hat. Sie hat den Tod verdient«, rutschte es mir heraus.
Mer’esan zog ihre Hand weg. »Die Seren’tia, die ich kannte, war eine weise Frau, eine kundige und geschickte Magierin.«
»Bis sie wahnsinnig wurde.«
Die Fürstinwitwe sah mich an. Ihre Miene drückte weniger Missbilligung als … tiefe Traurigkeit aus. »Wir beide, du und ich, müssen uns entscheiden. War deine Großmutter eine hassenswerte Verrückte, die dir Böses wollte, oder blieb ihre Seele teilweise unversehrt und sie hatte etwas erkannt, das wir beide nicht verstehen? Magie ist weder gut noch böse. Es kommt immer nur darauf an, zu welchem Zweck wir sie einsetzen.«
»Zu welchem Zweck denn? Warum wollte meine Großmutter, dass ich den Schwarzschatten kriege?«
»Das wird die Zeit zeigen – aber nur dann, wenn du lange genug am Leben bleibst, um den Pfad zu beschreiten, der vor dir liegt.« Sie wandte sich ab und betrat den Gartenweg. »Mein Pfad führt mich woandershin.«
»Wartet!«, rief ich. »Wir müssen die Verschwörung der Sha’Tep aufhalten! Ihr müsst mir helfen –«
Sie blieb noch einmal kurz stehen. »Ich habe unserem Volk dreihundert Jahre geschenkt, Kellen, von denen ich den Großteil unter einem Bann zugebracht habe, den der Mann gewirkt hat, den ich liebte und der mich liebte. Die Magie hat mich gefesselt und jetzt habe ich genug davon – genauso wie von der Vergangenheit. Die Zukunft gehört dir und deiner Generation. Mir bleibt nur noch eines zu tun.«
»Und das wäre? Was könnte wichtiger sein als die Zukunft unseres Volkes?«
»Ich möchte in meinem Garten spazieren gehen«, sagte sie schlicht und schritt mit ausgestreckten Händen auf die Blumenbeete zu. Bei jedem Schritt flackerten die Zauber unter ihrem seidenen Gewand auf. Doch dann verblassten sie und die Haut unter dem Stoff und auch die Muskeln und Knochen unter der Haut zerfielen. Noch ehe sie ein einziges Blütenblatt berührt hatte, war die Fürstinwitwe zu Staub zerfallen.