39
Der Held
Es sagt etwas darüber aus, wie sehr ich Ra’meth hasste und fürchtete, dass ich zuallererst daran dachte, ihm einen Zauber entgegenzuschleudern.
»Ein Atemzauber?« Er sah belustigt aus. »Mehr hat der Sohn des großen Ke’heops nicht auf Lager?« Er machte eine unauffällige Gebärde und raunte eine einzige Silbe. Ich war schlagartig bewegungsunfähig. Der Obermagus wandte sich von mir ab und ließ den Blick über die Wände des Mausoleums wandern. »Erstaunlich. Damit wird mein Aufstieg zum Fürsten noch unvergesslicher!«
Reichis machte einen Luftsprung, prallte aber gegen etwas Unsichtbares und plumpste zu Boden. Die Baumkatze rappelte sich knurrend wieder hoch und wollte sich auf den Magier stürzen, aber Ra’meth wirkte einen zweiten Zauber und Reichis brach bewusstlos zusammen. »Ich dachte, wir hätten diese grässlichen Viecher schon vor Jahrhunderten ausgerottet.«
»Wie kann das sein?«, fragte einer der Sha’Tep-Verschwörer und kämpfte gegen seine unsichtbaren Fesseln an. »Hier im Bergwerk können Magier doch keine Zauber wirken!«
Ra’meths Mund verzog sich zu einem Schakalgrinsen. »Ich will nichts beschönigen. Es ist nicht so leicht, wie es aussieht. Das Gebräu, das ich dafür trinken musste, hat unangenehme Nebenwirkungen auf die Verdauung, aber es dämpft den Einfluss des Erzes.« Der Obermagus legte die flachen Hände wie zum Gebet zusammen, dann drehte er sie um, sodass die Handrücken zueinander zeigten, und verhakte dann die Finger ineinander. Plötzlich gerieten wir alle ins Taumeln und stürzten zu Boden, als würde das Mausoleum sich in Hochgeschwindigkeit drehen. Ich prallte gegen eine Wand und blieb daran haften wie von unsichtbaren Händen gehalten.
Ra’meth wandte sich wieder an Abydos und seine Gefährten. »Da seht ihr’s. Dass wir Magier das Erz nicht selbst abbauen, liegt nicht daran, dass wir es nicht könnten, sondern dass es unter unserer Würde ist.«
»Elender Drecksack!«, rief Stoßzahn, doch all seine Wut und seine Körperkräfte nützten ihm nichts, denn auch er war wie eine Fliege in einem unsichtbaren Netz gefangen.
Der Trick, sich gegen einen Fesselzauber zu wehren, besteht darin, nicht körperlich dagegen anzukämpfen. Man muss versuchen, ihn mittels Willenskraft zu brechen. Darum befahl ich dem Zauber mit jeder Faser meines Willens, sich zu verflüchtigen – aber ich hätte genauso gut versuchen können, einen Ozean mit bloßen Händen zu zerschmettern.
Ra’meth schienen meine Anstrengungen nur noch mehr zu belustigen. »Ich habe deinen Vater viel stärkere Fesseln zerreißen sehen, und zwar schon oft. So schwer ist das nun wirklich nicht. Man muss es nur wollen.« Er kam zu mir herüber. Anscheinend hatte er überhaupt keine Bedenken, dass ich mich befreien könnte. »Komm schon, Kellen aus dem Hause Ke! Bist du nicht deines Vaters Sohn? Zeig mir die Kraft deines Blutes.«
»Lass ihn in Ruhe«, sagte Abydos. »Er hat nichts mit der Sache zu tun.«
»Ach nein? Da tust du dem Jungen aber unrecht. Ohne ihn wäre nichts von alledem möglich gewesen.« Er packte mich am Handgelenk. Obwohl es sich anfühlte, als ketteten mich dicke Eisenbänder an die Wand, konnte er meinen Unterarm mühelos anheben, um die Bänder darauf zu betrachten. »Ke’heops hat ganze Arbeit geleistet. Sehr präzise. Nicht mal hundert Magier auf einmal könnten diese Gegensiegel auflösen.«
Er schaute mich an. »Dein Vater muss einen Großteil seiner Kraft dafür geopfert haben, deine Magie so unerbittlich auszulöschen.«
Tja,
dachte ich und kämpfte gegen die Verbitterung an, die mich zu überwältigen drohte, jetzt begreife ich, wieso Tennat so ein sympathischer Typ ist.
»Tu ihm nichts! Ich warne dich!« Abydos stemmte sich so heftig gegen den Bann, dass die Adern an seinem Hals hervortraten.
Ra’meths Züge entgleisten flüchtig. »Du hast einen bemerkenswert ausgeprägten Willen, Abydos. Ich habe noch nie erlebt, dass sich jemand so heftig gegen einen Fesselzauber wehrt. Wenn es dir gelungen wäre, deine Bänder zu entfachen, wäre ein mächtiger Magier aus dir geworden.«
»Ich brauche eure Magie nicht!« Abydos zerrte an den unsichtbaren Fesseln. »Ich brauche eure niederträchtigen Jan’Tep-Zauber nicht, um mit dir fertigzuwerden. Ich bin ein Mensch! Hörst du? Ein Mensch!«
Ra’meth zuckte zusammen und spannte die rechte Hand an, damit noch mehr Eisenmagie in die Fesseln strömte. »Lass das! Ich bekomme Kopfschmerzen.«
Während sich die beiden angifteten, sann ich fieberhaft auf einen Ausweg. Shalla war immer noch bewusstlos, Reichis lag reglos am Boden und Ferius war genauso gefesselt wie ich. Mein bisheriges Leben hatte mich gelehrt, lieber nicht darauf zu vertrauen, dass ich auf wundersame Weise errettet wurde. Darum blieb mir nichts anderes übrig, als mich aus meiner Zwangslage herauszureden. »Ihr seht das große Ganze nicht, Obermagus«, fing ich an.
»Halt die Klappe.« Er vollführte eine Drehbewegung mit Daumen und Mittelfinger der Linken und ich konnte nicht mehr sprechen.
Ich muss wohl doch auf ein Wunder hoffen.
Allerdings glaubte mein Volk schon seit Jahrhunderten nicht mehr an Wunder. Dann eben nicht.
»Wag es nicht, ihn zum Schweigen zu bringen!«, sagte Abydos. »Oder fürchtest du dich vor Worten, du Feigling?«
»Du kannst auch die Klappe halten«, gab Ra’meth zurück und bannte ihn auf die gleiche Weise.
Mehrere Zauber gleichzeitig aufrechtzuerhalten ist furchtbar anstrengend. Wahrscheinlich hoffte Abydos, dass Ra’meth sich übernehmen würde, sodass sich einer von uns doch noch befreien konnte. Der Obermagus sah sich wieder in der geräumigen Kammer um. »Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich jetzt gern überlegen, wie das Ganze abgelaufen ist.«
Er trat zu dem Mann, der seine Frau bei einem Stolleneinsturz verloren hatte. »Du hast also etwas … Unschickliches mit der armen Shalla getan. Sie hat aber die Wirkung des Betäubungsmittels abgeschüttelt und dir einen …«, jetzt galt sein Blick mir, »… Blitzzauber verpasst? Hört sich das nach deiner Schwester an? Ist ja auch egal.«
Er wendete sich wieder Paetep zu. »Jaja, es geht doch nichts über den guten alten Blitzzauber.« Er schnippte mit Daumen und kleinen Fingern beider Hände und schickte einen grellen Lichtstrahl durch die Brust des Mannes.
Die Luft knisterte, es roch nach verbranntem Fleisch. Paetep war tot.
Abydos gelang es, den Schweigezauber kurz zu durchbrechen. Er stieß ein Zorngebrüll aus.
»Du bist wirklich ein hartnäckiger Kerl«, sagte Ra’meth und legte kurz die Hand an die Stirn. »Was jetzt?« Er drehte sich zu Sephan um. »Ach ja. Du, mein braver, treuer Diener, bist bei einer äußerst mutigen Tat umgekommen. Als dir klar wurde, dass du dich deinem Haus gegenüber falsch verhalten hast, wolltest du Abydos daran hindern, noch mehr Schaden anzurichten. Da hat er dich erwürgt.«
Ra’meth legte die Finger beider Hände an die Lippen und streckte sie dann in Richtung des jungen Mannes. Sephan krümmte sich, seine Beine zitterten und zuckten. Ra’meth schloss die Hände, ballte sie zu Fäusten – und es knackte laut, als Sephans Genick brach.
»Du Schwein!« Abydos war es erneut gelungen, den Schweigezauber zu durchbrechen, und er kämpfte wieder gegen die unsichtbaren Fesseln an. Mit unvorstellbarer Willensstärke trat er einen Schritt vor.
»Bleib stehen!«, rief Ra’meth.
Abydos machte einen zweiten Schritt. »Ihr hättet nicht allein herkommen sollen, Obermagus. Das war unvorsichtig.« Die Luft um ihn herum wogte, als wollte der Wind selbst ihn fesseln, doch Abydos ließ sich nicht aufhalten. »Aber welcher Magier rechnet schon damit, dass er Verstärkung braucht, um einen Sha’Tep zu töten?« Ein dritter Schritt.
»Bleib, wo du bist!« Ra’meth verstärkte den Zauber abermals. Doch so viele von uns gleichzeitig zu bannen war ein Fehler gewesen. Jetzt fehlte ihm die Konzentration für einen Verteidigungszauber.
Schritt für Schritt, Zentimeter für Zentimeter schob sich Abydos voran.
»Wie ist das möglich?« Ra’meth hatte jetzt sichtlich zu kämpfen. »Du verfügst doch über keinerlei Magie!«
»Keinerlei Magie«, wiederholte Abydos. Blut rann ihm erst aus den Mundwinkeln, dann aus den Ohren und schließlich aus dem Mund. Sein Aufbegehren brachte ihn um, trotzdem ging er weiter, streckte sogar die Hände nach Ra’meths Hals aus. »Ich bin nur ein Mensch. Ein Sha’Tep, der genug von eurer feigen Magie
hat.«
»Nicht!« Ra’meth wollte sich wegdrehen, aber mein Onkel hatte ihn schon an der Kehle gepackt.
Plötzlich gaben die unsichtbaren Fesseln nach – und zwar bei uns allen. Auch bei den Toten, die nun zu Boden sanken. Ich konnte wieder sprechen und mich rühren.
Inzwischen waren auch die Augen meines Onkels voller Blut. Er konnte mich nicht mehr sehen, aber während er Ra’meth die Luft abdrückte, lächelte er. Sein Gesicht strahlte vor so viel Stolz, dass er der lebendig gewordenen Statue eines mythischen Helden glich. Auch als Ra’meths Augen sich schlossen, lächelte er noch. Auch, als ein halbes Dutzend Messer wie ein Vogelschwarm durch die Luft gesaust kam, sich in seinen Rücken bohrte und ihn von Ra’meth wegschleuderte.
Ich rief ihn beim Namen und wollte zu ihm eilen, aber ein neuer Fesselzauber hielt mich davon ab. Abydos hing einen Augenblick lang in der Luft. Er blinzelte das Blut weg, wandte den Kopf in meine Richtung und sagte: »Hätte ich einen Sohn gehabt …«
Ich wollte seine Hand nehmen, doch meine Glieder gehorchten mir nicht. So konnte ich nur voller Entsetzen zusehen, wie die Klingen aus seinem Körper herausglitten und er zu Boden sank. Sein starrer Blick war an die Decke gerichtet. Ein Messer nach dem anderen sauste wieder auf ihn hinab, durchbohrte seine Hände, seine Füße und schließlich seine Brust.
Ich schrie auf und schrie auch noch weiter, als ein neuer Schweigezauber keinen Laut mehr über meine Lippen ließ.
Ich hatte meinen Onkel lange für einen einfachen, zufriedenen Diener gehalten und dann für einen hinterhältigen Verräter an unserem Volk. Erst in den letzten Sekunden seines Lebens hatte ich ihn als den vielschichtigen, unbeugsamen Mann erkannt, der er in Wahrheit gewesen war.
Ein Mann im blauen Gewand betrat den Raum, gefolgt von einem weiteren weiß gekleideten Magier. »Seid Ihr verletzt, Obermagus?«, fragte er.
Ra’meth rieb sich den Hals und kam schwerfällig auf die Beine. »Ein bisschen mitgenommen, aber dafür auch ein bisschen schlauer.« Sein Blick fiel auf die blutüberströmte Leiche meines Onkels. »Du hattest recht, Abydos. Allein herzukommen wäre ausgesprochen unvorsichtig gewesen.«