35
Im Labyrinth
Nachdem ich Ferius losgebunden hatte, nahm ich Shalla auf die Arme und wir liefen durch die unterirdischen Gänge, so schnell wir konnten. Was allerdings nicht besonders schnell war, denn wie sich herausstellte, war ich nicht so stark, wie ich immer gedacht hatte. Ich hatte Mühe, Shalla nicht fallen zu lassen oder selbst hinzufliegen.
»Gib sie mir«, sagte Ferius. »Du kommst ja kaum hinterher.«
»Und du bist kaum bei Sinnen«, gab ich zurück.
»Elende Betäubungsmittel. Sie haben mir irgendwas eingeflößt. Das Zeug macht mich ganz benommen.«
Ich lauschte in jeden Tunnel hinein, ehe ich abbog. Hinter uns hallten schon die schweren Schritte unserer Verfolger wider. »Wie viele kommen denn da noch?«
»Fünf«, brummte Reichis«.
»Sechs«, sagte Ferius und warf der Baumkatze einen Seitenblick zu. »Was hat er gesagt?«
Ferius und Reichis fingen an, sich zu zanken, wer von beiden die besseren Ohren hatte. Das wäre weniger nervtötend gewesen, wenn ich nicht andauernd hätte übersetzen müssen. Wer nun recht hatte, war mir im Grunde egal, aber weil ich nicht wusste, wie gut Baumkatzen zählen konnten, entschied ich mich einfach für die höhere Zahl.
Hinter der nächsten Biegung gingen drei enge Gänge in unterschiedliche Richtungen ab. Alle drei sahen gleich dunkel, feucht und bedrohlich aus. »Wo geht’s denn jetzt nach draußen?«, fragte ich.
Ferius spähte in jeden der drei Gänge hinein und kämpfte tapfer gegen ihre Benommenheit an. »Noch dreißig Meter geradeaus und dann nach rechts.«
Reichis lief voraus, machte aber gleich wieder kehrt. »Hier nicht«, verkündete er und sauste an uns vorbei zurück.
In den nächsten paar angstvollen Minuten verfielen wir in ein Muster, das uns immer wieder umkehren oder in einen anderen Gang eilen ließ, sobald wir die Maskierten kommen hörten. Dabei wählte Ferius den erfolgversprechendsten Weg aus und Reichis schaute nach, ob der betreffende Gang tatsächlich nach draußen oder eher weiter in die Gefahr hineinführte.
Das Problem war, dass Ferius, so gut ihr Orientierungssinn auch sein mochte, den Weg nur einmal gegangen war. Die Maskierten dagegen kannten sich hier unten aus. Jedes Mal, wenn wir glaubten, wir würden uns dem Ausgang nähern, schnitten sie uns den Weg ab und wir mussten wieder umdrehen.
»Sie treiben uns vor sich her«, schimpfte Reichis.
»Stimmt«, sagte Ferius, nachdem ich übersetzt hatte. »Schätze mal, genau das haben sie vor.«
Da uns nichts anderes übrig blieb, liefen wir einfach weiter. Ich musste jetzt öfter stehen bleiben, mich hinknien und Shalla auf meinen Oberschenkeln ablegen, um meinen Armen ein wenig Erholung zu gönnen. Ich versuchte auch, sie wach zu bekommen, damit sie vielleicht allein laufen konnte, aber die Erzadern in den Felswänden, die bei mir Übelkeit hervorriefen, mussten für jemanden mit Shallas magischen Fähigkeiten unendlich viel schlimmer sein.
Wir wurden langsamer, und das entging unseren Verfolgern nicht. In ihre trampelnden Schritte mischte sich Gelächter. Die Hyänen hatten ihre Beute beinahe zur Strecke gebracht.
»Lauf du weiter, Kleiner.« Ferius ließ sich gegen die Wand sinken. »Die Baumkatze und ich halten die Kerle auf, bis du –«
»Ich lasse euch nicht hier zurück!«
»Und ich habe mich ja wohl nicht freiwillig dafür gemeldet, hier unten abzukratzen, nur damit zwei erbärmliche Menschen weiterleben können!«, kam es von Reichis.
»Keiner von euch verlässt das Bergwerk!«, rief jemand hinter uns.
Wortlos hoben Ferius und ich Shalla hoch. Jeder legte sich einen ihrer Arme um den Hals und wir stolperten mit letzter Kraft und von Angst getrieben weiter.
Die Stiefeltritte folgten uns, wurden aber ebenfalls langsamer. Dann endete der Gang in einer Sackgasse.
»Die Bergarbeiter der Sha’Tep verbringen ihr halbes Leben damit, dieses Labyrinth auswendig zu lernen!«, rief es hinter uns, deutlich näher als vorher. »Eine falsche Abzweigung und man stürzt in einen Abgrund oder verirrt sich hoffnungslos. Und wenn man bei einem Einsturz umkommt, ist man hier unten verrottet, bis jemand einen findet. Habt ihr überhaupt noch eine Vorstellung, wo ihr seid?«
Als wir uns umdrehten, kamen sechs Gestalten mit bemalten Holzmasken auf uns zu. Wieder war jede Maske individuell gestaltet. Der Anführer trug zwei Paar gewundene Hörner auf dem Kopf, ein rotes und ein schwarzes. Er hatte auch den Trupp im Wald angeführt.
»Tut mir leid, dass es so weit gekommen ist, Kellen«, sagte er. Die Maske ließ seine Stimme ein wenig dumpf klingen, aber der Widerhall von den Felswänden verlieh ihr einen beängstigenden, jenseitigen Klang. Trotzdem wunderte ich mich, dass ich die Stimme nicht schon beim ersten Mal erkannt hatte.
Ich hob Shallas anderen Arm von Ferius’ Schulter und legte meine Schwester auf den Boden. Als ich mich wieder aufrichtete, ballte ich die Fäuste und drehte mich zu dem Anführer der Sha’Tep-Verschwörung um. »Hallo, Onkel Abydos.«